Raffinessen
der Reproduktion
© Goedart Palm
Wider
die Diktatur des Originals
Beglückwünscht
die Nachbarin die stolze Mutter: „Was für ein schönes Baby!“
Daraufhin strahlt die Mutter: „Ja und Sie sollten erst mal die Fotos
sehen“. Dieser Mini-Sketch könnte dem Werk „Raffinierte Kunst - Übung
vor Reproduktionen“ von Wolfgang Ullrich leitmotivisch vorangestellt
werden. Zugerechnet wird diese Mini-Epiphanie der Medienkritikerin Susan
Sontag. Tatsächlich stammt sie aber von Daniel J. Boorstin, der schon
1961 in "Das Image" postmodern vorwegnahm, dass wir die
"lebendigere Kopie'" dem Original vorziehen: „Der Schatten
ist die Substanz geworden.“ Wolfgang Ullrich, dessen Werk für den
Sachbuch-Preis der Leipziger Buchmesse 2010 nominiert war, fasst seinen
Anspruch dagegen so zusammen: „Da Reproduktionen mehr bieten können
als das, was reproduziert wird, sollen sie es auch tun.“ Auch wenn
Reproduktionen einschließlich der überquellenden Herrlichkeiten auf
unseren Festplatten zum alltäglichsten Stoff geworden sind, ist diese
Umwertung der Werte, diese Verkehrung der Rangordnungen immer noch eine
Provokation. Gelingt sie?
Die
Reproduktion im Zeitalter ihrer ästhetischen Überlegenheit
Längst
wird die Wahrnehmung aufdringlich, dass Künstler die Reproduktion dem
Original vorziehen, wenn sich nicht gar wie bei Jean Baudrillard das
ursprüngliche Verhältnis von Reproduktion und Original in der
Simulation auflöst. Ernst Fuchs mokierte sich über René Magrittes
Bilder, die er selbstredend als Lasurmalerei wahrnahm, bis ihn vor dem
Original der Schrecken einholte, dass es sich um plane al(la)
prima-Malerei handelte. Salvador Dali zog Reproduktionen seiner Bilder
den Originalen vor, was gerade im ersten Blick auf dessen
„fotografische“ Malweise zunächst als Paradox erscheint, während
schon der zweite Blick die härtere Kontur der Reproduktion belegt, die
dem Meister kritischer Paranoia – auch das eine verschärfte
Wahrnehmung - so angelegen schien. Vermutlich war ihm klar, dass die
Reproduktion keine ist, sondern in ihrem eigenen „disegno“ viel mehr
als das Original in seiner starren Geworfenheit zu leisten vermag.
Ullrich untersucht solche Phänomene unter dem Stichwort „Fotogenität“,
die wir längst als den beherrschenden Inszenierungsmodus der Welt der
wuchernden „Pseudo-Ereignisse“ kennen. Hier ist der Ort, wo Werk
oder Welt so wie Muttis eingangs vorgestellter Liebling erst zur wahren
Perfektion heranreifen. Fotografie hat einen ambivalenten Charakter,
plan und steril Wirklichkeit abzubilden, andererseits aber die
Wahrnehmung der Wirklichkeit neu, imaginativ und spannungsreich
anzuleiten. Immanuel Kant
sprach ausdrücklich von der reproduktiven Einbildungskraft, die
Vorstellungen nach Assoziationsregeln verbindet, ohne des Objekts
ansichtig sein zu müssen – also mehr ist als eine bloße Abbildung.
Lange vor Erfindung der Fotografie präsentiert sich die
Geschichte der Reproduktion bereits als ein kreatives Spannungsfeld der
Kunstwerkrezeption, die über den vordergründigen Zweck der Verbreitung
einer Bildes und/oder seiner Idee hinausreicht. Reproduktionen sind der
Ort einer brisanten ästhetischen Politik, die schnell von den Großmeistern
der Kunst und kongenialen Reproduktionshandwerkern, aber auch von den
neugierigen, bildungsbeflissenen und ebenso agitierbaren „Massen“
erkannt wird. So wie sich Kupferstecher der Idee und Form des Meisters
unterwerfen, um in der relativen Autonomie ihrer Technik eigene Konzepte
zu entwickeln, so schaffen Maler im Blick auf diese Verwertungsweise, um
hier zum ehesten den Anspruch einer „ars longa“ nebst dem persönlichen
Ruhm einzulösen.
Was
kann eine Reproduktion nach Wolfgang Ullrich leisten? Die Reproduktion
raffiniert das Bild, interpretiert das Original, überbietet es oder
verlässt es. Die Reproduktion setzt das fort, was das mitunter krude,
noch nicht „raffinierte“ Original beginnt und nun im weiteren
Verlauf der Idee erst zu einer, wie immer auch nur vorübergehenden
Vollendung strebt. Ullrich lässt sich nicht auf längere Diskurse über
Walter Benjamins Aura-These und andere Original- und Authentizitätskulte
ein, doch das ändert nichts daran, dass das vorliegende Werk einen fast
epochalen Blickrichtungswechsel auf den längst überfälligen Punkt
bringt. De- und Neukontextualisierung beschreibt das gegenwärtige
Museumsgeschäft und Ausstellungswesen, von wenigen Ausnahmen abgesehen.
Wir leben mit Reproduktionen und selbst Hardcore-Museums- und
Ausstellungsbesucher sehen sicher nur im geringsten Ausmaß die als
Reproduktion wahrgenommene Kunst im Original. Das ist nicht immer, aber
immer öfter ein Gewinn, wie wir jetzt in höchster Plausibilität von
Ullrich erfahren - und insgeheim schon immer zu denken wagten. Bereits
zuvor war es ein wichtiges Thema der Bildvermittlung, wenn Druckgrafiker
aus den gemalten Bildern das hervorhoben, was nun als „inventio“ der
Unterschied war, der wirklich auch im Schwarzweiß-Medium den
Unterschied machte. „Disegno“ heißt in Giorgio Vasaris Lesart auf
die konkrete Zeichnung und deren geistige Hervorbringung: Wer auf die
Zeichnung setzt, treibt das hervor, was anderenfalls in der Farbe, auch
wenn sie die Seele der Malerei sein will, diffus ist oder gar verfehlt
wird.
So
ist die Reproduktion eine eigene Kunst der Interpretation bis hin zum
Neuarrangement der Szene, wie es Ullrich an einigen spannenden –
Gottlob, im Buch reproduzierten - Beispielen deutlich macht. Maler und
Grafiker bildeten berühmte Paare und der Rang des Stechers konnte unter
Umständen sogar mit dem des Künstlers konkurrieren. Kupferstecher und
Radierer verfolgten so autonom wie dienend das diskursive Hauptgeschäft
der Darstellung. Die grafischen Netze imitierten beispielsweise in ihrem
Strukturreichtum Stoffe, die ohne den Schmelz der „peinture“ zwar
nicht darstellbar waren, aber gemalte Preziosität in die grafische
Logik preziöser Strukturen überführten. Diese Lust wird gegenwärtig
noch bei Zeichnungen von Robert Crumb durch die Sprödigkeit des
Materials hindurch gespürt, wenn ein Fan bekannte, die schattierenden
Netzwürfe des Underground-Zeichners, die jenen der Radierer ähneln, würden
ihn „high“ machen.
Haupt-
und Nebenwege zur antiplatonischen Wirklichkeit
Die
druckgrafische Arbeit war zudem oft so aufwändig, dass sie mehr Zeit in
Anspruch nahm als die Anfertigung des Originals. Mein lieber Freund und
Kupferstecher! Die Unverbrüchlichkeit kongenialer Beziehungen hat längst
nicht zu einem ausgeglichenen Verhältnis von Original und Kopie,
Vorwurf und Raffinement geführt. Ganz im Gegenteil wurden
Reproduktionen immer wieder beargwöhnt, das Original, das Authentische,
also platonisch formuliert: das Wahre zu verfehlen. Dabei ist Platon
zufolge schon das Original selbst ein Abklatsch der Wirklichkeit, die
zwingend in der Wahrnehmung verfehlt wird, sodass Bildwerke sich noch stärker
von der Sonne der Wahrheit entfernen als die wahrgenommenen Dinge. Der
Platonismus wider den Schein ist ein unausrottbarer Virus der
Wirklichkeitsbetrachtung. Selbst der kritische Günther Anders
unterliegt diesem platonischen Anspruch, wie uns die „Übung vor
Reproduktionen“ zeigt. Interessant sind die Ausführungen zu Adornos
„Theorie der musikalischen Reproduktion“, demnach die wahre
Reproduktion die
„Röntgenphotographie“
des Werkes sei. Letztlich landet diese Dialektik, die für die Musik das
stille imaginative und damit unsinnliche Lesen der Partitur gegenüber
dem Hörerlebnis anempfiehlt, dann doch wieder beim emphatischen,
alles überstrahlenden Originalwerk, das einem Lebewesen gleich und darüber
hinaus, existiert, seine Anschlussfähigkeiten verändert und letztlich
in seinen Bedeutungsschichten unerschöpflich sei. Die Kritik der
Kulturindustrie, so kritisch sie sich gerierte, vermag auch den je
eigenen Authentizitätsanspruch der Reproduktion, genauer: des technisch
avancierten Raffinements, nicht zu erkennen und opfert ihn der
mythischen Unergründlichkeit des unsterblichen Originals. Allerdings
hat Ullrich keine Hinweise gegeben, dass Walter Benjamin die
Reproduktion gerade nicht so desavouierte, wie es seine melancholische
Rede vom „Aura“-Verlust nahe legen mag. Jenseits der zahlreichen und
klug gewählten Beispiele Ullrichs bis hin zu Selbstvermarktern und
Reproduktionsgenies wie David Hockney gibt es in der Kunstgeschichte ein
reiches Material zum Wettstreit von Wirklichkeit und Abbildung, Ideal
und Wirklichkeit, Echtem und vermeintlich Unechtem. Max Ernst schreibt
in einem biografischen Text, dass sein Vater ein Bild des Gartens in Brühl
vollendet hatte und feststellte, dass er vergessen hatte, einen Ast zu
malen. Die Lösung für einen Nichtsurrealisten lag auf der Hand: Der
Vater holte die Säge und entfernte den Ast. Pech für die Wirklichkeit!
Darüber wird man zum Surrealisten, weil alles andere die Wirklichkeit
im Identitätsparadox des Abbildungswahns verfehlt.

© Goedart Palm
Geburtshaus
Max Ernst in Brühl
Oscar Wilde lässt
eine seiner Figuren über die realen Sonnenaufgänge spotten, weil sie
den Qualitäten der Turner´schen nicht standhielten („simply a
second-rate Turner, a Turner of a bad period, with all the painter´s
worst faults exaggerated and over-emphasised“). Bleibt
aber die Wirklichkeit hinter ihrer Abbildung zurück, sind wir hier
einem in der Geschichte des Abendlands verwaisten Prinzip auf der Spur.
Nicht das Erste, die erste Philosophie, der Ursprung, die Quelle, das
Original etc. sind rein, sondern sie könnten das noch Ungeklärte,
Krude und somit Raffinierungsbedürftige sein. Ullrich verweist kurz auf
die Spannung zwischen Platon und Nietzsche, die Heidegger in seinem
Nietzsche-Buch zu einer der bedeutendsten Gegenpositionen abendländischer
Wahrheitssuche entfaltete: Der Weg führt uns weg von der Wirklichkeit
der Idee und ihren vermeintlich blassen Abbildern hin zum einzig wahren
Schein, der den Terror der sinnlich nicht erfahrbaren Wahrheit vergessen
lässt.
Die
späte Moderne hat das Original bekanntlich vielfach abgeschafft und
Reproduktionstechniken eingesetzt, um durch Museen weltreisende
Kunstwerke an ihrem Ausgangsort zu fixieren, Kataloge wie breite
Armaturen über das Werk gelegt oder eben Poster und Postkarten als
Fetischersatz an das Publikum verteilt. Das Konzept eines Werks kennt
viele Ausführungen, während vornehmlich dem Markt die Fixierbarkeit
auf das einzige Objekt immer wieder angelegen sein wird, unter anderem
auch, weil es das lukrative Geschäft massenhafter Reproduktionen
nobilitiert. Künstler haben dieses Spiel profitorientierter „Methexis“
immer wieder – oft genug indes weniger erfolgreich – zu durchbrechen
versucht. Readymades sind keine Originale. Und mehr: Sie verhöhnen den
Anspruch auf Originale, auf Genialität und Einzigartigkeit. Insoweit
ist die Reproduktion, die sich gewöhnlich gibt, die vielleicht nur als
Abklatsch des hehren Originals gilt, zugleich dessen energischste
Kritik. Schlechte Abbildungen verfehlen mithin nicht einfach das
Original, sondern erklären den vorgeblich schlechten Schein zur höheren
Wahrheit, als sie das Kunstwerk mit Ewigkeitsanspruch je erreichen könnte.
Andy Warhol („Handmalerei ist Zeitverschwendung“, „Thirty Are
Better Than One“) wollte die Person des Künstlers hinter dem Werk
verschwinden lassen, was zwar scheinbar gesichtslose Werke zuließen,
nicht aber der Markt.
Wolfgang
Ullrichs Werk ist gegenüber zahlreichen begriffsstutzigen Spielereien
der Theorie im Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften ein selten
konzises, vorzüglich auf die These konzentriertes Buch, das –
hoffentlich auch im weiteren Verfolg des Themas durch Ullrich selbst –
eine Sichtweise emphatisch bestätigt, die wir zwar haben, aber die uns
oft genug unheimlich erschien. Darf man die Reproduktion besser, schöner,
gelungener empfinden als das Original? Wie oft standen wir im Museum,
etwa vor stumpfen Farben des „Magiers der Farbe“ Pierre Bonnard, die
in unserer zuvor gekauften Monografie so ganz anders und unverbraucht
leuchteten? Oft genug warnten besorgte Reiseleiter oder Kunstführer vor
dem Glanz der Reproduktion, die das „originale“ Erleben nur als
Abhub erscheinen ließ. Diese Erfahrung gibt es freilich zugleich in der
umgekehrten Version, wenn uns diffuse Schwarzweiß-Fotografien trauriger
Kataloge über den brillanten Status des Werks völlig im Unklaren ließen.
Zur glasverpanzerten „Mona Lisa“ konstatiert andererseits die
Direktorin der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, Christiane Lange:
„Bei diesem Bild ist es wirklich die Frage, ob man es überhaupt noch
unvoreingenommen betrachten kann, weil es hinter seinen Reproduktionen
fast völlig verschwunden ist.“ Auch unser Blick auf van Gogh, Matisse
oder Picasso wurden in zahllosen Reproduktionen mitunter so leer, wie
wir es gegenüber den Zumutungen der allfälligen Werbung gelernt haben.
Museen haben uns mit ihren vermeintlich direkten Ansichten indes auch
oft schmählich enttäuscht, sodass jenseits des Spiels von Zeigen und
Verbergen Marcel Duchamps fundamentaler Einwand zur Endlichkeit der
Malerei weiterhin plausibel ist: „Ich bin überzeugt davon, dass die
Malerei im Sterben liegt. Jedes Gemälde stirbt nach vierzig oder fünfzig
Jahren, weil es dann seine Frische eingebüßt hat.“ Jenseits der
Erfindungen der Restaurierung - die allerdings Duchamps Einwand nur
entkräften könnte, wenn auch Mentalitäten frisch blieben - könnte
gerade im Zeitalter virtueller Reproduzierbarkeit auch hier die
Reproduktion den Ewigkeitsanspruch vor dem Original reklamieren oder
wenigstens die Lebensdauer erheblich das Haltbarkeitsdatum ausdehnen.
Zur
Säkularisierung der Kunst nach der Originalästhetik
Der
Quasisakralität des Museumsbesuchs, der Hieratisierung genialer Kunst
ist auch der Beichtstuhl angemessen, vor dem Original versagt zu haben,
wenn wir hastig durchs Museum schlendern oder gar nur die
Devotionalienbildchen des Museumsshops kennen. Kontemplation heißt das
Ritual, während wir prosaisch den Katalog durchblättern. Das Original
lehrt uns: Du sollst keine Götter neben mir haben! Und diese
durchdringende Lehre wird gleichfalls in der Reklamewelt der Camouflage
propagiert, die uns auch in unzähligen Bildern das einzig wahre und schöne
Produkt verkauft, während es doch für den Massenkonsum entworfen
wurde. Wir litten schon je an der Zumutung des Monotheismus des einzig
wahren Bildes, der im Fall von Künstlerwerkstätten, die Meister- und
Schülerhände vermischten und seltsame Bankerts produzierten, oft genug
enttäuscht wurde.
Wolfgang
Ullrich exkulpiert unser schlechtes Gewissen, um nun aufrecht gegen den
längst obsoleten Kult des Originals und seiner Zwänge zu revoltieren.
Seine These richtet sich
zugleich gegen den Geniekult, der in den gegenwärtigen Inszenierungen
des Betriebs längst nicht ausgestanden ist, wenn Malerfürsten ihre
warenästhetische Einzigartigkeit reklamieren und selbst Figuren wie die
verstorbenen Andy Warhol und Joseph Beuys in sehr unterschiedlicher
Weise zwar mit Reproduktionen und Multiples den Kunstmarkt eindeckten,
doch sich selbst zum personalen Kunstereignis stilisierten, das ihre
Kunst durchstrahlen sollte. Zu den zentralen Antinomien des Betriebs gehört,
dass schon je das Genie und sein animistisches Resultat, etwa der
Fetisch der vom Künstler belebten Leinwand, nicht sakrosankte Geltung
beanspruchten. Bezeichnend über die Jahrhunderte sind die Beispiele
Ullrichs, dass die Originale in diversen Fällen keinen erhabenen Status
hatten, ja sogar weggeworfen wurden, um nicht die Idee oder „inventio“
zu überlagern. Es gibt konkrete kunstgeschichtliche Instrumente wie das
Claude-Glas, das erst die Landschaft kongenial zum Schöpfer verformte
und einfärbte, sodass auf Kavaliersreisen der Kunstfreund nicht auf die
schnöde Wirklichkeit alleine verwiesen wurde, sondern sich in einer
besseren, nachgefertigten Wirklichkeit ergehen konnte. Das ist übrigens
kein reiner Platonismus, der uns nun zurück auf die Idee wirft, sondern
ganz anders Wirklichkeit als eine multiple Palette der immer neu
arrangierten Seins- und Sehweisen darstellt. Diese Phänomenologie ästhetischer
Konkurrenzen beschreibt einen neuen Kosmos, der mit der simplen, von
einigen Kunsthistorikern gleichwohl inquisitorisch betriebenen Frage
nach dem Verhältnis von Original und Abbild um Lichtjahre hinter sich lässt.
Zusammengefasst wird dieses Plädoyer für den raffinierten Abstand vom
Original zu einem Plädoyer des Sehens. Das, was wirklich wichtig ist,
wird je vermittelt – und so wird die Vermittlung der Vermittlung etc.
nicht zu einer tendenziell unendlichen Entfernung von der Wirklichkeit,
sondern zu einer Zugangsweise, die erst den wahren Blick eröffnen könnte.
Ullrich wählt zu Recht den Begriff „raffiniert“, um sich nicht auf
die alte Diskussion von Sein und Schein, die Korrespondenz von
Wahrheitsaspekten einlassen zu müssen. Es geht jenseits der Frage, was
„aisthesis“ sowohl als ästhetische wie kognitive Kategorie zu
leisten vermag, um ein ästhetisches Phänomen, so wenig dessen
transgressive Eigenschaften ignoriert werden können.
Spannend
sind auch die Hinweise Ullrichs zur eigenen Zunft: Herman Grimm, seit
1873 erster ordentlicher Professor für Kunstgeschichte an der Berliner
Friedrich-Wilhelm-Universität, verband pädagogische und nationale
Intentionen zu einem multimedialen, Stimme und Bild synchronisierenden
Konzept, das er 1892 als „Die Umgestaltung der Universitätsvorlesungen
über Neuere Kunstgeschichte durch die Anwendung des Skioptikons“
vorstellte. Diese Technik dulde keinen „falschen Sein“, was Grimm
nicht nur als Zeit- sondern auch Geistesverwandten Friedrich Nietzsches
ausweist, weil er ebenso die platonische Kondition zum „wahren“
Schein qua Technik konvertiert. Grimm war so begeistert von dieser
Technik der illuminierten Vergrößerung in kontemplativer Dunkelheit,
dass erst hier die Kunstwerke lebendig wurden. Nebenbei besaß der
kunsthistorisierende Projektor auch die nationale Deutungsmacht, die Größenverhältnisse
im Meister- und Ländervergleich zu bestimmen und einen kleinen Dürer-Stich
zum wandfüllenden Opus gegenüber den italienischen Großwerken
„aufzublasen“.
Von
der Schöpfung zur raffinierten Re-Produktion
Das
von Wolfgang Ullrich inspirierend eingeleitete Thema der Umwertung einer
Rangordnung der Abbildungen lässt sich weiter verfolgen: Der
Entauratisierung folgt eine Reauratisierung der Reproduktion, die dem
Vorwurf des Originals gewachsen ist. Walter Benjamin reflektierte auf
das „Hier und Jetzt“ des Kunstwerks, was aber längst nicht das Verhältnis
von Originalen und Kopien festlegt, was Boris Groys auf eine griffige
Formel bringt: „Wenn der Unterschied zwischen Original und Kopie aber
ein ausschließlich topologischer ist, dann entscheidet allein die
topologisch definierte Bewegung des Betrachters über diese
Unterscheidung. Wenn man sich zu einem Kunstwerk begibt, ist es ein
Original. Wenn man das Kunstwerk hingegen zwingt, zu einem zu kommen —
dann ist es eine Kopie.“ Mit avancierten Technologien geht die
Neu-Kontextualisierung der flüchtigen Welt und ihrer Originale indes
weit über einfache Bewegungen hinaus. Wir erwarten von Raum und Zeit
emanzipierte Virtualisierungen, die sich in nichts von der Wirklichkeit
unterscheiden, mit der Ausnahme, dass nicht länger nach göttlichen
Provenienzen zu fahnden wäre. Den Vorschein dieser Welt beobachten wir
etwa in Googles „High-resolution-masterpieces“ aus dem Prado
(http://www.museodelprado.es/en/the-collection/sueltas/masterpieces-of-the-prado-museum-with-google-earth/),
die kunstvoll reproduzierte Näheansichten gewähren, die uns als
Museumsbesucher im „direkten“ Kontakt vor dem Bild verschlossen
blieben. Albrecht Dürers Selbstporträt von 1498 kann bis in die
Lasuren hinein verfolgt werden, also über jene Sichtbarkeitsgrenze
hinaus, die sonst den allfälligen Museumsalarm auslöst.
Reproduktion
kann zur Wiederauferstehung der Geschichte, ihrer reproduktiven
Aufbereitung und Überbietung in diesem umfassendsten Sinne werden, wie
es der gegenwärtige virtuelle Vorschein der imaginativen Reproduktion
verheißt. Die Kunstgeschichte wird dann selbst zur reflexiven
Reproduktion ihrer eigenen Geschichte, was die Geschichte vergänglicher
Originale und unzulänglicher Reproduktionen in eine Reproduktivität
aufhebt, die uns zur Frische des Anfangs zurückführt oder den
Fortschritt als autonomen Umgang mit den so behäbigen, absterbenden
Originalen begreift. Zu verfolgen sind auch die Erkenntnisse der
Rezeptionsästhetik und der Phänomenologie, die uns in tausendundeins
Perspektiven verstricken, um doch nur diese eine Wahrheit zu erzählen:
Es gibt keine exklusive Wahrnehmung von Originalen. Ob nun im Louvre vor
dem Original oder später am Abend im Hotelzimmer vor der Kopie, ob das
Licht so oder anders geführt wird, ob dieser oder jener
Betrachtungsabstand gewählt wird, immer nur gibt es Vermittlungen, die
ihren je eigenen Charakter nicht gegenüber dem nicht anwesenden
Original einbüßen. Der ganze bisherige Diskurs über unsere „unio
mystica“ mit dem Original war vorschnell, weil er sich über die
eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten täuschen ließ. Hier entsteht ein
weites Feld für die virtuelle Malerei,
die diesen Prozess unendlich und unabsehbar weiterführt. Der digitale
Maler Florian Schneider hat „painting without paint“ vorgestellt,
ein Malkonzept, das sich aus dem riesigen Reservoir guter wie schlechter
Reproduktionen historischer Malerei bedient. Unter digitalen Bedingungen
stirbt das Original hier seinen zweiten Tod, um frischer wieder
aufzuerstehen. Von der - mitunter schlechten – Reproduktion, die das
Internet spendet, führt der Weg zu einer inspirierten Reproduktion, die
als vorläufiges Original gelten kann, um wieder in einer Reproduktion
fortgeführt zu werden, ad infinitum. Bildgewebe wuchern auf der
Festplatte, dem neuen Bildträger im emphatischen Sinne, einer
virtuellen Landschaft mit vielfältigen Kreuzungen, Haupt- wie
Nebenwegen, die jederzeit umkehrbar sind. Hier geht es um eine
sequentielle Topografie des Bildprozesses, die eine besondere Selektivität
des Künstlers notwendig macht, ohne die Frage nach dem Original überhaupt
noch plausibel erscheinen zu lassen.

© Goedart Palm
Wir
beobachten mithin einen Paradigmenwechsel, der das angestammte Verhältnis
von Original und Kopie medialen Um- und Neubewertungen unterzieht bis
hin zur Liquidation dieses alten Rangverhältnisses, das aber schon
immer mehr eine idealisierte Prärogation war, als sie den tatsächlichen
medialen Standards der Welterschließung entsprach. Denn seit dem 15.
Jahrhundert ist die Reproduktion das beherrschende Medium der
Wahrnehmung von abwesenden Dingen. Im kognitiv und wahrnehmungstechnisch
aufwändigen Bereich des Lesens hat die Reproduktion in mehr oder
weniger raffinierter Form (Stichwort: Vom Manuskript über den
bibliophilen Fetisch zum Taschenbuch) eine Selbstverständlichkeit
erlangt, die jede Lektüreerfahrung bestimmt. Doch selbst hier gibt es
auch einen kuriosen Primat der Reproduktion: Der berühmt-berüchtigte
„Reader’s Digest“ steht exemplarisch für eine wenig bekannte
Verkehrung des Verhältnisses von Original und Reproduktion. Die
Zusammenfassung von Artikeln in ein bekömmliches Format für den übersättigten
Leser führte zu dem Punkt, dass Originalartikel lediglich noch verfasst
wurden, um ihre „digestive“ Zusammenfassung zu ermöglichen. D.h.
das Original wurde lediglich prätendiert, um dem Gesetz der
Reproduktion zu folgen. Wolfgang Ullrich nennt diverse Künstler, die
selbst dem Reiz der Reproduktion verfallen sind und statt neuer
Originale nun raffinierte Reproduktionen schaffen wollten. Bei Medardo
Rossos fotografischen Reproduktionen eigener Skulpturen belegen das
Raffinement jene, die anstelle des Abbilds eigenwertige Lichtzeichnungen
kreieren, die sublim werden lassen, was zuvor haptisch war.
Heute
durchdringt Reproduktivität zahlreiche Lebensbereiche als ein
imperialer Modus, der bessere und eindringlichere Wahrnehmungen eröffnet,
als sie zur Zeit Johann Gutenbergs zu erträumen gewesen wären. Wenn
wir unsere alltäglichen Arbeitsabläufe, den ubiquitären Nachbau von
(künstlichen) Welten oder die unabsehbaren Verheißungen der
Gentechnologie betrachten, geht das weit über kunstwissenschaftliche Erörterungen
oder gar Idiosynkrasien der Abbildlichkeit hinaus. Unsere „copy and
paste“-Mentalität beschreibt ein neues Bewusstsein, dass die Welt in
vielen Lebensbereichen und mit vielen Techniken kopiert und/oder
„raffiniert“ werden kann. Wenn Samenzellen für die bessere Zukunft
unseres Klons eingelagert werden, geht es um die Reproduktion der
Existenz, ja mehr: die reproduktive Entsorgung des Schicksals. Christoph Rehmann-Sutter geht in seiner Betrachtung zum „Human cloning“
soweit, die „Kopiermetapher“ für „ein deutliches Indiz für
einen in der Gesellschaft bewusst oder unbewusst geteilten
Genommythos“ zu halten, in dem das Genom die Position einnimmt, „die
früher der Seele zugeschrieben wurde.“ „Seele“ und „Original“
sind zwei alte Authentizitätszeichen Alteuropas, die wir vormals für
unhintergehbar hielten, um unsere eigene Welthaltigkeit unter Beweis zu
stellen. Von deren Liquidation ist es nur noch ein kleiner Schritt, um
zu vermuten: Wenn es noch zulässig wäre, von einem Wesen zu sprechen,
hätte die Reproduktivität die besten Aussichten, als das Wesen unserer
Spätmoderne respektive virtuellen Frühzeit zu gelten.
Epilog
Der
Schutzheilige dieses Programms reproduktiver Weltwahrnehmung ist William
„D-Fens“ Foster (Michael Douglas) in dem Film „Falling down“: In
einem Schnellrestaurant wird dem mit der Uzi bewaffneten „D-Fens“
ein unappetitlicher Original-Burger kredenzt (Weitere Beispiele hier:
http://www.pundo3000.com/werbunggegenrealitaet3000.htm). Der erregte Mr.
Foster hält ihn wie eine faule Oblate nach oben und verweist auf die
geschmacksintensiven, saftig fotografierten Repro-Burger und stellt die
rhetorische Frage: "Kann mir jemand sagen, was an dem Bild nicht
stimmt?" Übersetzt heißt das: „Nur der Schein ist wirklich
rein“ (Annette Humpe, Ideal) – und lecker? Nein, keineswegs! Dieser
gläubige Konsument nimmt nicht wahr, dass gerade die dem Repro-Burger
zugrundeliegende Appetit-Konstruktion nicht als Nahrungsmittel existent
ist. Die zarteste Versuchung, seit es Lebensmittelfotos gibt, wird von
Food-Stylisten aus Plaste und Elaste, Lack und Gelatine gefertigt, um
anschließen von Fotofake-Spezialisten zur perfektesten Leckerei
raffiniert zu werden. Raffiniert ist das, nur eben nicht genießbar, Mr.
Foster…
Goedart
Palm
Wolfgang
Ullrich: „Raffinierte Kunst“. Übung vor Reproduktionen. Wagenbach
Verlag, Berlin 2009. 156 S., 64 Farb- u. S/W-Abb., geb., 22,90 €.
Lektüretipp:
Boorstin, Daniel J.; Das Image oder Was wurde aus dem
Amerikanischen Traum?, Rowohlt, 1964 (Original 1961).
Hinweis:
Die Abbildungen stammen nicht aus dem Buch von Wolfgang Ullrich.
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