Alter
Homo occidentalis – was nun?
Arno
Bammés sozioepistemologische Reise um die Welt in knapp tausend
Seiten.
Ob
die Subspezies »Homo
occidentalis«
sub specie aeternitatis die kognitiv erfolgreichste Geschichte des »Homo
sapiens« markiert, mag eine spätere Anthropologie entscheiden, so es
noch eine geben sollte. Gegenwärtig präsentiert Arno Bammé mit seinem
»Homo occidentalis« einen bei aller Länge konzisen Literaturbericht
über eine gesellschaftlich initialisierte und geformte Epistemologie
von der Antike bis zur Gegenwart. Bammé, Leiter des Instituts für
Technik- und Wissenschaftsforschung und Direktor des »Institute for
Advanced Studies on Science, Technology and Society« in Graz, räumt
freiwillig ein, dass es sich (nur) um einen Literaturbericht handelt.
Die Gegenwart in höchsteigene Gedanken zu fassen, wäre ohnehin ein
seltsames Unterfangen, wo inzwischen Schwarmintelligenzen erfolgreich
ihr Eigenrecht einfordern und wissenschaftlicher Progress nur noch mit Mühe
und wider das Wissen um Wissenskollektive von Einzelnen signiert werden
kann. Insofern ist die vorliegende Selbstbescheidung ein produktiverer
Vorgang als Originalkonstruktionen, die zu viel Mut haben, sich der
eigenen Vorurteile in den Seichtgebieten der Ignoranz zu bedienen. So
also sind einige Déjà-vu-Erlebnisse bei der Lektüre des »Homo
occidentalis« die Bestätigung, dass wir schon je auf dem richtigen
Wege der Ausdeutung des »Lebens, des Universums und des ganzen Restes«
waren.
Arno
Bammé folgt dem Siegeszug der Empirie, die sich gegen die Götter, die
Ideen, die transzendentalen Bedingungen der Erkenntnis, das intelligible
Subjekt und andere Konstruktionen eines apriorischen Weltverhältnisses
durchsetzt respektive deren Ursprünge erklärt. Wir erleben den
epistemologischen Erfolg des Experiments, des Labors, der Hypothese
gegen die riesigen Bestände fixierten Wissens, gegen die verdinglichten
Erkenntnisformen und ihre einschlägigen Aprioris. Arno
Bammé zeichnet diese Aufbrüche, Selbstdemontagen und
Neuformierungen der abendländischen Geistesgeschichte in drei großen Zäsuren
nach, die mehr Markierungen für den aufmerksamen Wanderer und seine
zahlreichen Schatten als diskrete Ereignisse der Wissensgeschichte sind.
Die
Herrschaft des Einen
Auf
dieser epistemologischen Odyssee nimmt der Soziologe Bammé vornehmlich
drei Gewährsleute mit, die alle vereint, dass sie die soziale Formung
des Epistemologischen in radikalen Varianten vorgestellt haben: Alfred
Sohn-Rethel, Bruno Latour, David Bloor. Sohn-Rethel gebührt der
Verdienst, die beiden ersten Zäsuren, denen Bammé nachspürt, »entdeckt«
zu haben. Es geht um die gesellschaftlichen Umrüstungen, die von der
Zeit der Vorsokratiker markiert wird (Stichwortartig: Entwicklung der
Buchstabenschrift und des Münzwesens, dynamischer Handel versus
Grundbesitz) und den revolutionären Übergang von der Renaissance in
die technisch und industriell explosive Neuzeit. Bammé beginnt wie
Sohn-Rethel mit den Urvätern des okzidentalen Denkens, Heraklit und
Parmenides. Das Werden und das Unveränderliche als kosmogonische,
kosmische, ewige Prinzipien werden im Blick auf die antike Gesellschaft
zu soziologischen Derivaten ihrer Wirtschafts- und Handelsform. Das große
Paradigma jener vergangenen Griechen ist die "Abstraktion".
Die Ware erscheint im Tauschwert als das quantifizierbare Ding. Es ist,
was es ist und es ist nicht, was es nicht ist. Gesellschaftlich ist das
folgenreich: Das Brot, das hier einer isst, macht den anderen nicht satt
(Sohn-Rethel). Das "griechische Mirakel", die "erste Zäsur
der abendländischen Epistemologie", beginnt mit der Abstraktion,
die aus der Gesellschaft autonomer Individuen resultiert und
Argumentations- und Beweisformen zum Standard kalkulierter Verhältnisse
macht. Die Welt ist nun alles, was be- und verrechnet werden kann. Im »New
Deal« der Antike weicht der Mythos dem Logos, was seine ewige
Wiederkehr, wie wir wissen, nicht ausschließt. Das Geld und der
alphanumerische Code machen globale Transferleistungen lange vor der
Erfindung der Globalität möglich. Wer heute den volatilen Börsenkapitalismus
(zu Recht) kritisiert, mag die revolutionären wie produktiven
Transformationen der damaligen sozialen Welt nicht mehr sehen, die darin
bestehen, die Dinge und Menschen und ihr Denken nunmehr einer abstrakten
und damit stärkeren Währung zu unterstellen, als sie das Miteinander
einer mythisch orientierten Schicksalsgemeinschaft kennt. Die
Wirklichkeit dieser Zeichen ist nicht jene vorgeblich greifbare
Wirklichkeit, von der wir nicht wissen können, ob ihr Begriff je mehr
war als ein paradiesisches Desiderat des irrenden und wirrenden
Menschen. Gegenüber diesem Wunsch nach einer einheitlichen,
harmonisierten Wirklichkeit operieren Menschen nun machtvoll in der
Wirklichkeit ihrer manipulierbaren Zeichen. Aristoteles´ Metaphysik
macht sich nach der vorsokratischen Initialzündung darauf den Reim von
Identität und Nichtidentität und des ausgeschlossenen Dritten. Die
Verhältnisse sind zweiwertig oder sie sind nicht: Wahr oder Falsch,
Kaufen oder Verkaufen, Haben oder Nichthaben, Essen oder Hungern. Die
Wahrheitsform der zweiwertigen Logik, stößt erst bei Gotthard Günther
auf einen Widerstand, der auch jene eskamotierten Zwischenreiche des
Wahrscheinlichen, Möglichen und anderer Halbwelten epistemologischer
Ungewissheit zu erfassen versucht.
Danach
betritt Bammé den schnell wachsenden Geräte- und Maschinenpark der
Nachrenaissance, in der die Technik auf die Natur stößt, sich mit ihr
verbindet und eine technisch entfesselte »nova natura« schöpft. Die
Welt wird zum Gegenstand ihrer praktischen Beherrschung, zur veränderlichen
Ordnung im Zeichen einer neu vermessenen Empirie. Die Technik schneidet
sich tief in die Welt ein, um sie sich nun christlich imperial untertan
zu machen. Mit den Extensionen der Wahrnehmung durch immer weiter
reichende Welterschließungsinstrumente, der industriellen
Rationalisierung der Rohstoffressourcen und unzähligen
Homogenisierungen einer Warenwirklichkeit wird der mehr oder weniger
rationale Umgang mit der Welt in Dimensionen aufgeschlossen, die jene
vorgängige Gesellschaft nicht erahnen ließ.
Hybridisierung
der Techno-Welt
Mit
der dritten Zäsur werden Gesellschaften und Technologie zu einer
Hybrid-Konstruktion verschmolzen. Die Trennwände zwischen Universitäten,
Labors und industriellen Fertigungsstätten fallen. Die ehernen
Kategorien gesellschaftlicher Wissensorganisation weichen und mit ihnen
fallen die Unterschiede, mit denen wir zuvor so epistemologisch bequem
wie notwendig unvollkommen die Welt zugeschnitten haben. Die
Wissenschaft geht mit der Technik eine unauflösliche Liaison ein. Die
Welt wird dem Schlagwort nach zum »Labor«, so wenig uns solche
Verortungen noch etwas über eine Wissenschafts- und Technikdynamik
verraten, die sich auch mit dem Kapital und einer technisierten
Lebenswelt verbindet. Bruno Latour hat dargestellt, wie diese immer
undurchschaubareren Hybride aus Wissenschaft, Technik, Normen,
Sozialstrukturen und menschlichen Leidenschaften den Einfriedungen der
vormaligen abendländischen Begrifflichkeit von politischen,
wissenschaftlichen technischen und ökonomischen Kategorien spotten. Mit
der gewöhnungsbedürftig bleibenden Terminologie eines »Parlaments der
Dinge«, in der Menschen und nichtmenschliche »Dinge« demokratisiert
werden sollen, bezeichnet Latour eine demokratisch solidarische
Herrschaftsform, die der selbstläufigen Dynamik moderner
Hybridtechnologien zu widersprechen scheint. Die ständig nachwachsenden
Zauberobjekte üben ihre unwidersprochene Macht aus, besitzen fatalen
Eigensinn, der vormals als »Tücke des Objekts« beklagt wurde, ohne
auf ein von Menschen verliehenes Stimmrecht oder andere Formen der
einvernehmlichen Machtverteilung angewiesen zu sein. »So lauert alles
Objekt, Bleistift, Feder, Tintenfaß, Papier, Zigarre, Glas, Lampe –
alles, alles auf den Augenblick, wo man nicht acht gibt.« (Friedrich
Theodor Vischer) Erhart Kästner hat im "Aufstand der
Dinge" den Streik »unserer« Apparatekultur als Anlass genommen,
über den rein funktionalistischen Umgang mit Gegenständen
nachzudenken. In dieser »Revolte der Maschine« (Rolland, Romain/Frans
Masereel), die viele Erzähler neomythischer Schreckensszenarien und
kulturpessimistischer Abgründe kennt, werden letztlich die Phänomenologie
unseres Umgangs mit den Artefakten bzw. unsere »Gesten« (Vilém
Flusser) kritisch hinterfragt, um darin nicht deren Eigenrecht zu
fordern, sondern unsere Weltbemächtigungspraxis selbstkritischer und
effizienter werden zu lassen. Bruno Latour will vor allem die Dichotomie
von instrumenteller Vernunft und Werten im »Parlament der Dinge« auflösen,
was längst nicht die Frage beantwortet, wie Haushaltsroboter,
Industriemaschinen oder Kühe in der BSE-Krise (Nina Degele) jenseits
menschlicher Perspektiven zu ihrem Eigenrecht kommen. Könnte nicht die
instrumentelle Vernunft der falsche »terminus technicus« für den
Herrschaftsmodus nichtmenschlicher Dinge sein, der sich in der alltäglichen
Großstadtöffentlichkeit inzwischen so selbstverständlich vollzieht,
dass Menschen ihr von zahllosen Gadgets vorformuliertes Ritual, einem
Gottesdienst gleich im Angesicht »ihrer« zahlreichen
Herrschaftsinstrumente, vollziehen. Nicht erst hier wird die
Differenzierung von Natur und Künstlichkeit, Menschlichem und
Nichtmenschlichem ein antiquierter, erkenntnisschwacher Modus, der gegen
funktional komplexere Beschreibungen einzutauschen ist.
Die
Natur ist nach Bruno Latour keine unschuldige, vorgegebene Eigenschaft
der Welt, die nur erobert werden muss, sondern eine Konstruktion der
Wissenschaft. Das klingt heute nach Immanuel Kant, Thomas Kuhn und
radikalen Konstruktivisten vieler Sorten nicht allzu revolutionär. Wenn
wir erst den kopernikanischen Duktus der Rückwendung auf den
Erkennenden und andere erfolgreiche Paradigmenwechsel verinnerlicht
haben, wird der Konstruktivismus zum Pflichtprogramm. Allein ist er längst
nicht im alltäglichen Verständnis angekommen, weil es der
menschlichen, stammesgeschichtlich generierten Intuition widerspricht,
auf die »Dinge« da draußen zu stoßen und sich seines eigenen
Apparats der Erkenntnis im technischen Umgang mit der vorgefundenen Welt
zu bedienen.
Was
Technik im Guten wie im Bösen vermag, wenn denn diese moralische
Reflexion noch eine Bedeutung haben soll, vollzieht sich von nun an
planetar. Wer die Zaubergeister aus dem künstlichen Labor entlässt und
entlassen muss, produziert Folgen für den ganzen Globus. Fukushima ist
nicht nur ein atomarer Störfall, sondern ein explosiver Testfall der
Wissenschaft im Vollzug ihrer Potenzen. Die Technik, hier folgt Arno
Bammé den Spuren Martin Heideggers, ist ohnehin kein spätes Produkt
der Naturbeherrschung. Die Technik liegt schon im Wesen der ersten
Metaphysik. Es geht um ein Weltverhältnis des Tuns, des Entbergens, das
Technik nicht als bloßes Instrument begreift, sondern eine dem Denken
inhärente Welterschließungsweise anzeigt.

Denken
zwischen Wahrheit und Warenform
Aber
bedingt die Warenform die Denkform, so wie es der von Bammé besonders
herausgestellte, marxistische Abweichler Alfred Sohn-Rethel behauptete?
So abstrakt wie die Ware ist, so abstrakt ist das Denken. Wer über das
Denken reflektiert, verinnerlicht den abstrakten Wert des Tauschverhältnisses.
Akteure, Raum und Zeit werden entindividualisiert, folgen keiner je
spezifischen Erzählung mehr, sondern werden zu Funktionen und Faktoren
gesellschaftlicher Praxis. »Realabstraktionen«, nicht
Denkabstraktionen, prägen Gesellschaften, die wundersam genug Äpfel
mit Birnen verrechnen können, ohne sich dessen bewusst sein zu müssen.
Der Wert, das parmenidische Eine, und nicht der Gebrauch bestimmt das
grenzverletzende Wesen des Warenverkehrs. Sohn-Rethel demonstriert es an
dem Ewigkeitsmedium der Münze, die nicht mehr an der Vergänglichkeit
der Welt teilhaben soll, um darin die abstrakten Gesetze des Marktes zu
garantieren. Das Metall hilft nicht nur dem »Fantastilliardär«, das
Vertrauen als Deckungsmasse zu sichern.
Daneben
gibt es keinen frei schwebenden Geist, der überzeitlichen Gesetzen,
einer unhintergehbaren Ontologie oder dem Apriori der Vernunft- bzw.
Verstandesorganisation entspricht. Der Geist erfährt sich in den »Realabstraktionen«
des gesellschaftlichen Verkehrs, was ihm einerseits abstrakte Herrschaft
verleiht, aber andererseits nie seine Herkunft vergessen lässt.
Abgesehen von Sohn-Rethels nicht unproblematischer, vielfach
kritisierter Beschreibung eines überzeitlichen Moments zur Erfassung
realhistorischer Gesellschaften geht es um die fundamentalere Frage, die
auch Arno Bammé beantworten muss, ob die Empirie des Sozialen das
jeweilige Paradigma des Bewusstseins bzw. das kognitive Modell vollständig
ausfüllt. Denn in dieser Radikalität ist nicht die Gesellschaft der
neutrale, externe Ort des Denkens, sondern dessen innerste Struktur. Das
widerstrebt fundamental dem philosophischen Anspruch, gegenüber
kontingenten Geschichtsverläufen, Kategorien zu entwickeln, denen sich
selbst uns nicht bekannte Gesellschaften von Teufeln unterwerfen müssten.
Auch Luzifer erlebt danach sein Canossa in Königsberg. Eine
Radikaltheorie des sozial determinierten Epistemologischen will von
solchen ehernen Kategorientafeln nichts wissen.
Doch
wenn alles Denken durch die Gesellschaft und ihre Regeln generiert ist,
gilt das für diesen Ansatz auch. Im Grunde vermag diese Theorie deshalb
kaum stressfrei anzugeben, warum so unterschiedliche Denk- und
Seinsweisen möglich werden, wenn doch die Entwicklung des Denkens aus
der Empirie in welchem Umfang auch immer zu determinieren scheint, was
gedacht werden kann und was nicht. In der kritischen Reflektion auf die
soziale »Geworfenheit« des Denkens löst sich gerade Denken aus
solchen Vorjustierungen. Darin könnte sich aber eine Autonomie des
menschlichen Geistes erweisen, der sich in der »Warenform« und ähnlichen
Abstraktionen entwickelt, ohne darin in seiner Transzendenz beeinträchtigt
zu werden, sich auf seine Herkunft kritisch zurückzuwenden und das
paradigmatische Bewegungsgesetz aufzubrechen, von der gesellschaftlichen
Seinsweise zu (kritischen) Bewusstseinsinhalten zu gelangen. Wie kann
Sohn-Rethel das Tauschgesetz als Denkform kritisieren, wenn er selbst
dieser Form unterlegen wäre? Wie kann Bloor denken, dass vielleicht in
einem anderen Kalkül 2 mal 2 gleich 5 wäre, wenn er an die sozialen
Bedingungen seines Denkens gebunden ist? Wie schließlich kann Gotthard
Günther denken, dass es wahr ist, mehr als wahre und falsche Zustände
zu unterscheiden? Sohn-Rethel klammert sich in einer der dunkleren
Passagen seiner "Soziologie der Erkenntnis" an Marxens
Feedback-Dialektik in "Zur Kritik der Hegelschen
Rechtsphilosophie": "... man muss diese versteinerten Verhältnisse
dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!
Man muss das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu
machen." Ob man nun Dialektik als platonische Idee, Verstandesvermögen
des transzendentalen Subjekts oder Emanation der Waren-Denkform
begreift, kommt einem bescheidenen Universalienstreit gegenüber der
brisanteren Erkenntnis gleich, dass die gesellschaftliche Prägung von
Denkweisen offensichtlich viel komplexer ist, als es die abstrakt
schlichte Warenform verheißt. Insofern sind hier Freiheitsmomente
vorgesehen, die zumindest der Kritiker der Verhältnisse für sich
reklamiert, ohne der übermächtigen Warenlogik zu unterliegen.
Der
Primat des Gesellschaftlichen respektive die "soziologistischen"
Bekenntnisse des vorliegenden Textes könnten zu kurz greifen, wenn dem
(philosophischen) Denken respektive dem kritisch-analytischen
Bewusstsein nicht Qualitäten zugerechnet werden, die eigenen
Voraussetzungen einer Revision zu unterziehen. Die Plastizität des
Bewusstseins könnte eine die eigene Genese von Denkstrukturen überschreitende
Kraft besitzen. So recht will die Eskamotierung des selbstreferentiellen
Denkens, die Sohn-Rethel - unter anderem im Rekurs auf Nietzsches spöttische
Formel "vermöge eines Vermögens" - vorführt, nicht
gelingen. Offensichtlich sind Denkakte ein mixtum compositum aus der zur
Verfügung gestellten "hardware brain" und ihren komplexen
Verdrahtungen, neuronalen Ereignissen und Erfahrungen, die nie allein
auf das Gesetz der Warentauschs reduziert werden können, so mächtig
auch diese Abstraktion ist. Ohnehin bleibt
entwicklungsgeschichtlich die Frage offen, ob das »griechische Mirakel«,
dieser "Ursprungsmythos der Vernunft" (Helmut Heit), nicht
durch ein Bewusstsein möglich wurde, das virtuell die Vorteile der
Abstraktion bereits vor ihrem sozialen Vollzug erfassen muss. Denn jede
"Realabstraktion" setzt eine Planung voraus, sodass ihr Verhältnis
zur Denkabstraktion einen offenen bis unentscheidbaren Vorrangstreit
anzeigt. In dem etwas kurz geratenen Abschnitt des "Homo
occidentalis" über virtuelle Realität hätte die Ausgangsthese
mit der Erkenntnis rückgekoppelt werden können, dass Weltentwürfe
einen Vorlauf in der projektiven Potenz des Bewusstseins haben, tastend,
spielerisch, offen mit Wirklichkeit umzugehen. Diese nicht ganz neue
Dialektik als Dilemma der marxistischen Theorie gilt es zu erinnern.
Wenn das Sein das Bewusstsein bestimmt, impliziert das zumindest so viel
Bewusstsein, dass die Erkenntnis paradox werden muss. Deswegen leben
linke Theoretiker je schon im Möglichkeitsraum der Zukunft, um ihrem
Bewusstsein das nunmehr wahre Sein zuzuordnen. Das mag man mit Hinweisen
auf eine (Beobachtungs)Ebene zweiter Ordnung zu entschärfen versuchen,
doch das ändert wenig an dem selbst geschaffenen Dilemma, auch diesen
Standort wieder als gesellschaftlich verursacht ansehen zu müssen. Auch
die Ursprungsmythen des Logos könnten dem allgemeinen Verdikt
mythischen Denkens anheimfallen. In dieser Versuchsanordnung liefert die
Gesellschaft die Remedien zu ihrer Überwindung gleich mit, was
gefahrbringend für den vorliegenden Ansatz dafür sprechen könnte, dem
Bewusstsein doch apriorische respektive sozial transzendente Qualitäten
zuzurechnen. Denn zumindest gesellschaftlich »schlechtes« Sein
bestimmt das Bewusstsein in der Weise, dass es sich von eben diesem Sein
lossagt, was die Frage nach dem Ursprung gesellschaftlicher Revolutionen
in einen infiniten Regress der wahren Urheberschaft hineintreibt.
Ein
weiteres Problem des Projekts des »Homo occidentalis« resultiert aus
dem Umstand, dass mit und neben der Abstraktion die Konkretion der
Wirklichkeit jenseits der Wissenschaft ihr Eigenrecht nicht verloren
hat. Dem praktischen Anforderungen folgenden Reduktionismus der
Abstraktion stehen Sphären in Kunst, Kultur und Lebenswelt gegenüber,
die zu Kompensationsinstanzen des instrumentellen Umgangs mit der sozial
vermittelten Welt werden. Insofern hat die Herrschaft des Einen, der
abstrakte Wert des Tauschgesetzes, zugleich den Widerpart einer
komplexen Phänomenologie der Welt freigesetzt, die ihr inkommensurables
Eigenrecht reklamiert. So mögen Kunstwerke wie Bananen gehandelt
werden, doch das Tauschgesetz bleibt den verhandelten Gehalten äußerlich.
So mögen Honoré de Balzacs Narrationen, wie Karl Marx es tat, als
sozioökonomische Berichte gelesen werden, doch in diesem Wissen erschöpft
sich deren Gehalt nicht. »Hans im Glück« ist ein intelligenter
Verlierer des Tauschprinzips, um gerade dadurch zu dessen Überwinder zu
werden. Bammé wird hier vielleicht selbst zum Opfer eines operationalen
Fortschrittsmythos, wenn er die »Wiederverzauberung« der Welt als
obsoleten Restposten verwirft. Denn die Operationalität als vielfach
beschworener Königsweg der Weltaneignung verstellt die
idiosynkratischen, schlecht oder gar nicht kompatiblen Weltzugänge, die
sich nicht in der Retro-Begrifflichkeit des »Mythos« erschöpfen.
Besteht die Struktur der modernen Lyrik nur in der Gegenwehr zu einer
nivellierenden Warenform? Ist die »Suche nach der verlorenen Zeit«
lediglich eine kontingente Weltbeschreibung, die sich vergeblich gegen
den abstrakten Funktionalismus der Wissensherrschaft und des Güterkreislaufs
auflehnt? Der »Kurt Klagenfurter« Bammé optiert für Gotthard Günthers
Logikkonzept, das erst jene Formalisierungsanstrengungen der zuvor so
effektiven zweiwertigen Logik finalisiere, in dem er diese unter den
Verdacht der Metaphysik und Realitätsverfehlung stellt. Gerade die
Subjektivität falle hier durch den Rost eines intransigenten »Ist-Zustandes«,
ohne Möglichkeitsspielräume und Veränderungschancen einzukalkulieren.
Das ist kaum zu bestreiten. Aber sind diese virtuellen Weltzustände
nicht je in den wachsendenden Innenwelten eines poetischen, kritischen,
revolutionären Subjekts repräsentiert worden? Wer sich wie Bammé mit
der Großerzählung der abendländischen Geistesgeschichte herumschlägt
und ihre Vorteile wie Mängel zu erfassen versucht, kann die alltägliche
Freistellung des Subjekts im abstrakten Tauschgesetz nicht ignorieren.
Die kleinen Erzählungen sind nicht narrative Folgeerscheinungen einer
wie auch immer »riskierten« Großerzählung, die jedenfalls Menschen
nicht aufgeben werden, sondern bleiben eigenwertige Formen der
Welterschließung.
Für
den Wissenschaftssoziologen Bloor ist die wissenschaftliche Theorie
selbst dann noch empirisch zu deuten, wenn das Objekt der Forschung so
überzeitlich erscheint, dass wir geradewegs zu Platonikern werden. Ist
»2 mal 2 = 4« nicht eine unumstößliche Wahrheit, selbst über dieses
Universum und alle denkbaren Welten hinaus? Nun hatte schon Ludwig
Wittgenstein diese in Stein gemeißelten Wahrheiten in die Säure der
Sprachspiele geworfen. Mit David Bloors »Edinburgh Strong Programme«
sollen wir nun endlich kontraintuitiv die ganze Wissenschaft als sozial
generiert begreifen, was mächtigen Widerspruch der Zunft produzierte,
sich in Wahrheiten einzumischen, die nicht mit ihren sozialen
Bedingungen gleichgesetzt werden dürfen. Das tut Bloor nicht, aber
platonische Ideen wollen sich unter keinen Umständen empirisch
verunreinigen lassen. Wenn die Sozialstruktur zu einer Denkstruktur führt,
wären alle die hehren Ideale der Mathematik, der Logik etc. Momente
gesellschaftlicher Organisation, Spiegelungen der Warenform und damit
des immer abstrakteren Umgangs des Menschen mit sich und der Welt. Dabei
relativiert sich dieser intern geführte Wissenschaftsstreit, wenn klar
wird, dass die empirische Genese wissenschaftlichen Denkens längst
nicht dessen Gehalte in Abrede stellt. Ist aber die
Wissenschaftssoziologie in der Lage nachzuweisen, dass es eine soziale
Form der Wissenschaft gibt, die auch anders sein könnte, entstehen
Kompetenzkonflikte über die eminent wichtige Frage, wie die Zukunft der
Wissenschaft, die zugleich eine soziale und politische Wirklichkeit
betrifft, aussehen könnte, wenn gesellschaftliche Strukturen sich verändern.
Gegenüber diesem offenen Diskurs der Epistemologie, den Bammé zu
Gunsten eines sozial generierten Wissens entscheiden will, lässt sich
die gesellschaftliche Praxis und »Alltagsepistemologie« inzwischen
aber selbst kaum mehr von solchen Streitigkeiten irritieren.
Wenn
etwa heute über Bewusstsein gesprochen wird, werden paradigmatisch Umstände
bezeichnet, die unschwer als Momente einer medialen Hybridtechnologie,
insbesondere des Computers, der Informationsvernetzung, ausgewiesen
sind: Speicherung, Verarbeitung, Transfer und Konvertierung von Daten.
David Bloors Entautonomisierung wissenschaftlicher Praxis ist längst
ein eigenes gesellschaftliches Paradigma geworden, wenn Nuklear-, Gen-
oder Informationstechnologien mit bedingtem Erfolg als Angelegenheiten
gesellschaftlicher Steuerung politisiert werden. Die Priorisierung
wissenschaftlich-technischer Agenda und ihre umstandslose Konvertierung
in gesellschaftliche Praxis werden relevanter als die Frage nach der
Genese der »Wahrheit«.
Was
kommt nach dem Homo occidentalis?
Der
Medienphilosoph Jochen Hörisch hat in einer kurzen Rezension seine
Frage offen gelassen, ob diese Art von Text, vielleicht ein Klassiker,
dem zukünftigen Homo occidentalis noch etwas sagen wird, wenn das
Denken und Lesen rare und vielleicht schon bald antiquierte
Kulturtechniken werden. Radikaler formuliert: Verständigt sich die Welt
noch über Texte wie den vorliegenden? Sind solche Anamnesen der abendländischen
Gesellschaften, ihres Denkens und ihrer Praxis, noch ein wirksames
Feedback, um Rationalisierungsprozesse im weitesten Sinne des Verständnisses
anzuleiten und zu verbessern? Wird die Welt dadurch zur besten aller möglichen,
dass wir sie besser verstehen oder verabschieden wir uns als vorübergehende
Unteragenten eines Prozesses, der schon morgen auf unsere Mitarbeit und
bedingt sachlichen Beiträge verzichtet? Ist nicht der »Homo
occidentalis« selbst eine soziale Konstruktion, die das Ganze auch
nicht mehr zusammenhält und daher als Projektionsfläche
gesellschaftlicher Prozesse und ihrer zahllosen Funktionen viel zu kurz
geraten ist? Gerade die »Interpenetration« (Niklas Luhmann) vormals
geschiedener Sphären, die Hybridisierung von Funktionen, die nicht
Subjekten zugerechnet werden können, ist längst nicht abgeschlossen
und – von parareligiösen Omega-Punkten abgesehen – erscheint sie
auch kaum abschließbar. Sie lässt den historischen Protagonisten »Mensch«
und seine Projekte klein erscheinen. Eine Kritik Bammés zielt auf den
Fluchtpunkt, den Menschen und seine Disposition, die Welt abstrakten
Gewissheiten zu unterwerfen. Bammés »Opus magnum« endet damit, den
Nachgeborenen zu überlassen, ihre gesellschaftliche Praxis als eine »des
realen Wollens und Handelns« zu finden. Aber wollte der abendländische
Mensch je diese Praxis? Handelte er je im Blick auf reale Folgen seiner
Projekte, die alle »on the fly« entwickelt wurden? Diese Entwicklungen
können nicht als Frucht von Entscheidungsprozessen erfasst werden,
sondern als evolutionslogische Dynamiken, deren realgesellschaftliche
Entstehungsbedingungen nur als narrativer Ballast erscheinen. Wer den
Fokus auf den epistemologisch arg strapazierten und eher getriebenen,
denn handelnden Menschen richtet, ist möglicherweise noch nicht bei der
dritten - oder ist es schon die vierte? - Zäsur angekommen. »Von
der Anschauung zur Bemächtigung der Welt«, wie es der Untertitel des
vorliegenden Werks angibt, gehen Wege, die eher ihren Ausdruck in der
Selbstbemächtigung der Welt mit Hilfe des Homo occidentalis finden.
Hegel hatte sich mit seiner Theorie des absoluten Geistes kühn an
diesem Prozess versucht, vor dem jede Soziologie bzw. Sozioanthropologie
des abendländischen Menschen kapitulieren könnte. Diese Geschichte könnte
auch als Selbstwerdung der Welt beschrieben werden, ohne auf den
empirisch geprägten Begriff des Menschen mehr Aufmerksamkeit zu legen,
als es eben einem Relais epistemologischer und praktischer Funktionen
zukommt. Wir sind nicht überzeugt, dass Systemtheorien oder
funktionalistische Beschreibungen nun selbst, wie es Bammé nahelegt,
eben auf der alteuropäischen Schutthalde gelandet sind, die sie ihren
Vorgängertheorien beschieden haben. Hinter dem »Homo occidentalis«
muss man mit weiteren Entgrenzungen rechnen, die jene bedingt autonomen
Ausgänge des Menschen aus der Natur und sozial generierter Kognitionen
in eine technisch konstruierte Neuschöpfung überbieten. Bammé liefert
uns hierfür ein wertvolles Protokoll, um jene sozialen und kognitiven
Bewegungen in einer Form zu erfassen, die nur dem Überblickenden gewährt
wird. Insofern wird hier zugleich eine Geschichte des Menschen
geschrieben, der sich selbstverliebt als »erster Freigelassener der Schöpfung«
(Johann Gottfried von Herder) für einige Jahrtausende als
Wissensherrscher reflektieren durfte. Doch dahinter könnte sich eine
Sintflut auftürmen, deren Urheber, so es einen gibt, diesmal keine
Arche der Weltrekonstruktion vorgesehen hat. Das Kräuseln dieser
Bewegung zeigt sich bereits in den Informationswellen, die immer
unruhiger das je leidlich festgefügte Konstrukt von Gesellschaft, Ökonomie
und zahllosen anderen Systemen und Untersystemen angreifen. »Auf die
Schiffe, ihr Philosophen«, forderte Friedrich Nietzsche wie immer
vorausahnend. Doch diese Apokalypse könnte selbst seefahrbereite
Epistemologen und mutige Wissenschaftssoziologen überfordern, wenn
Techno-Dynamiken entfaltet werden, die nicht mal schwankenden Grund
bieten. Bis dahin lesen wir mit guten Gründen Arno Bammé…
Goedart
Palm
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