Von der Imagination zur Virtualität
"Wozu nützt denn die ganze Erdichtung? -
Ich will es dir sagen, Leser, sagst du mir, wozu die Wirklichkeit nützt" provoziert
uns Schiller in den Xenien (Nr. 722).
Selbstverständlich können wir, befangen in
dieser Wirklichkeit, darauf nicht zureichend antworten, weil die Wirklichkeit uns ihren
Nutzen weder mitteilt noch gar ersichtlich wäre, dass sie überhaupt einen besitzt. Schiller
zweifelt selbstverständlich nicht am Nutzen von Dichtung und Wirklichkeit, weil beide in
einem korresponsiven Verhältnis stehen, sich aneinander abarbeiten, um den Begriff von
Wirklichkeit vom planen Anschein der Gegenstände zu befreien und zu einer höheren
Wirklichkeit sittlicher Vernunft vorzudringen. So soll erst in der Poesie (Schöpfung) die
höhere Wirklichkeit jenseits ihres schnöden Scheins entstehen. Dass die Wirklichkeit vom
Dichter nachgeschöpft werden muss, um zu ihrem Wesen zu gelangen, ist bei näherem
Zusehen eine eigenartige Kondition. Sollte diese Wirklichkeit so paradox sein, dass erst
der Dichter in seiner poetischen Rekonstruktion ihr zur "wirklichen
Wirklichkeit" verhilft? Oder fällt die Dichtung hinter die Wirklichkeit zurück,
revirtualisiert unzulänglich in einem Reich der Ideen, was längst unhintergehbare Form
geworden ist? Das Paradox wird entschärft mit dem Wissen, dass jede Wirklichkeit die
Summe der Tatsachen ist, die nicht nur im menschlichen Bewusstsein entstehen, sondern auch
interpretiert werden müssen, um eine Wahrnehmung dieser Wirklichkeit zu
eröffnen
Wirklichkeit und dichterische
(Nach)Schöpfung stehen so seit Anbeginn ihres mimetischen Verhältnisses in einer
produktiven Spannung. Dichtung konnte sich als Medium der Welterschliessung gegen die
Anmutungen der Vernunft aber nicht ohne weiteres behaupten. Dichtung zielt zwar auf
Wirklichkeit, wird aber im Zuge ihrer Wirkungsgeschichte mit einer anderen Wirklichkeit
konfrontiert, die das Imaginäre als anrüchige Kategorie jenseits der Vernunft behandelt.
Paul Valéry warnte zudem: "Mit zunehmender Annäherung an das Reale verliert
man das Wort" (Cahiers 1, Frankfurt/M, 1987, S. 482). Sollten Dichter das Licht
scheuen, obwohl doch das "sentimentalische Genie" die Wirklichkeit verlässt, um
zu Ideen aufzusteigen (Schiller in seiner Unterscheidung naiver und
sentimentalischer Dichtung)?
Das Imaginäre geriet als
voraufklärerisches Moment, als Relikt der Vermischung von Innen- und Außenwelt
in
Verruf, obwohl immerhin Kant die Einbildungskraft zur "reinen Form aller
möglichen Erkenntnis" nobilitiert hatte. Heidegger verwies allerdings darauf,
dass die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft sich letztlich für den reinen
Verstand gegen die reine Einbildungskraft entschieden habe, um die Vorherrschaft der
Vernunft nicht zu gefährden.
Die Vernunft sollte sich des schlechten
Imaginären entschlagen, sollte die Welt entzaubern, um zu einer Wirklichkeit jenseits der
delirierenden Einfälle einer rauschenden Einbildungskraft vorzudringen. Das hat Dichter
nicht daran gehindert, ihre Imaginationen weiterhin als ein Element der Wirklichkeit und
notwendige Quelle der Bewusstseinstätigkeit auszugeben, weil anderenfalls diese
Wirklichkeit nur unzulänglich als rationalistische Reduktion gedeutet würde.
Von der dichterischen Lobpreisung der
Schöpfung bis zur reinen Poesie beobachten wir eine Konkurrenz von
Wirklichkeitsbegriffen, die Dichter immer wieder in ihrer Wirklichkeitskonstruktion
glaubten, für sich entscheiden zu können. Der Dichter ergänzt das "esse est
percipi" um eine unhintergehbare Form, um eine poetische Apperzeption, die erst der
Unordnung der Dinge oder ihrer rationalistischen Verkürzung einen endgültigen Sinn geben
soll. Das von der Vernunft verdrängte Imaginäre betritt so immer wieder mit Macht und in
neuen Verwandlungen die Szene und behauptet, die Wirklichkeit jenseits eines
unreflektierten Realismus zu schöpfen.
Erst die Imagination überforme die Dinge
in der Wirklichkeit des Bewusstseins, weil allein in der Poesie "logos" und
"mythos" eine untrennbare, wenn auch zuletzt spannungsfreie Allianz eingehen.
Imagination und Vernunft sind in der Dichtung daher keine diskreten Größen, sondern
gehen ein kollusives Spiel ein, um die Wirklichkeit als das virtuelle Spannungsfeld
vorzuführen, das sich nicht in vernünftiger Rekonstruktion erschöpft.
Immerhin setzt auch die dichterische
Produktion eine mediale, im engeren Sinne: metrische und formale, Vernunft voraus, um der
Fantasie eine nachvollziehbare Gestalt zu geben. Umfasst die Wirklichkeit somit in der
dichterischen (Re)Konstruktion jedes Weltverhältnis, das wir uns vorstellen können,
scheitert hier bereits der Versuch, eine alte Unterscheidung zu ziehen: das Wirkliche
diskret oder kategorial vom Unwirklichen zu trennen. Auch das Unwirkliche ist in der
Wirklichkeit des Bewusstseins zumindest eine logische Größe, um überhaupt
Unterscheidungen in der Wirklichkeit treffen zu können. Zwar kann man Imaginationen,
Fiktionen, Träume dem Unwirklichen zurechnen, aber in der einzig zugänglichen
Wirklichkeit, der Wirklichkeit des Bewusstseins, sind alle diese Zustände schlecht
sortiert und dem vermeintlich Unwirklichen kann eine realere Präsenz erwachsen als den
vermeintlich wirklichen Gegenständen der Außenwelt. Sehern, Visionären, Träumern, mit
einem Wort: Dichtern, gehört das zur Grundausstattung ihrer Wirklichkeitserschließung.
Spätestens mit der Psychoanalyse wird dieses alte poetische Wissen bestätigt, dass die
Wirklichkeit des Subjekts mindestens in eben so großem Maße von Fantasmen, Träumen,
unheimlichen Sensationen des Körpers etc. geprägt ist wie von angeblich gesicherten
Außenwahrnehmungen.
Freilich wären hier das schlechte
Imaginäre, die irrationalen Fantasmen von Imaginationen zu unterschieden, die einer
begrenzten Vernunft auf die Sprünge zu einer besseren Wirklichkeit helfen. Die ganze
Entwertungs- und Rehabilitationsgeschichte der Einbildungskraft wird von dem roten Faden
durchzogen, Vernunft und Fantasie in eins zu setzen, etwa zu einer "visio
intellectualis" (Leopold Ziegler) aufzuschließen, die nicht die menschliche
Fähigkeit unterschlägt, auch virtuelle Räume zu beherrschen. 1968 forderten Studenten
in der Nachfolge Novalis gar, dass die "Fantasie an die Macht" kommen
solle. Diese Provokation beinhaltete zwar keine Aussage, an welche Macht denn die Fantasie
kommen solle und ob nicht die Fantasie ohnehin eine bereits bestehende Macht sei.
Gleichwohl wurde die Formel als Aufruf verstanden, die virtuellen Potenzen des Imaginären
neu zu begreifen. Gerade die historisch verfemte Fantasie sollte die eindimensionale,
verhärtete Wirklichkeitskonstruktion der Bürger durchbrechen und ein Reich
schöpferischer Freiheit einleiten, dessen Vision den eindimensionalen Verhältnissen
funktionaler resp. instrumenteller Vernunft geopfert worden war.
Hier knüpft der spätmoderne Sturm auf die
Bastionen an das alte Wissen des Dichters an, der so selbstherrlich die Schöpfung
nachschöpfen, ihren virtuellen Sinn gegen die Fixierungen des Alltagsbewusstseins
vermitteln wollte. Aber alle diese Konstruktionen der Alt- und Neustürmer bleiben den
Zeichen verhaftet, die dieser Wirklichkeit entliehen sind. Dichter leiden daher a priori
nicht nur subjektiv an einer narzisstischen Kränkung, sondern auch objektiv an einem
Mangel an Instrumenten, diese Wirklichkeit fundamental neu zu gestalten, weil ihre
virtuelle Welterschließung nur aus Zeichen besteht. Bekanntlich widmete sich kein
geringer Teil des gesellschaftskritischen Diskurses der 70er-Jahre der Frage
künstlerischer, im engeren Sinne poetischer Wirkungsmacht, die regelmäßig hinter ihren
politischen Ansprüchen zurückblieb. "Und die Praxis in der Wörterküche der Poesie
ließ mich klar erkennen, dass uns Kombinationen von Wörtern deshalb möglich sind, weil
sie keine Dinge sind" konstatiert Paul Valéry (Cahiers 1, Frankfurt/M,
1987, S. 223). So verleiht die poetische "ars combinatoria" zwar Macht im Reich
der Sprache, aber der Dichter vermag keine neue Ordnung der Gegenstände jenseits dieser
Zeichen zu konstituieren. In den vormals so gefestigten Glauben an die Demiurgenkunst der
Poeten drängte sich im Laufe ihrer Applikation immer stärker der Zweifel, der
Wirklichkeit in der Virtualität der Zeichen je beikommen zu können. Unter dem Gewicht
dieses Zweifels vollzieht sich spätestens im 19.Jahrhundert eine kopernikanische Wende,
nicht länger dichterischen oder philosophischen Wesensschauen zu vertrauen, die hinter
den Oberflächen Wirklichkeit wie eine kostbare Essenz zu Tage fördern, sondern die
Oberflächen selbst als das offenste Geheimnis dieser Wirklichkeit zu begreifen. Von den
Hinterwelten des unergründlichen Seins, in dem wir auch nach existenzialistischen
Fundamentalentwürfen keine Heimat gefunden haben, sind wir darum spätestens seit Nietzsche
zum Lob der Oberflächen vorgedrungen. Der Schein schiebt sich, wie es die neuzeitliche
Orthodoxie will, als das Realere vor das unergründliche Sein der Dinge. Die Maja mag
ihren Schleier behalten, so lange die Wirklichkeit sich unserem Willen unterwerfen lässt.
Aber auch wenn einige dieser Oberflächen konstruierbar und manipulierbar sind, stoßen
wir immer wieder auf Objekte (Widerstände Gegenstände), die sich diesem Willen
nicht beugen, uns an ihren Fassaden abprallen lassen. Und so wird hinter der Politik der
Fassaden, der mächtigen Kosmetik der Dinge, die so oder anders sein können, die alte
platonische Spannung zwischen Sein und Schein wach gehalten, auch wenn wir vorübergehend
oder endgültig den Glauben verloren haben, dieses idealische Sein als unfreiwillige
"Höhlenbewohner" je begreifen zu können.
Das Lob der Oberflächen ist aber vielmehr
als das Ressentiment gegen das nichteinlösbare platonische Programm der Ideenschau. Hier
leitet sich ein politisches Programm ein, diese Wirklichkeit zu gestalten, ohne das Wesen
dieser Welt deshalb verstehen zu müssen.
Selbst in der Philosophie kann jetzt Marx
das hegelianische Erkenntnisprogramm des absoluten Wissens auf den Kopf (bzw. auf die
Füße je nach Beobachterstandpunkt) stellen und damit provozieren, dass es nicht
darauf ankomme, die Welt zu verstehen, sondern sie zu verändern. Veränderung setzt zwar
Verstehen voraus, aber es handelt sich um eine andere Art von Verstehen: Wir dringen in
das Gefüge der Wirklichkeit ein, um ihre Veränderlichkeit (natur)wissenschaftlich zu
begreifen, um sie auf schnellstem Weg von ihrer Naturwüchsigkeit zu befreien und ihr eine
menschliche Form zu verleihen. Ihr göttlicher Ursprung und ihre Essenz mögen Stoff der
Imagination bleiben, werden aber als Erkenntnisgegenstände suspendiert. Jean Pauls
programmatisches Wort "Die Poesie schildert die beste Welt, die vor der Schöpfung in
Gott war" (Ideen-Gewimmel, Frankfurt/M 1996, S. 63) wird nun gegen das Programm
ausgetauscht, die beste Welt nach einer unvordenklichen "Schöpfung" im
Menschenmaßstab herzustellen. Mit einer positivistischen Forschung und in der Omnipotenz
der Industrialisierung wird dieses Programm der Wirklichkeitsgestaltung zum ersten Mal in
der Geschichte wirkungsmächtig genug, um das zuvor unreflektierte Machen oder die bloße
Schilderung bester Welten hinter sich zu lassen. Die Welt ist ab jetzt alles, was wir
verändern können, indem wir unsere Instrumente verbessern, unsere Sinnesorgane medial
aufrüsten und neue Explorationstechniken entwickeln.
Mit anderen Worten: Wir realisieren die
Welt neu, indem wir sie virtualisieren, in einen Zustand der Manipulierbarkeit versetzen,
die nicht vergeblich nach dem Sinn der Wirklichkeit fragt, sondern nach ihrem Nutzen. Zwar
hat auch die kopernikanische Wendung vom Verstehen der Wirklichkeit, der Wechsel von der
Lektüre im Buch der Natur zur radikalen Veränderung einer in dieser Weise nicht
annehmbaren Wirklichkeit, die Hoffnung nicht besiegt, hinter den Fassaden der Wahrnehmung
eine Weltformel dieser Wirklichkeit zu finden, die absolutes Wissen verheißt. Aber diese
Suche, nichts anderes als die reformulierte Suche nach dem "Ding an sich", kann
warten, solange die Vorstöße in andere Wirklichkeiten, die vielleicht weniger
widerständig auf existenzielle Fragen reagieren, noch Erfolg versprechend sind.
Immerhin haben wir Schillers Frage
nach dem Nutzen der Wirklichkeit vorläufig beantwortet: Er besteht in dem neuem Anspruch,
diese Wirklichkeit nicht hinzunehmen, sich lediglich in ihr einzurichten, sondern sie als
plastischen Stoff zu realisieren, um neue oder andere Wirklichkeiten herzustellen, d.h. zu
virtualisieren. "Wir sind auf einer Mission: zur Bildung der Erde sind wir
berufen" wie Novalis gläubig verkündet (Blüthenstaub, Bemerkung Nr. 32).
Freilich sind die Übergänge zwischen Einrichtung in der Wirklichkeit und ihrer
Veränderung zunächst noch so fließend, dass der Preis der neuen
Wirklichkeitskonstruktion im Verlust einer gefestigten Wirklichkeit besteht. So folgt
notwendig auf die "Entzauberung der Welt durch Wissenschaft" (Max Weber)
die noch schmerzlichere "Agonie des Realen" (Jean Baudrillard). Lässt
sich die Wirklichkeit nicht mehr als eine geschlossene Sphäre konstituieren, weil sie
manipulierbar ist, hat es auch keinen Sinn mehr, das Reale als gesicherte Kategorie noch
länger zu behaupten. Gleichzeitig lässt sich die Verlustgeschichte der Wirklichkeit als
Zuständigkeitswechsel beschreiben, in dem die imaginären Momente der Poesie gegen die
virtuellen Momente technologischer Herrschaft ausgetauscht werden.
Virtualität gilt danach nicht als
Bewusstseins- und Erkenntnismodus, sondern als die nachhaltigste Form der
Wirklichkeitskonstruktion, die je zum Arsenal menschlicher Gestaltungsfähigkeit gehörte.
So hatte die Virtualität in den Imaginationen der Dichter und den philosophischen
Spekulationen ihre symbolische Vorform gefunden, die nun von einer Technologie tausendfach
überboten werden kann. In dieser Virtualität beginnt die Technologie von einer Realität
zu träumen, aber dieser Traum will sich selbst in härtester Wirklichkeit bewähren: Die
technologische Virtualität wird zur Fortsetzung der imaginären Virtualität mit anderen,
d.h. besseren Mitteln.
Das technologisch formulierte
Virtualitätsparadigma der Welterschließung vollendet sich ab jetzt in der Projektion und
Realisation von Welten, die virtuell generiert sind, aber nicht hinter ihrer
Ausgangswirklichkeit zurückstehen sollen. Ihre avancierteste Form hat diese Virtualität
gegenwärtig in ihrer digitalen Form gefunden. In der digitalen Virtualität erwächst der
Wirklichkeit eine Konkurrenz, die unseren ohnehin höchst unvollkommenen Begriff von
Wirklichkeit stärker provoziert, als es je den Imaginationen der Dichtung oder den
Spekulationen der Philosophie möglich war.
Zwar gehören die Modalkategorien
"Möglichkeit" und "Wirklichkeit" seit ihrem Aufkommen in der
aristotelischen Metaphysik ("dynamis" und "energeia") und ihrer
Variation als "potentia" und "actus" in der Philosophie des
Mittelalters bis hin zu Leibniz zum festen Begriffsinventar einer sich
orientierenden Vernunft (Nicolai Hartmann, Die Erkenntnis im Lichte der Ontologie,
Hamburg 1982, S. 45 f.). Aber mit dem Siegeszug der neuen Physik reduzierte sich diese
Begrifflichkeit in der Forderung nach vollständigen Kausalbeziehungen darauf,
festzustellen, dass das, was möglich ist, nur das ist, was auch wirklich ist. Allein im
Gegensatz von ontologischen und logischen Modi wird weiterhin deutlich, dass sich die
reale Welt von der Welt der Gedanken unterscheidet.
Diese Differenz reicht aber als Folie des
Verhältnisses von Realität und Virtualität schon deshalb nicht zum Verstehen aus, weil
sich der digitale Cyberspace nicht der logischen Sphäre zuschlagen lässt, sondern
unheimlich genug einen wenn auch zunächst noch unvollkommenen Realitätsstatus
reklamiert. An Stelle des hoffnungslosen Versuchs, ontologische Aussagen zum Verhältnis
dieser Begrifflichkeiten zu machen, gilt es jetzt, Wirklichkeits- und
Virtualitätserfahrungen zu vergleichen in der phänomenologischen Hoffnung,
unseren Aufenthalt in beiden Welten, ihre Interpretationen, Wechselverhältnisse und
Synthesen ein wenig besser zu verstehen. Phänomenologisch können etwa
Online-Erfahrungen nicht auf die vorgängigen Erfahrungen unserer Ausgangswelt plan
zurückgeführt werden, weil die Raum- und Zeitmodi, die Bewegungstypen, die
Subjektkonstitution und viele Folgephänomene anderen Regeln folgen. Nicht das geringste
Problem ist dabei die semantische resp. metaphorische Übertragung klassischer
Erfahrungsweisen auf digitale. Im Konnektivitätsideal der digitalen Sphäre begegnen wir
fortwährend modalen Grenzverlusten, die jeglichen Aufenthalt zur Seinsfrage werden lassen
kann. Architekturen verschmelzen zu "Zeiträumen", zu transmittierenden Räumen,
die erst durch die Bewegungen ihrer Nutzer definiert werden. Wir bemühen uns zurzeit ein
neues Vokabular von Gesten zu entwickeln, virtuelle Sphären zu erschließen, ohne aber
schon sagen zu können, ob die neue Heimat des homo virtualis nicht unüberwindbare
Widerstände bereithält, sich von seinen menschlichen Navigatoren überhaupt kolonisieren
zu lassen.
Diese Aussage erscheint zunächst bereits
deshalb paradox, weil Cyberspace sich als ein weiteres Produkt menschlichen Ingeniums
einleitete, das unsere Fernsinne um zusätzliche Dimensionen erweitert. Cyberspace wäre
danach im McLuhan´schen Sinne eine Art Ausstülpung menschlicher Sinnesorgane,
insbesondere eine Externalisierung seines biologischen Gedächtnisses. Wer Cyberspace als
Medium instrumentell fasst, räumt ein, dass Instrumente Techniken voraussetzen, um sie zu
dem zu formen, was ihr Potenzial birgt. Ein Instrument wird zudem nicht nur gebraucht,
sondern instrumentalisiert in seiner alltäglichen Dialektik auch den Anwender, der in
mehr oder weniger langen historischen Zeiträumen professionelle Handhabungen entwickelt.
Technikgeschichte ist zugleich Sozialisations- und Herrschaftsgeschichte. Kein Medium kann
im Zeitpunkt seiner Entstehung auf seine Gebrauchsweisen oder gar auf seine soziale
Implikationen hin festgelegt werden. Erst lange Bemächtigungsgeschichten geben Auskunft
über die pragmatischen Regeln und Extrapolationsmöglichkeiten für den zukünftigen
Medieneinsatz. Bei wenig komplexen Medien, etwa klassischen Werkzeugen, war die
Bemächtigungsgeschichte der Nutzer nicht nur lang, sondern auch die höchst bedingte
Veränderlichkeit dieser Medien und "ihrer Umwelt" Gewähr für die immer
perfektere Integration in das technische Gesamtwissen von Gesellschaften. Cyberspace
strapaziert unsere Voreinstellungen über die Funktion von Medien, weil es sich um einen
Navigationsraum handelt, der je verschiedene Formen der Medialisierung seiner Teilnehmer
eröffnet.
Cyberspace leitet sich so als eine mehr
oder weniger autonome Sphäre ein, deren Werkzeugcharakter nur ein Moment eines sehr viel
komplexeren Geschehens ist: Es konstituiert sich eine virtuelle Gesellschaft, die zwar
Präzedenzen in der "wirklichen Wirklichkeit" besitzt, aber in ihrer Dynamik und
ihren Akteuren nicht länger als Kopie dieser Welt gelten könnte. Auch wenn dieser
Begriff längst nicht vollständig entfaltet werden kann, reicht als erste Annäherung die
Antwort, dass Virtualität nichts anderes ist als eine veränderbare Wirklichkeit, die uns
ständig mit dem Versprechen begleitet, so oder auch ganz anders sein zu können. Die
Fantasie ist mithin an die Macht gekommen, aber anders als es die rebellischen Studenten
forderten, nicht als Vernunft beflügelnde Einbildungskraft von Menschen, sondern als
Wirklichkeit, deren vitalster Betriebsstoff eine technologisch emanzipierte Imagination
bildet...
Fortsetzung
folgt ... eher nicht, das Phänomen "Netzliteratur" will mir nicht
so recht erscheinen..
Goedart Palm
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Urheberrecht und anderen Rechtsfragen:
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