Zur
Virtualität des Analogen - Zettels Albtraum von der digitalen
Vorherrschaft
„Softwarefehler
und Computerabstürze haben auch eine positive Seite: Sie raten uns, die
Aufmerksamkeit zu diversifizieren und nicht all unsere virtuellen Eier in
ein und und denselben elektronischen Korb zu legen.“
(Edward Tenner)
Microsofts
Programm "Word" präsentiert ein Icon, das neben bzw. unter dem
Versalen "W" ein Papierblatt mit einem Eselsohr an der rechten
Ecke zeigt. Angedeutet sind Linien, die über den Bogen ziehen. Eine
Metapher also soll uns mit dem Abschied vom Papier versöhnen. Unzählige
Male wird täglich dieses papierlose Dokument geöffnet, das hartnäckig
seine Herkunft aus den Zeiten des Papiers beschwört. Nicht so viel anders
als jene ersten Autos, die ihre konzeptuelle Geburt im auslaufenden
Zeitalter der Postkutschen nicht leugnen konnten. Die Kutschenähnlichkeit
von Autos mit ihren nostalgisch zweckfreien Trittbrettern ist Geschichte.
Wir lernen ein neues Medium als vermeintliche Anleihe an ein tradiertes
besser zu begreifen, aber gerade diese Wahrnehmung schafft zugleich die
Hindernisse, die phänomenologischen Eigenarten neuer Medien zu verstehen.
Digitale
Texte sind eben nicht zu be-greifen, nicht zu berühren, es wird nichts
inskribiert, sondern wir besitzen eine Zaubertafel, auf der Zeichen
entstehen, die zumindest auf den Oberflächen spurenlos korrigiert werden
können. Unsere Arbeit umgibt die Aura des tendenziell immer fertigen, ja
perfekten Textes. Warum ist dann das papierlose Büro bisher eine Fiktion
geblieben? Sind es klebrige Gewohnheiten, die uns noch hindern, den
letzten Rest Papier aus unserem hochorganisierten Arbeitsalltag zu
verbannen bzw. wegzuscannen? Wie anachronistisch sind im Zeitalter von
Word, RTF, PDF sowie dem allgegenwärtigen "Copy and Paste" die
Schnittstellen zwischen hochorganisierten Festplatten und unserer (un)heimlichen
Zettelwirtschaft?
I.
Bleibt Papier das Medium der Zukunft?
Papier
ist ein ambivalentes Medium. Es neigt zur gnadenlosen Vermehrung nach
Gesetzen, die Parkinson als Wildwuchs des bürokratischen Wahns beschrieb
und die vielleicht einem uns noch nicht bekannten Gesetz der
Jungfernzeugung folgen. Vom Papiersterben jedenfalls keine Spur.
Statistisch betrachtet wird gegenwärtig mehr denn je Papier verwendet. In
den USA ist ein Anstieg des Verbrauchs von 15 % zwischen 1995 und 2000 zu
verzeichnen. Wenn es nur die Macht der Gewohnheit wäre, würde doch alles
für rückläufige Zahlen dieses Mediengebrauchs sprechen. Nicht wenige
Antragsformulare von Behörden wurden auch in den Zeiten digitaler Aufrüstung
aufwändiger. Bleibt das Papier trotz der scheinbar mächtigen Konkurrenz
textverarbeitender Programme ein Medium der Zukunft?
Papier
und Stift sind wahrnehmungstechnisch und ergonomisch in ihrer Einfachheit
nicht nur hochpraktisch. Der Akt der Herstellung ist spannungsreicher als
das Bedienen einer Tastatur mit der Langzeitgarantie von
Sehnenscheidenentzündungen. Schreibautomaten unterwerfen Menschen
mechanischen Prozessen, die keine Individualität der Darstellung
zulassen. Die taktile Oberfläche, die den Akt des Schreibens als sanften
Widerstand erfährt, besitzt ästhetische Eigenschaften, die Touchscreens
suggerieren mögen, aber längst noch nicht erreichen. Smart Paper, das
die Vorzüge des analogen Mediums mit digitalen Speichereigenschaften
verbindet, ist gleichfalls nicht ausgereift. Wie viele unsterbliche wie überflüssige
Zeilen, Urkunden, Briefe und Sudelbücher verdanken ihre Existenz allein
der Sinnlichkeit des vordergründig antiquierten Materials? Kritzeln,
Schmieren, Malen, Zeichnen, Schreiben - der Wechsel der Darstellungsweisen
und Gesten bleibt nach wie vor so flexibel, wie es die Software noch nicht
ist. Papier kennt keine lästigen Programmwechsel,
Formatierungsschwierigkeiten und ist zumindest von Computerviren nicht
korrumpierbar. Joseph Beuys' Beschwörungen menschlicher Kreativität auf
Kreidetafeln und Papierfetzen machten die direkte Anbindung menschlicher
Gestaltungskraft an dieses leichte Medium besonders deutlich.
II.
Die Freiheit fliegender Blätter
Gegenüber
der Präzision des Monitors und der Objektivität digitaler Lettern reizt
Papier als Medium schöpferischer Prozesse. Der schizophrene Grafomane
Adolf Wölfli schuf riesige Panoramabilder vornehmlich mit Blei- und
Buntstift, auf denen Schrift, Zeichnung, Collage und Musikfässer mit
Noten ineinander schwammen. Diese virtuelle Fabulierkunst ist kaum von der
Materialität des Mediums zu trennen. Papier wurde hier zum "synästhetischen"
Träger von Multimediainszenierungen vor der Zeit einer vollintegrierten
Realisierbarkeit. Aber auch jenseits künstlerischer Notate und
Verwendungsweisen bleibt Papier ein zentrales Medium alltäglicher
Aufschreibesysteme. Jedes Blatt ist ein kleiner Monitor, flexibel wie ein
Laptop, überall zu installieren und schnell wegzuräumen. Für die
Ewigkeit oder für den Papierkorb. Kommissar Columbos grotesk kleines
Notizblöckchen nebst Bleistiftstummel war oft ergiebiger als die
Rasterfahndung. Psychologen, Soziologen und Ergonomiker halten solche
Kritzler wie Kommissar Columbo nicht für unverbesserliche Zeitgenossen,
die das Königsmedium des digitalen Schreibautomaten noch nicht richtig
verinnerlicht haben. Die beiden Sozialwissenschaftler Abigail Sellen und
Richard Harper haben in ihrer Studie "The Myth of the Paperless
Office" (2001) zahlreiche kollaborative Prozesse beobachtet, bei
denen sich Unmengen Papier über gemeinsame Arbeitstische ergießen und
Menschen informell auf Papier arbeiten, um besser zusammenzuarbeiten. Erst
nach diesen kreativen Passionen, langen Prozessen der Korrektur und
wechselseitiger Ergänzung, wandert der Text schließlich in den Computer.
Die
Autoren betrachten Papier als ein soziales Medium mit hoher Flexibilität.
Der gemeinsame Papierkrieg mache das Interesse der Person an den
Aufzeichnungen deutlicher als der stiere Blick auf den Monitor. Die
Papierberge auf Schreibtischen, die sanften Hügel und Täler, gebildet
aus Büchern, Zeitungen, Notizen sind nicht die Visitenkarten von
unverbesserlichen messies,
sondern regelmäßig hochorganisierte Topografien, deren Besitzer mit
Leichtigkeit - ohne Suchfunktion und Index - Informationen finden.
Papierstöße gelten den beiden Papierforschern als atmende, lebende
Archive.
Paradox
gesagt verkörpern die Schreibtischhalden gerade die Flüssigkeit,
Unabgeschlossenheit und Komplexität des Denkprozesses. Was auch im Kopf
noch nicht organisiert ist, genießt die Freiheit fliegender Blätter, die
schöpferische Planung vor ihrer Systematisierung. Die Stöße und Stapel
seien Metaphern der Gehirnlandschaften. Sellen und Harper beobachteten
Ordner mit aller Art von idiosynkratischen, höchst persönlichen
Aufzeichnungen, die nur den Herstellern und Eingeweihten sinnvoll
erscheinen.
Nicht
das papierlose Büro, sondern nur die Archivierung von weniger Papieren
ist die Lösung. Historisch ist das nicht ohne Ironie. Verband sich doch
im 19. Jahrhundert mit dem Papier die Idee der systematischen
Organisation. Buchhaltung, Geschäftsreporte, tägliche Arbeitsberichte
entsprangen einer Schriftkultur, die der Mündlichkeit der Übermittlung
nicht vertraute. Mit Kohlepapier und Schreibmaschine, später dem
Fotokopierer, wurden die produktiven Effekte des Papiers enorm gesteigert.
Melvil
Dewey gewann bei der Weltausstellung von 1893 eine Goldmedaille für Hängeregistraturen,
die horizontal unübersichtliche Häufungen gegen den vertikalen Zugriff
auf Dokumente austauschten. Für den Computerwissenschaftler David M. Levy
("Scrolling Forward: Making Sense of Documents in the Digital
Age", 2001) war Dewey der Anti-Walt-Whitman seiner Zeit, der nicht
wie dieser die Schönheit und Unmittelbarkeit der Gegenstände hinnahm,
sondern sie standardisierte, ordnete und in Form brachte. Die Idee des 19.
Jahrhunderts, das Papier zu bändigen, in Schubladen, Heftern und
Registern auf alle vorläufigen Ewigkeiten hin zu zähmen, ist in unsere
digitalen Ordnungssysteme geflossen. Da die Speicherkapazität von Papier
armselig ist, ist diese Funktion des klassischen Papiers unwiederbringlich
dahin. Mit den beschriebenen Vorzügen des Papiers wird das System der
Zukunft aber nicht das papierlose Büro werden, sondern als kreativ
chaotisches Interface zwischen digitalen und analogen Aufschreibesystemen
erhalten bleiben. Das also Leser, was Du gerade vor Dir siehst. Mit
anderen Worten: "The mark of the contemporary office is not the file.
It's the pile."
Anachronistisch
sind mithin nicht die Papierstöße, sondern die inflationären
Software-Werbungen, die unsere gelben
Posties, unsere Schmierblätter und
inflationären Zettelwirtschaften ins mediale Abseits abdrängen wollen. Zettels Albtraum ist die entchaotisierte, kreativitätstötende
Oberfläche von Monitoren und glatten Arbeitsflächen. Die Flips und
Strips auf und neben, über und unter dem Monitor bleiben die Referenz an
menschliches Organisationschaos oder Chaosmanagement, das ja auch
Unternehmensberater Betrieben als unabdingbar für ihre produktive Zukunft
verschreiben.
Nach
den beiden Papierwissenschaftlern besteht das Problem zukünftig nicht
darin, weniger Papier zu verwenden, sondern weniger Papier zu archivieren.
Papier erhält sich dann als schöpferischer Werkstoff - eben nicht für
die Ewigkeit, sondern für die Idee des Moments. Somit werfe ich die
handschriftlichen Skizzen zu diesem Text jetzt weg. Quod erat scribendum.
|