Bis zu seinem Tode 1592 verfasste der Jurist Michel de
Montaigne zwanzig Jahre lang den Rechenschaftsbericht seiner eher
mittelprächtigen Beamtenkarriere. Dabei unterlag er einem glücklichen
Irrtum: Was zunächst eine private, häusliche Recherche werden sollte,
wurde ein Monolith der europäischen Geistesgeschichte. Im Spiegel
seines Selbst fand er seine Zeit wieder, aber mehr als das:
Menschliches, Allzumenschliches über die Zeiten hinweg - so wie
Nietzsche es dreihundert Jahre später in guter Geistesverwandtschaft zu
Montaigne formulierte. Montaigne war nicht nur Chronist, sondern
Moralist in einer Bedeutung, die uns abhanden gekommen ist, und von der
nur noch eine hierzulande wenig bekannte französische Tradition kündet,
der etwa La Rochefoucauld, Chamfort, Joubert, Rivarol, Jouffroy,
Vauvenargues, Galiani und Montesquieu angehören. Dem über Jahrhunderte
unangefochtenen Ruf Montaignes wurde nun mit einer Neuedition seiner
„Essais“ gedacht, die gegenüber vorangegangenen Übertragungen mit
höherem philologischen Ehrgeiz dem deutschen Leser präsentiert werden.
Hans Stiletts Übertragung der „Essais“, in zehn langen Jahren
erarbeitet, entfaltet zum ersten Mal den Denker in einer Weise, die
dessen Selbstverpflichtung auch für deutsche Leser einlöst: „Ich
schulde der Öffentlichkeit mein Porträt ohne jeden Abstrich.“
Der
Ahnherr der französischen Moralistentradition gereifter Lebenskunst
klagte über die erhabenen Gipfel der Philosophie, auf denen sich kein
menschliches Wesen niederlassen kann, weil sie unser moralisches Vermögen
übersteigen. Aus der Schwäche und Vergänglichkeit des Fleisches, aus
Triebschicksal und Todesgewissheit gleichwohl eine lebbare Moral zu
gewinnen, das war der Anspruch Montaignes. Skeptisch gegenüber der
Kraft der Vernunft, die sich von Kant bis Habermas immer als Regentin
der Freiheit aufspielen sollte, setzt Montaigne lange vor Rousseau auf
die Natur. Die sollte aber nicht unter das Joch der Kategorien gepresst,
in das Prokrustesbrett der Begriffe getrieben werden, sondern in ihrer
Vielfalt und Unfassbarkeit das Staunen auslösen, das zugleich ein
Staunen über sich und jeden Menschen einschloss. Montaignes Bedeutung
in der Philosophie liegt in seiner einfühlsamen, skeptischen
Beobachtungsgabe, die sich auch nicht scheut, auf den Nebenpfaden des
Apokryphen, Verfemten, Marginalen nach dem Menschen zu suchen, um zu
erfahren, was Leben heißt und was es sein könnte. Montaignes Denken
bewegt sich in der weiten Spannung zwischen Tod und Alltäglichkeit, um
immer wieder auf sich zu stoßen, zum Nutzen und Frommen der eigenen
Existenz und als Lehrstück für Zeitgenossen und Spätere.
Montaignes
berühmte Todesmeditationen beschreiben die Möglichkeiten, mit dem Tod
im Leben umzugehen. Entstanden ist keine Philosophie der
Weltabgewandtheit oder gar der Weltflucht, wie sie etwa Schopenhauer
vorlegte, sondern ein Zugriff auf das Leben im Wissen um dem Tod. Haben
wir nicht zu leben gewusst, ist es abwegig, uns sterben zu lehren. Der
Tod, zwar immer anwesend, ist
gleichwohl weder Zweck noch Ziel des Lebens. Dieses muss vielmehr auf
sich selbst gerichtet sein. Montaigne meditiert gleichwohl über die
Todesvorstellung im Leben. Der Tod macht sich im Leben breit, erscheint
lange vor seiner Wirklichkeit. Er schickt seine Vorboten: Krankheiten,
Katastrophen, Ängste. Er
droht, er verbindet sich mit Zukunftsängsten, er wird - ironisch
fatalistisch formuliert - zur
höchsten Risikostufe des Lebens. Lebensversicherungen werden heute als
ein Ablassbrief gegen den Tod gekauft, aber die Konvertierung von
verwirklichtem Risiko in Mammon besänftigt zuletzt die Angst. Remeduren,
die unvollkommen bleiben - so unvollkommen wie das Leben selbst, wenn es
nur am Tode gemessen wird. Mag der Tod eines Menschen der Untergang
einer ganzen Welt sein, wie der Talmud weiß, so ist es doch zugleich
das allgemeinste Schicksal der endgültigen Gleichheit allen Lebens im
Tode. Todesmeditation nach Montaigne kann nur heißen, sich nicht der
teleologischen Perspektive, dem Denken als Ende zu ergeben, sondern
Techniken zu entwickeln, im „Hier und Jetzt“ seinen eigenen
Lebenssinn zu finden. Montaignes Reflektionen lassen den Tod zu, aber im
Gegensatz zu Buddhisten und zeitgenössischen „Eurotaoisten“ will er
das Subjekt nicht vorzeitig aufgeben.
Montaigne,
der seiner Zeit attestierte, krank zu sein - was hätte er wohl zu
unserer gesagt? - versagte unbefangener und selbstverliebter Tugend das
Daseinsrecht. Eigene und fremde Fehler zu bekennen, sich nicht im
Mahlstrom des allgegenwärtigen Bösen wegtreiben zu lassen, auf
Besserung hoffen und es in der Meditation herbeiwünschen, das sind
Montaignes Ratschläge gegen die Schläge des Schicksals. Im ständigen
Rekurs auf antike Schriftsteller, deren Weisheitssentenzen er mit seinen
Reflektionen montierte, versicherte er sich einer Tradition, die in
diesem Jahrhundert erst wieder von Michel Foucault in seinen Lust-Körper-Diskursen
aufgegriffen wurde. Dabei schreckte Montaigne auch vor einfachen
Erkenntnissen nicht zurück, wenn sie der Wahrheitsfindung dienen: So
lehnt er die Auffassung ab, man müsse Arzneien zurückweisen, nur weil
sie bitter schmecken. Aber wer das erst weiß, mag die Wahrheit
goutieren, auch wenn sie nicht ad usum delphini verköstigt wird und
bitter, allzu bitter schmeckt. Im Gegensatz etwa zu Kant, dem
Philosophen ohne Unterleib, knüpft Montaigne an antike Körperpolitiken
an, er vertraut seiner Art von Bioenergetik, wenn er sagt: „Etwas
Erregung, ja - aber bitte keine Raserei. Gegen das Alter verschreibt er
Gefühlsregungen wie die Liebe, um das Leben wieder hochzukitzeln.
Askese ist seine Sache nicht und die vorliegende Übersetzung präsentiert
einen deftigen Denker, der auch vor drastischen Selbstbeschreibungen -
etwa in der Klage, dass ihn sein Nierenleiden „entdirnt“ habe -
nicht zurückschreckt. Dass Montaigne ein frühgeborener Moderner war,
weiß inzwischen jedermann und oft ist es erstaunlich seine Sentenzen so
nah am Puls unserer Zeit zu wissen. Selbst zum „face-lifting“ hat er
eine Meinung: „Eine Altershässlichkeit, zu der man steht, ist meiner
Meinung nach weniger alt und hässlich als eine, die man künstlich glättet
und übermalt.“ Montaigne war in einer Zeit, die noch glaubte, in den
Zentren der Welt zu stehen, ein selbstkritischer Pragmatiker, der nicht
nur das Prinzip Hoffnung im Gepäck führte, sondern für jede Pein,
selbst bis zum kleinsten Seelenzipperlein Antworten parat hatte.
Der
Kreis der bewundernden Leser Montaignes, zu dem
Shakespeare, Diderot, Goethe und Nietzsche gehörten, beweist die
gewaltige Strahlkraft dieses Denkers. Montaigne wurde unsterblich, weil
er die Bedingtheit menschlicher Existenz, ihre Hilfs- und Trostbedürftigkeit,
besser erkannte als die längst demontierten Systemphilosophen, die erst
in der Dekonstruktion zu dem werden, was heutige Leser in Partikeln noch
erreicht. Zwar täuscht auch der Enthusiasmus, mit dem Montaigne als
deutscher Michel nun neu eingekleidet wurde, nicht über staubigere
Stellen des Moralisten hinweg, aber es bleiben weite Felder prämoderner
Lebenskunst für die so rat- und rastlose Postmoderne zu entdecken.
Aufmerksame Leser werden dabei erkennen, dass Montaigne nicht als
Philosoph einer leicht konsumierbaren Lebenskunst herhalten kann,
sondern im Hin und Her seiner abwägender Gedanken auch Abgründe und
Widersprüche in sich trägt, denen jeder für sich selbst nachgehen muss.
Dank
somit dem Eichborn-Verlag, Enzensberger und Greno, die diese ultimative
Bibel humaner Lebenskunst - in „kongenialer“ Prachtausstattung aus
blauem Leinen mit Goldprägung - auf den diesjährigen Gabentisch legen,
auf dass nicht nur dem Elfenbeinturm und der Insel Lektüre gewidmet
werde, sondern auch der rasende Zeitgenosse ein neues altes Vademecum in
einer unübersichtlichen Welt darin finden mag.
Goedart Palm
Michel de Montaigne, Essais, Erste
moderne Gesamtübersetzung von Hans Stillett, Eichborn Verlag, 1998.
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