1. Wem Gott will rechte Gunst erweisen...
Online-Leben pendelt eigenartig zwischen
Behaglichkeit und Unbehaglichkeit hin und her, ist so gefährlich ungefährlich, weil es
erstens keine sensomotorischen Verbindungen zwischen den Teilnehmern gibt und zweitens
komplette Wahrnehmungsfelder fehlen, wie wir sie bei unseren sonstigen Bewegungen in der
Welt aufbauen. Netzkommunikationen lassen immer nur die Konstruktion eines
fragmentarischen Gegenübers zu. Weder lacht noch weint das Gegenüber, ja spricht nicht
einmal nur Symbole wie die Schrift und etwa allgegenwärtige emoticons
konturieren bedingt den Anderen. Das
widerspricht unserer typischen (Körper)Erfahrung im sozialen Kontakt. Missverständnisse
zwischen fragmentarischen Personen treten auf Grund solcher Mängel der
Wirklichkeitsbekräftigung natürlich in viel höherem Maße auf als in einer
Wahrnehmungstotalität, in der wir aufgewachsen sind, in der wir gelernt haben, das
Gegenüber in vielen Eigenschaften seiner Leiblichkeit einzuschätzen und vor allem:
erfahren haben, mit Störungen unserer Verhaltenserwartungen umzugehen. Diese Begrenzungen
der Selbst- und Fremderfahrung gelten cum grano salis zwar auch für Telekommunikationen
anderer Art, aber solche sinnlich begrenzten Medien wie etwa das Telefon
geben nicht vor, die reale Welt zu verlassen oder gar eine, wenn auch unvollkommene
Alternativwelt zu erzeugen. Wir haben beim Telefonieren nie das Gefühl, uns engelsgleich
im freien Äther zu bewegen, sondern bleiben unserem physikalischen Aufenthaltsort
verhaftet. Erst im Netz entsteht das unvollkommene Fantasma des Bewegungsgefühls und die
Netzsemantik ordnet dem folgerichtig fortwährend Begrifflichkeiten zu, die auf
Aufenthalt, Örter, Bewegung, Körper, ja Existenz schließen lassen.
Wenn es richtig ist, dass die ersten
Lebensjahre die Fundamente der Erfahrungswelt legen, hängen alle weiteren Konstruktionen
von diesen Grundlagen ab. Wie bei einer Architektur lassen sich diese Fundamente nicht
einfach umbauen oder ersetzen. Wenn Assimilation darin besteht, neue (Bau)Materialien als
Wiederholung von etwas Bekannten zu begreifen, wird dieses Programm prekär, wenn eine
andere Erfahrungswelt neuen Regeln folgt. Wenn Material nicht mit den zu Grunde liegenden
Begriffen kompatibel ist, sind zunächst keine neuen Erkenntnisse möglich. Nun lernt das
Subjekt aber fortwährend mit Überraschungen und Enttäuschungen seiner Erwartungshaltung
umzugehen und sein Verhaltensvokabular zu erweitern. Es passt sich an, es entstehen neue
Erfahrungs- und Erkenntnismuster, die andere Handlungen möglich werden lassen. Organismen
kämpfen im "wirklichen Leben" um die Herstellung und Erhaltung ihres
Gleichgewichts. So entstehen Regelmäßigkeiten, auf die man sich in der Folge verlassen
kann, ohne jede Situation oder sein Gegenüber neu bewerten zu müssen.
Verhaltenserwartungen werden mit zunehmendem Lebensalter daher immer häufiger bestätigt.
Ohne relative Informationsarmut wäre diese Welt dagegen nicht aushaltbar, weil wir uns in
einer permanenten Kleinkindsituation befänden, ohne noch länger auf elterliche
Korrektive vertrauen zu können.
Fraglos kann mit aus der Erfahrung
gewonnenen Begriffen abstraktere Ebenen erreichen, die nicht mehr an wahrgenommene
Gegenständen in einem Raum-Zeit-Kontinuum gebunden scheinen. Solche Abstraktionen lösen
sich von "tatsächlich begreifbaren" Gegenstandswelten, ordnen Zeit- und
Raumerfahrungen zu neuen Mustern. Jedes Bewusstsein strebt tendenziell dahin, eine
"Hyperlink-Struktur" zu entwickeln, die immer neue Verknüpfungen möglich
werden lässt. Gleichwohl gründen aber auch solche Abstraktionen mehr oder weniger stark
in der sensomotorischen Grunderfahrung, die die Wirklichkeit des Bewusstseins bestimmt. So
kann man sich etwa ein Einhorn vorstellen, das keine Repräsentation eines existenten
Objekts ist, aber Eigenschaften hat, die sich beispielsweise aus der Erfahrung eines
Pferdes, eines Tierhorns etc. ableiten lassen.
Im Bereich des reflektierenden Denkens
werden solche Rückführungen auf frühe Erfahrungen selbstverständlich immer schwächer,
Begriffe beziehen sich auf andere Begriffe, Reflexionen auf andere Reflexionen etc. Auch
symbolische Erfahrungsgehalte eröffnen aber zahlreiche Operationsmöglichkeiten. Ernst
von Glasersfeld nennt eine Romanlektüre als Beispiel dafür, wie ein
Wirklichkeitsausschnitt hergestellt wird (Spaziergang in Paris), der später in der Welt
des tatsächlichen Erlebens als Karte eingesetzt werden kann. Solche Orientierungsgewinne
lösen immense Befriedigung aus, weil sie sich am Prüfstein der Wirklichkeit bewähren.
Je weiterreichend sich aber Abstraktionen
von ihren lebensweltlichen Erfahrungsursprüngen entfernen, umso ungesicherter werden
Aussagen über diese abgeleiteten Welten. In den Auseinandersetzungen vieler Teilnehmer
über reflexive Gehalte entstehen tiefe Gräben, Verwirrungen und Beliebigkeiten. Die
Geschichte der Metaphysik als die Geschichte einer virtuellen Welt vor ihrer
technologischen Produzierbarkeit präsentiert etwa zahllose, folgenreiche Beispiele für
die Unmöglichkeit, Einigkeit über "Gott und den Rest der Welträtsel" zu
erzielen. Nun wird heute nicht mehr jede Häresie zwangsläufig mit dem Scheiterhaufen
bestraft, aber gesellschaftlich nicht kompatible Gedanken führen auch heute zu ihrer
Ausgrenzung. Wir laufen gegen soziale Mauern, an denen sich der Verstand mindestens
imaginäre Beulen holt. Aber selbst die Einigkeit über reflexive Gehalte ist eine fragile
Selbsterfahrung, weil dieser Konsens nicht an überwindbaren Hindernissen geprüft werden
kann. So glauben zwei, dasselbe zu denken, aber treffen sich doch nur im folgenlosen
Begriff, ohne je die Wirklichkeit des Anderen zu erfahren. Die Viabilität solcher
Erfahrung ist mithin relativ offen und deren praktische Wahrheitsfähigkeit wird nicht
zuletzt von sozialer Anerkennung bestimmt.
2. Abgenetzte Erfahrung
Im Gegensatz zur Informationsarmut der
wirklichen Wirklichkeit fehlen im Netz ausreichende Sicherungen gegen
"In-Formationen". In dieser Wirklichkeit können wir uns nicht länger auf die
relative Unveränderlichkeit der uns umgebenden virtuellen Topografien verlassen.
Übertragen auf "real
world"
wäre das etwa so, als ob meine innere Karte von Orten, Menschen, Verhaltensweisen,
eigenen Möglichkeiten am nächsten Tag nur noch höchst bedingt gilt: Vielleicht gibt es
die Haupt- und Nebenwege nicht mehr, auf denen ich gestern noch sicher gewandelt bin.
Vielleicht ist mein "Nachbar" bereits aus dieser Welt verschwunden: "file
not found".
Auch wenn das Netz im Gegenzug zum
Informationsrausch Orientierungen in großem Ausmaß gewährt (Fahrpläne, Börsenkurse,
Kaufoptionen, Gebrauchsanweisungen etc.), ja gerade als globales Megaorientierungssystem
eingeführt worden ist, laufen die individuellen Karten ständig der Topografie nach. Im
Abbildungssystem des Subjekts (Unterworfenen) einer virtuellen Welt herrscht
fortwährender Aufruhr. Dagegen schützt man sich durch den Einbau diverser Sicherheiten
(Konservatives Surfverhalten, Bookmarks, Suchmaschinen, Mailing-Listen etc.), die eine
relative Orientierung ermöglichen sollen. Es gibt eine Studie über die Konservativität
von surfern, die eben nicht zu neuen Ufern aufbrechen, sondern nur "ihre"
Plätze aufsuchen, um Übersicht in der neuen Unübersichtlichkeit zu bewahren. Solche
individuellen Sicherungen sind Gegenbewegungen, die aber nicht mit der Entwicklungsdynamik
des Netzes Schritt halten. So werden neue Erfahrungen, die ja zahllos möglich wären,
gerade nicht gemacht, weil das Subjekt seine Form bewahren will. Antiquierungen des
Weltverhältnisses sind die Folge.
In der sensomotorischen Armut der
Netzbewegung, in der Beschränkung der Wahrnehmungsmöglichkeiten sucht das
"Ich" gleichwohl wie immer eine umfassende Bestätigung seines
"In-der-Welt-Seins" das gilt sowohl für die Rückschlüsse auf seine
Ausgangswelt als auch für seine virtuelle Wirklichkeit. Das löst zumindest dann
Unbehagen aus, wenn sich kein Erfolg einstellt, der sich an den überwundenen Hindernissen
der Bewegung messen lässt. Im Netz stößt die Frage nach der Erfolgseignung des Handelns
auf virtuelle Bedingungen. Auch wenn dieser Begriff längst nicht ausgelotet ist, reicht
als Annäherung die Antwort, dass Virtualität nichts anderes ist als eine veränderbare
Wirklichkeit, die uns einflüstert, so oder auch ganz anders sein zu können. Das ach so
freie Netzsubjekt spürt in seinen virtuellen Bewegungen nicht mehr den Gegenwind, der ihm
in seiner vorgängigen Wirklichkeit allenthalben ins Gesicht bläst.
Störungen, Perturbationen im Netz lassen
sich dementsprechend anders verarbeiten, als es je in einer "vollständigen
Umwelt" möglich wäre. Es ist ungefähr so, als ob man in einem (autistischen?)
Bewusstsein spazierte, das glaubt, sich von Anpassungsnotwendigkeiten an seine Umwelt frei
machen zu können. Löst sich Wahrheit (als die Organisation der Wirklichkeit) davon ab,
dass sie überhaupt noch herstellbar ist? Auch in der Virtualität wird eine Wirklichkeit
organisiert, aber Szenarien und Figuren, die sich im Sinne ihrer Viabilität als schlecht
gewählt erweisen, können ersatzlos ausradiert werden. So kann ich zwar auch in meinem
Vorgarten einen Baum fällen, der meine Aussicht stört, aber zugleich muss ich eine
Entscheidung treffen, wie ich ihn entsorge. Vielleicht ist diese
"Wirklichkeitsbearbeitung" deshalb besser ins nächste Frühjahr zu verschieben.
Im Netz können Welt und Welten dagegen ersatzlos verschwinden: Delete! Die Wirklichkeit
hört auf zu existieren.
So gibt es zwar wechselseitige
Wirklichkeitsbedingungen von realen und virtuellen Szenarien, aber im Netz können Themen
nicht nur "offtopic" gestellt werden, im schlimmsten Fall verabschiedet sich
Mensch wieder aus dem virtuellen Leben: "offline!" Dann klappt die Netzwelt weg
wie ein Traum, aus dem man vielleicht schweißgebadet, aber immerhin gerettet aufwacht.
Gnädig hört die soziale Umwelt des Netzes per mouseclick auf zu existieren. Es gibt
Dich, mich und uns nicht mehr. Diese Art der Selbst- und Fremdvernichtung ist
paradoxerweise sehr praktisch im Sinne einer Selbsterhaltung. Zugleich verleiht es eine
nie zuvor gespürte Macht, weil das reale Leben in viel geringerem Maße solche Fluchten
ermöglicht und zuletzt ohnehin jeden einholt.
Aber der Wanderer zwischen den Welten
löst damit noch lange nicht das Problem, beide Erfahrungstypen kurz zu schließen. Seine
Bewegungen sind nicht länger kompatibel, sodass sich Reizzustände sowohl im Offline- wie
im Online-Leben einstellen. Die angeblich grassierende Netzsucht als Form neuer
Abhängigkeit ist nichts anderes als die Unwilligkeit, zu den Widrigkeiten einer
plump-kompakten Umwelt zurück zu kehren. Aber diese Sucht wie jede andere auch
lässt sich schon deshalb nicht befriedigen, weil der Körper im Gegenzug unwillig
auf die so unerträglich-erträgliche Leichtigkeit des "Im-Netz-Seins" reagiert.
So werden wir zu Pendelexistenzen, die weder hier noch dort reklamieren können, zu Hause
zu sein. Ein Bewusstsein muss in einer solchen Erfahrungswelt ambivalent werden, weil es
die Bedingungen seiner Weltkonstruktion je verschieden erlebt.
Nicht die geringste Ironie der
Netzexistenzen ist daher die selbst gezimmerte Heimstatt, die Homepage, die alles andere
als ein Schutz gewährendes Zuhause ist. Dieses Zuhause kann weder als eine
Re-Präsentation des Heims gelten noch gewährt es virtuellen Existenzen eine
Rückzugsposition in den Untiefen der Netzbewegung. Von der vormals beklagten
Unwirtlichkeit unserer Städte führt ein gerader Weg in die Unwirtlichkeit von
Megalopolis. Heim- und Heimatlosigkeit trifft jeden Online-Bürger und so entstehen
zwangsläufig "communities", Gemeinschaften, deren Mitglieder sich wechselseitig
Wärme spenden. Selbst "E-Commerce-Unternehmen" wollen ihre Käufer, User,
Unterworfene zusammen schließen, während es zuvor doch nur darum ging, eine mehr oder
weniger exklusive Warenbeziehung herzustellen. Der digitale Kommunitarismus garantiert
aber keine globale Dörflichkeit, sondern eine Globalität, die auch die vermeintliche
Weltgesellschaft wieder in Gruppen und Herden sammelt, um so lange digitale Stallwärme
herzustellen, bis der penetrante Geruch uns in die nächste "Community" treibt.
Way out? Paul Watzlawick hat auf den Spruch Karl Kraus´ hingewiesen, der für sich
feststellte, dass wenn er zwischen zwei Übeln zu wählen habe, er keines der beiden
wählt (Watzlawick, Münchhausens Zopf, Bern 1988, S. 153). Den Ausweg, den die Sprache so
leichtfertig aus dem Dilemma der Entscheidung bietet, finden wir in Wirklichkeiten, weder
in realen noch virtuellen, nicht. Aber wenn wir erst die Vorstellung aufgeben, es gäbe
überhaupt eine harmonische Kondition, die das Subjekt mit seinen Welten versöhnt
ja dann haben wir immerhin eine vorläufige Kondition gefunden, die eben gegenwärtig die
höchste Erträglichkeit bietet, die es nun mal zu finden gibt
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