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Mediamania

Die Welt gibt es nur in den Medien und gibt es sie nicht da, so gibt es sie nirgendwo. So müsste Andre Heller seine "Abenteuer, die nur im Kopf stattfinden" für die Generation X und Post-X nachformulieren. Also ich glotz TV. Alles so schön bunt hier? Keineswegs. Deutsches Fernsehen arbeitet seit der frühen Sendesteinzeit daran, den fronttauglichen Sendeabfall zu vervielfachen, weil allein das die Chance birgt, das quotierte Publikum ans Medium zu binden. Das Publikum muss domestiziert werden, jede echte Regung von Wildheit und Abenteuer wäre mit diesem Medium hochschwangerer couch-potatoes und Feierabendabhalfterer unvereinbar. MDR etwa trällert zurzeit die Ossis, die für Jahrzehnte des zwangsverordneten faustgereckten "Internationale-Singens" mit Go-West-Melodien entschädigt werden wollen, auf Gleichschritt ein.

Television ist alles andere als visionär, weil das Publikum eben das geboten bekommt, was es will. Aber was will das Publikum? Fernsehen ist nicht zum geringsten Teil die Wiederholung des über Jahrzehnte archivierten Zelluloidabfalls von Sissi Schneider über den Herrn der Tränensäcke "Derrick" bis zu Hollywoods way of life and death. Die televisionäre Reservearmee aus dem Reich der Toten, Scheintoten und Einschlafhelden scheint unerschöpflich. Aber das garantiert eben keinen Endsieg über die Langeweile des Publikums. Die Einschlafquoten sind der Ausstrahler größte Gefahr und ständig wechseln daher die Formate dieses Nullmediums, das noch nie Format hatte. Die neueste Wunderwaffe im Aufmerksamkeitsholocaust der Fernsehnachgeschichte heißt jetzt Doku-Soap.

Doku-Soap produziert graue Seifenlauge auf die Mattscheibe - etwa so spannend wie eine rotierende Waschmaschinentrommel mit dreckiger Buntwäsche. Doku-Soap zeigt hautnah bis pickelecht, dass sich auch andere Leute morgens die Zähne putzen und Kaffee trinken. Mein Gott, das hätten wir nicht zu glauben gewagt, wenn es nicht Endemol, der Garant gefühlsechten Plastik-Entertainments schon zuvor in Holland zu zeigen gewagt hätte. Auch Zombies sind nur Menschen, wenn sie das Fernsehen frühaufstehen lässt. Das Modell heißt "Big Brother": 10 Spielfiguren aus 30.000 Bewerbern, etwa so handverlesen wie die Kieselsteine, die Dreijährige aus dem Wald mitbringen und die Mama sofort wegwirft, um die Sozialisation der Kleinsten frühzeitig genug zu stören. Also: "10 kleine Negerlein" in Dauerhaft, die sich smart bis medienkorrekt aufführen, weil sie hoffen, in Zukunft ihre banalen Visagen der leidensfrohen Fernsehnation dauerhaft aufs Fernsehauge zu drücken. Die Auserwählten, deren markanteste Züge Tattoos, Kettchen und Banaldeutsch sind, wollen Stars werden. Drei Monate und wenigstens einige der Little Brothers and Sisters erstrahlen am Firmament neben anderen Sternchen wie Feldbusch oder Naddel. Bild müht sich in vorauseilender Siegeshoffnung um das Privatleben der Möchtegerne und immerhin ein paar Stripaufnahmen wurden schon aus dem einen oder anderen Familienalbum herausgekratzt. Aber das reicht nun wirklich nicht, wenn ihr unsere sedierten Nerven hochkitzeln wollt.

Wir wollen Abendbrot und Spiele. Mindestens muss "Stars-Wars" daraus werden, alle gegen alle, das Wölfische im Mitmenschen bloß- und loslegen. Ad bestias! Aber außer uns sind keine hungrigen Löwen in Sicht, die die Arena aufmischen würden. So aber stehen die Hühnerfütterer von RTL II nun vor dem Gemeinschaftsklo, bestaunen eine Biomülltonne (wegen der umweltpolitischen correctness, die ihrem Ted-Tod vorbeugen soll) oder schnarchen vor laufender Infrarot-Kamera: Die Smarttypen der Doku-Soap, die Angst haben müssen, aus dem Viertel-Millionenspiel von tedtödlich-gelangweilten Zuschauern herauskatapultiert zu werden und wieder in die Bedeutungslosigkeit zu fallen, die ihr natürlicher Lebensraum ist. Permanente Schnitte des "Big Brothers" versuchen aus diesem seifenschäumenden Gewäsch bei weniger als 30 Grad Ariel ein bisschen Spannung herauszukitzeln. Vergebens. Wir erinnern uns: Orwells Big Brother war Spezialist für einfühlsame Foltern, die das Paprika auf dem Fernsehbrot wären, auf das wir auch ohne GEZ-Beiträge ein Menschenrecht haben. Das Szenario von RTL II hat dagegen den blassen Reiz von heimlichen Probeaufnahmen im Umkleideraum der Schauspielschule für arbeitslose Statisten.

Beten wir zum Gott der Medien, dass uns diese Sendeform, vor allem aber deren Nullfiguren in Zukunft erspart bleiben. Hier fehlen die echten Irren, die Schizos, die nicht mitspielen, sondern in dem fröhlichen Encounter-Ambiente mit Doppelbett und getrennten Schlafräumen a la Littleton Amok laufen. Wie ungerecht nach alt-römischen Maßstäben: Wer wegen seines persönlichen Langweiligkeitskoeffizienten auf der Strecke bleibt, darf eigenartigerweise in real life weiter leben. Und das ist Verrat an der Idee des fairen Gladiatorenkampfs, in dem die Daumen des gelangweilten Publikums nach unten erigieren und blutige Köpfe für den Endsieg der Unterhaltung rollen, wenn die Protagonisten schon sonst nichts zu bieten haben. Das hat Wolfgang Menge im Millionenspiel noch anders inszeniert. Wir wollten Brot und Spiele, aber stattdessen gibt es nur Soap bei lauwarmen Temperaturen. Kennt diese kleine Zeit, die für sich reklamiert, eine Erlebnisgesellschaft zu sein, keine alt-römischen Spaßdimensionen, keine echten Sieger mehr, die ihren Preis entgegennehmen, nachdem sie ihren malträtierten Widersacher durch die Arena geschleift haben?

Doch, große Preise gibt es auch heute noch: Grand Prix d`Eurovision! Das hieß einstmals, die verlogensten Verlogenheiten als Zuckerglasur auf schutzloseste Melodien zu kleistern, bis selbst die resistentesten Ohrwürmer an Diabetes mellitus verreckten. Hier verlief nicht die von bigotten Geschmackswächtern vermessene Grenze zwischen hochbürgerlicher Kultur und niederbürgerlichem Kitsch, sondern wir bewegten uns bereits tief im siebten Höllenkreis des ununterbietbaren Niveaus der bundesrepublikanischen Trashkultur. Und das war für hörsturzerprobte Tiefflieger nicht gerade wenig: "Auf der Reeperbahn nachts um halb eins" oder "Junge, komm bald wieder" hatten doch die voreilige Hoffnung begründet, dass diese blonden Jungens mit drei Akkorden auf dem quietschenden Akkordeon nebst ner Buddel voll Rum nie wieder kämen, sondern endlich wie Stukas in die Juke-Boxes abgerissener Vorstadtkneipen hineinfahren. "Aber ganz in Weiss" schmierten sie uns ihr Himbeereis wieder pfundweise aufs Frühstück oder schrien "Hossa" auf der "Fiesta Mexicana", die etwa so mexikanisch schmeckt wie ein Mc Taco in der Fußgängerzone von Castrop-Rauxel.

Heute heißt Grand Prix d`Eurovision in schlichtes Neudeutsch übersetzt: Ich habe die große Vision, dass viele schöne Euros auf mein Konto rollen. Klar, auch Chris Roberts sang zur Zeit des Pleistozän der deutschen Schnulze: "Ich bin verliebt in die Liebe und vielleicht auch in Dich" und jeder wusste, dass Chris seine amouröse Beziehung zum eigenen Bankkonto meinte, wenn sein treuer Dackelblick die Nation ins gefäßkranke Herz traf. So ist es halt, das Volk der Dichter und Denker: Senti-Mental bis zum allfälligen Gefühls-Supergau, ob im Hofbräukeller, Bürgerbräu oder bei der Wiedervereinigung. Die Mauer musste weg und stattdessen haben wir jetzt den geschmacksdurchlässigen Maschendrahtzaun.

Nun bereitet der Grand Prix d`Eurovision nur ein winziges Hindernis auf dem Weg zum Ruhm. Man muss seine Selbstbereicherungsabsicht ohne echte Gegenleistung nicht nur verbalisieren, sondern singend artikulieren. Eine goldene Schallplatte für ein bisschen Stimme. Abba keine Angst, Nicole hat es geschafft! Sogar Dieter Bohlen. Amusie wäre nur dann ein echtes Hindernis auf dem Weg zum Erfolg, wenn es nicht inzwischen den todarrangierten Sprechgesang gäbe, der auch noch stummen Fischen einen frech gesampelten Refrain herauskitzelte. Singen kann ab heute jeder Knorkator, wenn der Soundmixer es will.

"Wadde hadde dudde da?" singt Stefan Raab, der Meister des sekundären Analphabetismus und das fragen wir uns alle, wenn Raabs Stefan als Golden-Glitter-Boy seine Elvis-Hornbrille ins tote, weil längst vorentschiedene Rennen schickt. Schlagerkingkong Ralph Siegel jedenfalls "hadde nich mehr viel" in der Hinterhand des schlechtesten Geschmacks, seit es nachbearbeiteten Lärm gibt. Der Lordsiegelbewahrer versteht die Welt seines großen Preises nicht mehr, weil seine goldlockigen Heulbojen und aufgeblasenen Retorten-Stars seit Guildo Horn abgemeldet sind. Zuvor bewahrte Ralph nicht nur die goldenen und platinenen (?) Schellacksiegel über seinem auch für dünnste Goldkehlchen gnädigen Mischpult, er war auch der Großinquisitor der deutschen Schlagerindustrie und seine Vokalinstrumente der deutschen Leidensseelen liebste Tortur.

"Wadde hadde dudde da?" Vornehmlich die Bereitschaft, puren Unterhaltungstrash als puren Unterhaltungstrash zu verkaufen, weil ihn das erst wieder waschsalon- und diskothekenfähig macht. Wir wissen, dass es grottenschlecht ist und das macht uns Aufgeklärte fröhlich. Stefan ist ja so authentisch unauthentisch. Dem Volk aufs Maul geschaut und ab in die geduldige Plattenpresse. Ja, das kann er, der Stefan. "Piep, piep, ich hab dich lieb" säuseln halt Bravo-Aufgeklärte ins Partnerohr und Stefan hört jederzeit mit. Wie sang Karl Dall zuvor: "Diese Scheibe ist ein Hit, wann kriegt ihr das endlich mit. Das ist ´ne Scheibe für die Doofen, die Scheibe müsst ihr koofen." Na klar, Stefan, auch Deine Scheibe ist so spicy-schlecht, dass sie millionenfach gekooft wird. Auch halbaufgeklärte Zyniker sind Koofmichs. Stefan ist zudem der smarte Schwiegersohntyp, und weil jeder weiß, dass er weiß, dass das Publikum weiß, dass es hier um die zynische Abfallvariante des deutschen Liedguts handelt, geht seine Euro-Rechnung auf – zumindest in Teutonien. Aber wer will Stefan einen Vorwurf machen, solange die "Heimatmelodie" ohnehin jeden Deutschen, der stolz ist, ein Deutscher zu sein, an Asyl denken lässt? Das Ausland hat seine eigene Folklore und jeder Verrat an Musik hat seine ethnologischen Feinheiten, die es nach EU-Grundsätzen zu schützen gilt. In Stockholm bei der internationalen Exhibitionierung aller Schlagerknorkatoren gibt es nur eine Entscheidung: Wer die Welt kennenlernen will, schaltet ab - nicht vor dem Fernseher, sondern vor dem Fernsehen! Piep, piep, Junge komm nie wieder, nie wieder nach Haus...

Goedart Palm

Trash Painting Virtual Digital

 

 

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