Als philosophische Hintertreppe in das Haus
der Erkenntnis gilt die Biographie des Philosophen. Wenn zuvörderst nicht
das Denken nachvollzogen wird, sondern die Lebensgeschichte, die es prägte,
ist der Ertrag solcher Bemühungen oft zweifelhaft. Kants philosophische
Feinmechanik spiegelte sich in der kategorischen Präzision seines
Uhrwerklebens, das seine Mitbürger angeblich veranlasste, ihre Uhren am
Zeitpunkt seiner Spaziergänge zu orientieren. Ob in solchen
biographischen Momenten die transzendentale Idealität der Zeit eine
Erkenntnisgrundierung findet, kann wohl mit einigem Anspruch bezweifelt
werden. Rousseau, der eine humane Pädagogik predigte und seine Kinder im
Armenhaus verwaisen ließ, kann als besonders unrühmliches Beispiel für
die schizoide Spaltung von Lehre und Leben herangezogen werden. So ist die
philosophische Hintertreppe wohl oft eher ein Dienstboteneingang, der
nicht in das Boudouir der Philosophie führt, sondern in Kolportageküchen,
die schlecht gefegt sind.
Die von Ray Monk vorgelegte enzyklopädische Biographie
über die wilde Lebensgeschichte des österreichischen (Anti)Philosophen
Ludwig Wittgenstein ist daran zu messen, inwieweit es ihm gelungen ist,
die Verschränkung von Leben und Werk zum besseren Verständnis einer nach
wie vor in großen Teilen enigmatischen Philosophie aufzuzeigen. Die
Notwendigkeit, den Zusammenhang zwischen seiner Philosophie und seinem
Leben zu begreifen, hat Wittgenstein in einem Brief an Bertrand Russell
selbst artikuliert: "Vielleicht glaubt´s Du, dass es
Zeitverschwendung sei, über mich selbst nachzudenken; aber wie kann ich
Logiker sein, wenn ich noch nicht Mensch bin! Vor allem muss ich mit mir
selbst in's Reine kommen!" Monk zeichnet Wittgensteins schroffes
Charisma im anekdotenreichen Wechsel zwischen universitärer Hermetik,
Zivilisationsflucht auf der Suche nach Ursprünglichkeit und
halsbrecherischen Gratwanderungen zwischen Logik und Mystik: "Das Ich
tritt in die Philosophie dadurch ein, dass die "Welt meine Welt
ist". Am 18.0ktober 1911 platzt Wittgenstein buchstäblich in die
Philosophiegeschichte des 20.Jahrhunderts hinein, als er als
Zweiundzwanzigjähriger in Cambridge sich Bertrand Russell als deutscher
Ingenieur mit philosophischen Leidenschaften vorstellt. Innerhalb weniger
Monate rückt Russell von seinem ersten Eindruck "Mein Deutscher
droht eine wahre Plage zu werden ... Er wollte nicht zugeben, dass gewiss
kein Rhinozeros im Zimmer sei..." ab und konstatiert:
"Wittgenstein ist ein großes Ereignis in meinem Leben."
In der Folge profiliert sich Wittgenstein als zorniger
junger Philosoph, dominant, unbequem, rechthaberisch und von logischen
Problemen mehr geschüttelt als sie traktierend. Monk schönt den
Philosophen nicht. Politisch wäre er als Reaktionär, menschlich als
Misanthrop zu schildern. Als sich Russell in den zwanziger Jahren für
einen "Weltbund für Frieden und Freiheit" interessiert,
beschimpft ihn Wittgenstein und bestätigt Russell auf dessen polemische
Replik hin, dass er eher noch einen "Weltbund für Krieg und
Knechtschaft" gründen würde. Das Frauenwahlrecht lehnt er ab, weil
"alle Frauen, die er kenne, solche Idiotinnen seien".
Wittgenstein, der in seiner ersten Zeit in Cambridge nur noch die Logik
als Domäne erkennt, befürchtet, verrückt an diesen Problemen zu werden.
Aber nicht die Abwechslung, sondern die völlige Konzentration auf sein
Thema hält er für die richtige Gangart seines Geistes. So lässt er sich
von Dr. Rogers hypnotisieren, um außerordentliche Geisteskräfte zu
entwickeln. In diesem Zustand soll ihm Rogers bestimmte Fragen zu
logischen Problemen stellen, aber diese Praxis funktioniert nicht.
Vom Schüler rückt er zum Lehrer Russells in Sachen
Logik heran. Die Suggestionswirkung Wittgensteins, seine nahezu
diabolische Fähigkeit, Fundamente zu untergraben, dokumentiert sich in
Russells Aufzeichnungen zu seiner eigenen Urteilstheorie. Wittgenstein
artikuliert eine undeutliche Kritik, die darauf hinausläuft, dass alles
unhaltbar sei, was Russell geschrieben habe. Russell spürt es bis in die
Knochen, dass Wittgenstein recht habe, aber er weiß nicht, was es ist,
nur, seine Lust am Schreiben hat er verloren. Russell gerät in eine
selbstmörderische Depression - der Meister ist einen Moment zu nahe an
das Licht gerückt - und dieses Licht heißt Wittgenstein. Und dessen
Selbstbewusstsein war alles andere als schwach: "Dagegen scheint mir
die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv. Ich
bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu
haben.
Wittgensteins zentrales philosophisches Arbeitsergebnis
der frühen Jahre ist der 1918 abgeschlossene "tractatus logico
philosophicus", der unter großen persönlichen Mühen dank
Interventionen Russells 1921 erstmals publiziert wird. In der vielen
Deutungsweisen offenen Sprachphilosophie des Tractatus wird die Existenz
von prälogischen Elementarsätzen behauptet, die unmittelbar die
Wirklichkeit abbilden. Radikal ist darin das Verdikt Wittgensteins gegenüber
unsinnigen Sätzen, die dann entstehen, wenn etwa in der Logik, Ethik oder
Ästhetik versucht wird, etwas zu sagen, was nur gezeigt werden kann. So
beinhaltet der berühmte Schlusssatz des Tractatus "Wovon man nicht
sprechen kann, darüber muss man schweigen" eine Absage an die Prätentionen
der klassischen Philosophie über der Sprache verschlossene Sachverhalte
zu reden.
Wittgenstein steht nicht die mozarteske Leichtigkeit des
Genies zur Seite, das in olympischer Heiterkeit nicht nach Lösungen
sucht, sondern sie findet. Zwar mögen aphoristisch beschwingte Sentenzen
wie "A serious und good philosophical work could be written and would
consist entirely of jokes" dem Leser mitunter einen "tractatus
logico humoristicus" mit dem Motto "Wovon man nicht reden kann,
darüber kann man lachen" nahelegen. Seine philosophischen Tagebücher
schildern dagegen keinen leichtfüßigen "homo ludens" der
Sprachspiele, sondern einen Denker, der mit der Philosophie wie Laokoon
mit der Schlange ringt (K.T.Fann in seiner lesenswerten Kurzdarstellung
"Die Philosophie Ludwig Wittgensteins", München 1971). Immer
wieder lebt Wittgenstein in Zuständen der Dumpfheit, ja in akuter
Todesangst, die ihn bewegt, Russell das Versprechen abzunehmen, seine
Arbeit der Nachwelt zu erhalten. So wie sein philosophisches Werk von Brüchen,
Wechseln und Verrücktheiten lebt, ist auch seine vita amorosa von
unerwiderten Lieben, platonischen Beziehungen und bisexuellen Abenteuern
geschüttelt.
Genie ist das, was uns das Talent des Meisters vergessen
macht. Ein grotesker Treppenwitz der Philosophiegeschichte ereignet sich
1914, als Wittgensteins "Logik" nicht als Magisterarbeit an
genommen wird, weil sie wegen eines fehlenden Vorworts und fehlender
Quellennachweise nicht der Prüfungsordnung entspricht. Wittgenstein
explodiert gegenüber G.E. Moore: "Wenn ich's nicht wert bin, dass
Sie auch nur in dummen Einzelheiten eine Ausnahme für mich machen, dann
kann ich genau so gut gleich zur Hölle fahren; und wenn ich es doch wert
bin, und Sie tun's dann nicht bei Gott, dann können Sie
hinfahren."1919 nach der Befreiung als Soldat in italienischer
Gefangenschaft und dem Tod seines Vaters, eines der reichsten
"Kohle-Juden" (Max von Esterle) Österreichs, der unter anderem
als Mäzen Gustav Klimts hervorgetreten war, unterstützt Ludwig
Wittgenstein Ludwig von Ficker, Rainer Maria Rilke, Georg Trakl, Oskar
Kokoschka, Else Lasker Schüler, Adolf Loos, Theodor Däubler und andere.
Der Expressionist Albert Ehrenstein schickt Wittgenstein als Dank
zwei seiner Werke. Wittgenstein bedankt sich auf seine eigene Art:
"Ein Hundedreck, wenn ich mich nicht irre."
Die Erbschaft auf seinen Vater macht Wittgenstein zu
einem der reichsten Männer Europas. Welches Motiv trieb ihn dazu,
"finanziellen Selbstmord" zu begehen, als er sein gesamtes Vermögen
seine Schwestern Helene und Hermine sowie auf seinen Bruder Paul überträgt,
um kurze Zeit später Fabrikarbeit als Erwerbsquelle in seine Erwägungen
ziehen? Ist es die Selbständigkeit gegenüber dem Vater, dessen übermächtige
Figur seine drei älteren Brüder in den Selbstmord getrieben hatte, oder
die Notwendigkeit, praktische Erfahrungshorizonte zu sichern? Diese
existenzielle Entscheidung sollte ihn in der Folge seines Lebens noch oft
einholen. Als er später wieder in Cambridge weilt, sind seine Studien
zeitweise gefährdet, weil er nicht einmal das Geld hat, die Studiengebühren
zu bezahlen! Nach dieser folgenschweren Entscheidung lässt er sich im
Anschluss an eine Volksschullehrerausbildung als Lehrer in dem Dorf
Trattenbach nieder. Wie kurios ihm selbst diese Existenz erschienen ist,
geht aus einer brieflichen Bemerkung an den in Peking als Gastprofessor
weilenden Russell hervor: "Es dürfte wohl das erste Mal sein, dass
der Volkschullehrer von Trattenbach mit einem Universitätsprofessor in
Peking korrespondiert." Wittgensteins nachhaltiges Engagement als
Lehrer stößt auf eine verstockte Landbevölkerung und endet mit einem
juristisch unangenehmen Nachspiel, als er den elfjährigen Schüler Josef
Haidbauer so brutal schlägt, daß dieser ohnmächtig zusammenbricht.
"Erinnere Dich an den Eindruck guter Architektur,
dass sie einen Gedanken ausdrückt." Die Perfektion der Schlichtheit,
die den Tractatus auszeichnet, gilt auch für Wittgensteins anschließendes
Wiener "Gastspiel" als Architekt. Beherrscht von den
puristischen Idealen eines Adolf Loos, dem Ornament als Verbrechen galt,
entwirft und realisiert Wittgenstein mit dem Architekten Paul Engelmann
ein extrem karges Wohnhaus in der Kundmanngasse für seine Schwester, die
den Bau skeptisch als "hausgewordende Logik" betrachtet. Später
findet sich in den Zetteln eine Notiz Wittgensteins von 1940 über dieses
Haus: "Aber das ursprüngliche Leben, das wilde Leben, welches sich
austoben möchte, fehlt". In dieser Zeit gelingt es Moritz Schlick
mit höchst seltsamen Versprechen Wittgenstein zur Teilnahme an den
Treffen des Wiener Kreises logischer Positivisten zu bewegen. Wittgenstein
bedingt sich in dem philosophischen Zirkel, zu dem Friedrich Waismann,
Rudolf Carnap und Herbert Feigl gehören, aus, dass keine philosophischen
Gespräche geführt werden! Statt dem radikalen Antimetaphysiker, den die
Gruppe erwartet hatte, begegnen sie einem Philosophen, der ihnen manchmal
den Rücken zuwendet und Gedichte des indischen Mystikers Rabindranath
Tagore vorliest.
Als Wittgenstein im Januar 1929 wieder zu seiner
philosophischen Geburtsstätte Cambridge zurückkehrt, hat sein Tractatus
längst seinen Ruf als Kultfigur begründet. Keynes schreibt seiner Frau:
"Gott ist angekommen. Ich traf ihn im Fünf-Uhr-Fünfzehn-Zug. "Der
"grimmige Kopfjäger" oder "Papst", wie ihn andere
nennen, hat offiziell den Status eines Doktoranden, der von dem 17 Jahre jüngeren
Frank Ramsey als Tutor betreut wird. Das Rigorosum am 18. Juni 1929 wird
zur Farce. Als Russell und Moore in den Prüfungsraum kommen, lächelt Wittgenstein
und spottet: "Das ist das Albernste, was mir je in
meinem Leben vorgekommen ist. Wittgenstein beendet schließlich
"seine" Prüfung, seine Prüfern auf die Schulter klopfend und
tröstend: "Keine Sorge, ich weiß, ihr werdet es nie
verstehen."
Doch nicht nur die radikale, ja persönlich verletzende
Kritik anderer, die ihm nicht folgen wollen oder können, auch die
hemmungslose und widerspruchsvolle Selbstkritik bestimmen Wittgenstein. So
rückt er von der Selbstbeschreibung, der "größte Philosoph aller
Zeiten" zu sein, ab. Sein antijüdisches Ressentiment, das sich mit
einer Apologetik Oswald Spenglers verband, bestimmt auch seine
Selbstzweifel, als "jüdischer Denker" nur ein Talent zu sein.
In dem salopp trivialen Ton, den er gegenüber Gilbert Pattisson anschlägt,
findet er rüde Worte über sich selbst: "Es ist beschämend, aber
meine Pläne ändern sich alle zwei Stunden. Ich merke, dass ich im Grunde
ein großes Arschloch bin und fühle mich ziemlich elend."
"Eine Bedeutung eines Wortes ist eine Art seiner
Verwendung." Wittgensteins Abwendung von der Abbildtheorie des
Tractatus hin zur "Spätphilosophie" des Sprachspiels beginnt
wohl mit Anregungen des italienische Ökonoms Piero Sraffa, der
Wittgensteins "ethnologischen" Blick auf die jeweiligen
kulturellen Verwendungszusammenhänge der Sprache schärft. Das
"Blaue Buch", Ergebnis einer Vorlesung des akademischen Jahres
1933/34, führt die antisokratische Technik des Sprachspiels ein, das mit
Fragestellungen wie "Was ist Zeit?", Was ist ein Gedanke?"
als Quelle philosophischer Verwirrung bricht. Da Substantive den Dingen
ein Wesen verleihen und damit den Geist verleiten, nach Substanzen zu
suchen, wo keine existieren, besteht die Aufgabe der Philosophie darin,
nach der Verwendung der Wörter in der Alltagssprache zu fragen, Begriffs-
und Sprachfallen aufzudecken und damit das zu beschreiben, was jeder weiß,
aber vielleicht noch nicht entdeckt hat. So wusste ein "Vorläufer"
Wittgensteins Lichtenberg bereits zu sagen: "Unsere ganze Philosophie
ist Berichtigung des Sprachgebrauches."
Als Wittgenstein im Sommertrimester 1947 beschließt,
seinen Lehrstuhl in Cambridge aufzugeben, entwickelt er seinen letzten
methodischen Ansatz im so genannten "Aspektwechsel". Kurz gefasst
handelt es sich dabei um den Perspektivenwechsel des Blicks auf
Sachverhalte, die ohne ihre „äußere Form zu verändern, je nach dem
zugrunde liegenden "Aspekt" verschieden verstanden werden. So
kann etwa ein Bild einmal eine beliebige Ansammlung von Flecken auf der
Leinwand sein oder im verstehenden Blick eines versierten Betrachters eine
bewegende, ausdrucksvolle Struktur. Das Aspektsehen fundiert in der
jeweiligen Kultur oder Lebensform des Betrachters. Der Pessimismus
Wittgensteins hinsichtlich der Wirkung seines eigenen philosophischen
Werkes resultiert aus der Überzeugung, dass unser Blick mithin nicht
wesentlich durch philosophische Annahmen, sondern durch die jeweilige
Kultur und Erziehung determiniert ist. So attestiert er den affirmativen
Charakter der Philosophie "Sie lässt alles, wie es ist" und plädiert
etwa gegen Hegels identifizierendes Systemdenken wie Darwins starre
Entwicklungsschemata für die ungebändigte Mannigfaltigkeit des Lebens.
Warum der "Professor wider Willen", der stolz
darauf zu sein schien, keine anderen Philosophen studiert zu haben, ja
nicht einmal eine Zeile von Aristoteles zu kennen, Cambridge verlässt und
in der Folge ein einsames Leben in Irland vorzieht, hat er seinem
Lehrstuhlnachfolger Georg von Wright so erklärt: "Cambridge ist ein
gefährliches Pflaster. Sie können dort rasch oberflächlich werden oder
angepasst. Und wenn das nicht geschieht, droht Ihnen schreckliches
Leiden". Der Protest einiger Cambridger Professoren gegen die
Verleihung der Ehrendoktorwürde an den französischen Philosophen Jacques
Derrida, dessen Dekonstruktion der Geisteswissenschaften einem heimtückischen
Computervirus verglichen wird, scheint diese Einschätzung zu bestätigen.
Ray Monk ist es gelungen, nicht nur eine minutiöse
Darstellung des verschlungenen Lebensweges Wittgensteins zu zeichnen,
sondern eine philosophische Lebensgeschichte, die den wechselnden
Denkbewegungen in ihrer biographischen Prägung nachspürt. Wittgensteins
Lebenspraxis war zugleich ein Anwendungsfall seiner Philosophie. Wer den
"sprechenden Löwen" Wittgenstein verstehen will, findet in
dieser lebendigen Biographie eine vorzügliche Hilfe. Ein Zugewinn für
die brillante Arbeit von Ray Monk läge freilich neben der Erstellung
einer Zeittafel in der Skizzierung der wirkungsgeschichtlichen Dimension
des Denkers. Denn wenn ein Autor in seinen Werken weiterlebt, dann ist
auch die Biographie Wittgensteins nicht im Jahr seines Todes 1951
abgeschlossen, sondern schreibt sich seitdem in einer weit verzweigten
Rezeptionsgeschichte weiter fort.
Goedart Palm
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