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Verstreutes zur Sprache
Ideale Heimat. Wohl kaum ein Schriftsteller, der
seine Bücher nicht als Heimat höherer Ordnung begreift. Schreiben heißt urbar machen. |
Sittenstrolch. Er
belästigt die Sprache. |
Dichters Selbsttäuschung. Der
Orgasmus am Schreibautomaten garantiert noch keine Qualität, nur instantane Befriedigung.
Paradox: Die Selbstkritik wird erst wieder mit der Entfremdung, der Abspaltung des Textes
möglich. Ständige Flucht vor dem distanzlosen Ego, um besser zu erkennen. |
Das Reale. "Ich möchte
einmal das hören, worin alle großen Dichter und alle großen Denker miteinander einig
sind. Denn das muss das Reale sein" (Ludwig Hohl). Das ist ein zweifach naiver
Wunsch. Erstens gibt es das Reale nicht, zweitens sind sich Dichter und Denker in der
Sprache einig. Aber ist es der Rest der Welt auch? |
Dichtdunst. Einige Poeten haben größte Not zu
verleugnen, dass sie doch nur Herz auf Schmerz reimen. |
Exkulpation. Würden
sie mehr auf ihre Sprache achten, würde ich ihnen ihre Gedanken schon verzeihen. |
Zeichen. Nun handelt
sich das literarische Protokoll von Welt und Welten leicht den Vorwurf ein, alles
unterschiedslos apriorisch als Zeichen zu nehmen. Aber so wenig wie die Gattungszuordnung
noch länger als Bedeutungskriterium der Texte überzeugt, so unergiebig ist die Kritik am
Zeichenbegriff, weil solche Kritik den Nachweis eines stärkeren Verknüpfungssystems,
eines besser geschalteten Relais zwischen den Fällen der Welt und ihrer Semantik,
schuldig bleibt. Noch sind Zeichen exklusive Selbstreferenzen des Weltverständnisses und
auch das Netz ist letztlich nichts anderes als ein gigantisches Zeichensystem für die,
die lesen können. Schlacht der Zeichen. Mögen die
Untergangspropheten Alteuropas den digitalen Vorschein einer Netzkultur nicht mehr sehen
wollen, bleibt doch die Spannung rasant beschleunigter Informationswelten bestehen, die
sich zuletzt von Literaten ihre Kondition "verschreiben" lässt. Die Schlacht
der Zeichen ist noch nicht geschlagen, das Getümmel unabsehbar, ohne Form und Ziel. Aber
in dieser Schlacht wird nicht nur das alte Verständigungssystem "Literatur"
zerschlagen, sondern es entstehen zugleich auch neue Symbolsysteme, die nicht a priori
chancenlos sind, das Verhältnis des Menschen zu seiner Welt erträglicher zu machen. |
Enzyklopädisch. Ungeachtet der
Verdienste strukturaler, werkimmanenter Analysen ist das Gattungskriterium aber durch den
interdisziplinären Schulterschluss von Literatur, Philosophie, Soziologie etc. ohnehin
obsolet geworden. Mit der Vernetzung wird das Entstehen disziplinübergreifender
Textsorten auch technologisch leichter realisierbar. Ein werkübergreifender Textkorpus,
eine gleichsam alexandrinische Enzyklopädie als Gesamttext aller verfügbaren Texte
zeichnet sich ab. So wäre etwa das unvollendete, letztlich unter historischen Bedingungen
unvollendbare "Passagenwerk" von Walter Benjamin als früher Erfahrungsraum
einer gattungslosen, transgressiven Lektüre von zunächst disparaten Texten zu nehmen,
die sich in der hermeneutischen Arbeit zu einer literarischen Montage verfugen. Hier liegt
zugleich auch die Passage in eine uferlose Form von Textualität, der allein moderne
Speicher beikommen. Wenn Textualität als Strukturmerkmal auch auf soziale Verhältnisse,
Bilder, Musiken, Städte, Kulturen, Ethnien, mithin jede Weltkonstruktion bezogen wird,
schließlich als Verknüpfungspostulat auch heteronome Ensembles aus Zeichen und
Gegenständen zulässt, wird mit der Demontage der Gattungen auch die Auflösung des rein
Literarischen, das es ohnehin nie gab, in einen unendlichen Welttext erstrebt. Dieses
avancierte Welt-Lektüre-Verhätnis ist freilich zugleich das älteste, wie es die Rede
vom Buch der Natur/Welt erweist, das schon "avant la lettre" animistischen
Weltbildern lesbar schien und sich bis hin zur romantischen Naturgläubigkeit erhalten
hat. |
Suche. Zwischen
Gedanken und Wörtern den Zwischenraum suchen. Sich von schlechter Semantik zu befreien,
das ist der erste Schritt. Rhetorik. Er duldete nur
Widersprüche, die schlecht begründet waren. |
"Manchen fehlt es an
Gegenwart des Geistes - dafür haben sie desto mehr Zukunft des Geistes." (Novalis
2172) - Was aber wäre, wenn der Geist selbst keine Zukunft hätte? Geistwesen, zu denen
der Mensch angeblich gehört, können nur den Geist als Krone der Schöpfung begreifen.
Vor dem Auftauchen des Geistes gab es keinen Begriff davon. Das Neue kann nie erkannt
werden. |
Epochenwechsel. Wir beobachten das Ende der Sprache
als Königsmedium. Sprache wurde in ihrer Wahrheits- und Welterschließungsfunktion
desavouiert. Jetzt regieren die Kürzel. Eine Abbreviaturenmoral bestimmt den
Gefühlsausdruck. Smileys grinsen ubiquitär im Digitaluniversum. Das 18.Jahrhundert
hätte uns ob unserer Schnödigblödigkeit wegen verachtet. Mit der Verflachung des
Gefühlsausdrucks wird auch die Intelligenz beschädigt. Die "Entdeckung" der
emotionalen Intelligenz kommt nicht von ungefähr heute aufs Tapet. |
Gebrauchsliteratur.
Die Promiskuität, nicht nur der literarischen Formen, sondern auch der Theorie mit der
Praxis, der Kunst mit dem Leben, ja des Lebens mit dem Tod, stiftet das Gesetz der
literarischen Survival-Technik. Vom Nutzen und Nachteil der Literatur für das Leben
handelt heute weit eher die Literatur der Telefonbücher, der Speisekarten, der Fahrpläne
und anderer "noveau romans". |
Wittgenstein
nachgefragt. Liegt die Bedeutung einer Dichtung in ihrem Gebrauch in der Sprache? Oder
beginnt die Dichtung jenseits der Sprache, in einem noch unmarkierten Raum? Wäre als die
Dichtung immer auf der Flucht vor der imperialen Sprache? |
Zeichen. Nun handelt sich das literarische Protokoll
von Welt und Welten leicht den Vorwurf ein, alles unterschiedslos apriorisch als Zeichen
zu nehmen. Aber so wenig wie die Gattungszuordnung noch länger als Bedeutungskriterium
der Texte überzeugt, so unergiebig ist die Kritik am Zeichenbegriff, weil solche Kritik
den Nachweis eines stärkeren Verknüpfungssystems, eines besser geschalteten Relais
zwischen den Fällen der Welt und ihrer Semantik, schuldig bleibt. Noch sind Zeichen
exklusive Selbstreferenzen des Weltverständnisses und auch das Netz ist letztlich nichts
anderes als ein gigantisches Zeichensystem für die, die lesen können. |
Ja/Nein. Der Raum
zwischen diesen beiden Polen ist im 20. Jahrhundert riesig geworden. Inzwischen lauert
überall in diesem weiten Feld ein "vielleicht", ein "irgendwie" oder
"möglicherweise". Komplexität ist ein Euphemismus für die unerträgliche
Zufälligkeit des Seins in modernen Gesellschaften. Zeitgenossen beobachten in ihrer
eventualiter-Rede, die zwischen den Polen pendelt. Leitet sich hier das Ende der Sprache
als Wahrheitsmedium ein? Aber wo wird dann Wahrheit noch verhandelt? |
Urvertrauen.
Autorisierte Sprecher müssen sich nach den Bedingungen ihrer Autorität befragen lassen.
Wo alles aufschreit, kann wenig auf Lektüre rechnen. Weder Philosophen, Literaten oder
gar Politiker flößen jenes Ur-Vertrauen ein, das wir genossen haben, als wir das
Wahrheits- und Lügenmedium "Sprache" als Kinder kennen lernten. Vorauseilende
Semantik unserer Gesellschaftsspitzen drängt sich inzwischen so penetrant auf, dass
Entsemantisierung und rationale Rekonstruktion Not tut.
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Burned-out. Schreiben
wurde zur Beliebigkeitsveranstaltung. Aber mehr noch steht der Schriftsteller verwaist vor
einer Welt, die Identitäten bezweifelt, Werte zu Restposten verkümmern lässt,
schließlich Texten in der Vermarktung ihre Verbindlichkeit raubt. Hugo von Hofmannsthal
hat in dem Chandos-Brief die Ausgebranntheit der Sprache in der Welterschließung beklagt,
ein Zustand, der das moderne Weltverhältnis des Dichters bezeichnet. Solche Klage
entsteht mit der Autonomie einer Dichtung, die sich von nun an allzuständig für die
ungelösten Menschheitsfragen fühlt. Auftritt die neue Zipperleinliteratur, die eigene
Physiologie als omina behandelnd. |
Grünes Heft. Auf Monitoren zu
schreiben ist einfach. Vor und zurück, schneller als klassische Autoren je sein konnten,
den eigenen Text prüfen, korrigieren, ändern etc. Aber jene Leichtigkeit des Springens
im Text lassen den Freiheitsraum des Dichters um neue Wüsten wachsen. Mit dem Aufzug der
schriftstellerischen Autonomie werden ja gerade die Fixpunkte in den Ideen, in der
Semantik, im Klang der Wörter gesucht, um nicht dem Nichts anheim zu fallen. Auch die
technischen Voraussetzungen des Schreibens gehören zu diesen Festlegungen gegen den
Wildfraß des Nichts. Es ist vorteilhaft, seine Hefte, Kladden, Sudelbücher nicht zu
vergessen, sondern auch die alten Widerstände der Materie in den Texten zu erhalten.
Aufschreibesysteme, die den Medienbruch wie eine seltene Kunst pflegen, gehören zu
verbreiteten Techniken moderner Autoren. Wenn einer in Stein meißelt, wird er sich vorher
genau überlegen, was er der Ewigkeit übergibt. Bestimmte Textsorten verdanken ihre
Entstehung dem schnellwuchernden Digitalmüll, der weniger sehnsüchtig als
selbstverständlich auf ein erlösendes "Delete" wartet. |
Goedart Palm, Glück und Faulheit, S. 61 ff.
in:
18 Antworten auf die Frage nach dem Glück
Ein philosophischer Streifzug - hrsg. von Siegfried
Reusch (Autoren: Rüdiger Safranski, Annemarie
Pieper, Pascal Bruckner u.a.)
2011. Buch. 232 S. Paperback
S. Hirzel ISBN 978-3-7776-2143-2
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Auf den Punkt. Er umschrieb
unnachgiebig genau seine Verwirrung. Paul Valéry, cahiers.
Ego te revolvo. Je länger das "Ich" um sich selbst kreist, desto größer wird
seine Welt. Sich selbst zu allem in Beziehung setzen. Zuletzt die Welt werden - wider
bessere Einsicht.
Cahiers. Der Versuch der Schriftsteller, der Nachwelt Ersatzgene
zu übermitteln. Nicht nur "Das war ich", sondern "Das bin ich". Zwar
fehlen diesen skripturalen Genen viele Informationen, der Code ist nicht vollständig,
aber der Einfluss muss nicht geringer sein als die biologische Fortpflanzung. Eherne
Zeichen, die die Nachwelt zu dem machen wollen, was die Gegenwart nicht ist. |
Aus den Fugen. Auf
Grund der rasanten Emergenz von immer komplexeren Weltverhältnissen löst sich auch die
gleichsam naturwüchsige Materialbeherrschung durch das künstlerische Subjekt auf... der
Literat wird zum Archivar, zum Registrator und Sammler. Während Joyce, Döblin,
Schwitters oder Jandl ihre literarischen Sprengungen noch in der lustvollen Herrschaft
über gefundene Versatzstücke ausüben durften, schlagen die aufdringlichen Fundstücke
heute zurück, unterwerfen Literaten und Leser einem nicht endenden "overload"
von Informationen, die nicht mehr im Text sinnfällig verfugt werden können. Das
Scheitern der Literatur an den Welt wurde zu einer Kondition neuer Literatur. Der
"Mann ohne Eigenschaften" ist ein herausragendes Beispiel für die
Nichterzählbarkeit der Erfahrung in einem geschlossenen Text. Die Perspektive des
"inneren Monologs" hat die Grenzenlosigkeit des Erfahrungsraums zur potenziell
unendlichen Textsorte werden lassen. So wurde es zwingend, dass einen Sprachgewaltigen wie
Joyce in "Finngan´s Wake" die Kraft, den Text zu finalisieren, verließ.
Literatur entgrenzte sich bei gleichzeitiger Schwächung ihrer gesellschaftlichen Stellung
in einen unendlichen Kosmos, der Gattungen und Formen auflöste. |
"Ihre
Voraussetzung ist falsch, vollkommen falsch: denn wenn wirklich diese Welt
die denkbar beste wäre, so wäre klar, dass sie ungeschaffen wäre, und
es gäbe keinen Gott! Ihre Unvollkommenheit ist der überzeugendste
Beweis, dass sie geschaffen und einem Wesen untergeordnet ist, das
vollkommener ist als sie." (Abbé Galiani) |
Die Welt von Chantré trifft die
Welt von Klosterfrau Melissengeist (Foto: Goedart Palm, 2006 - Copyright)
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