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Ludwig Wittgenstein

Ludwig Wittgenstein

© Goedart Palm 

 

Skizze (Kugelschreiber)

Der wilde Mann im Wunderland der Sprache

Ray Monk

Wittgenstein - Das Handwerk eines Genies

Klett Cotta, ISBN: 3-608 91361-0

Als philosophische Hintertreppe in das Haus der Erkenntnis gilt die Biographie des Philosophen. Wenn zuvörderst nicht das Denken nachvollzogen wird, sondern die Lebensgeschichte, die es prägte, ist der Ertrag solcher Bemühungen oft zweifelhaft. Kants philosophische Feinmechanik spiegelte sich in der kategorischen Präzision seines Uhrwerklebens, das seine Mitbürger angeblich veranlasste, ihre Uhren am Zeitpunkt seiner Spaziergänge zu orientieren. Ob in solchen biographischen Momenten die transzendentale Idealität der Zeit eine Erkenntnisgrundierung findet, kann wohl mit einigem Anspruch bezweifelt werden. Rousseau, der eine humane Pädagogik predigte und seine Kinder im Armenhaus verwaisen ließ, kann als besonders unrühmliches Beispiel für die schizoide Spaltung von Lehre und Leben herangezogen werden. So ist die philosophische Hintertreppe wohl oft eher ein Dienstboteneingang, der nicht in das Boudouir der Philosophie führt, sondern in Kolportageküchen, die schlecht gefegt sind. 

Die von Ray Monk vorgelegte enzyklopädische Biographie über die wilde Lebensgeschichte des österreichischen (Anti)Philosophen Ludwig Wittgenstein ist daran zu messen, inwieweit es ihm gelungen ist, die Verschränkung von Leben und Werk zum besseren Verständnis einer nach wie vor in großen Teilen enigmatischen Philosophie aufzuzeigen. Die Notwendigkeit, den Zusammenhang zwischen seiner Philosophie und seinem Leben zu begreifen, hat Wittgenstein in einem Brief an Bertrand Russell selbst artikuliert: "Vielleicht glaubt´s Du, dass es Zeitverschwendung sei, über mich selbst nachzudenken; aber wie kann ich Logiker sein, wenn ich noch nicht Mensch bin! Vor allem muss ich mit mir selbst in's Reine kommen!" Monk zeichnet Wittgensteins schroffes Charisma im anekdotenreichen Wechsel zwischen universitärer Hermetik, Zivilisationsflucht auf der Suche nach Ursprünglichkeit und halsbrecherischen Gratwanderungen zwischen Logik und Mystik: "Das Ich tritt in die Philosophie dadurch ein, dass die "Welt meine Welt ist". Am 18.0ktober 1911 platzt Wittgenstein buchstäblich in die Philosophiegeschichte des 20.Jahrhunderts hinein, als er als Zweiundzwanzigjähriger in Cambridge sich Bertrand Russell als deutscher Ingenieur mit philosophischen Leidenschaften vorstellt. Innerhalb weniger Monate rückt Russell von seinem ersten Eindruck "Mein Deutscher droht eine wahre Plage zu werden ... Er wollte nicht zugeben, dass gewiss kein Rhinozeros im Zimmer sei..." ab und konstatiert: "Wittgenstein ist ein großes Ereignis in meinem Leben." 

In der Folge profiliert sich Wittgenstein als zorniger junger Philosoph, dominant, unbequem, rechthaberisch und von logischen Problemen mehr geschüttelt als sie traktierend. Monk schönt den Philosophen nicht. Politisch wäre er als Reaktionär, menschlich als Misanthrop zu schildern. Als sich Russell in den zwanziger Jahren für einen "Weltbund für Frieden und Freiheit" interessiert, beschimpft ihn Wittgenstein und bestätigt Russell auf dessen polemische Replik hin, dass er eher noch einen "Weltbund für Krieg und Knechtschaft" gründen würde. Das Frauenwahlrecht lehnt er ab, weil "alle Frauen, die er kenne, solche Idiotinnen seien". Wittgenstein, der in seiner ersten Zeit in Cambridge nur noch die Logik als Domäne erkennt, befürchtet, verrückt an diesen Problemen zu werden. Aber nicht die Abwechslung, sondern die völlige Konzentration auf sein Thema hält er für die richtige Gangart seines Geistes. So lässt er sich von Dr. Rogers hypnotisieren, um außerordentliche Geisteskräfte zu entwickeln. In diesem Zustand soll ihm Rogers bestimmte Fragen zu logischen Problemen stellen, aber diese Praxis funktioniert nicht.

Vom Schüler rückt er zum Lehrer Russells in Sachen Logik heran. Die Suggestionswirkung Wittgensteins, seine nahezu diabolische Fähigkeit, Fundamente zu untergraben, dokumentiert sich in Russells Aufzeichnungen zu seiner eigenen Urteilstheorie. Wittgenstein artikuliert eine undeutliche Kritik, die darauf hinausläuft, dass alles unhaltbar sei, was Russell geschrieben habe. Russell spürt es bis in die Knochen, dass Wittgenstein recht habe, aber er weiß nicht, was es ist, nur, seine Lust am Schreiben hat er verloren. Russell gerät in eine selbstmörderische Depression - der Meister ist einen Moment zu nahe an das Licht gerückt - und dieses Licht heißt Wittgenstein. Und dessen Selbstbewusstsein war alles andere als schwach: "Dagegen scheint mir die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben. 

Wittgensteins zentrales philosophisches Arbeitsergebnis der frühen Jahre ist der 1918 abgeschlossene "tractatus logico philosophicus", der unter großen persönlichen Mühen dank Interventionen Russells 1921 erstmals publiziert wird. In der vielen Deutungsweisen offenen Sprachphilosophie des Tractatus wird die Existenz von prälogischen Elementarsätzen behauptet, die unmittelbar die Wirklichkeit abbilden. Radikal ist darin das Verdikt Wittgensteins gegenüber unsinnigen Sätzen, die dann entstehen, wenn etwa in der Logik, Ethik oder Ästhetik versucht wird, etwas zu sagen, was nur gezeigt werden kann. So beinhaltet der berühmte Schlusssatz des Tractatus "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen" eine Absage an die Prätentionen der klassischen Philosophie über der Sprache verschlossene Sachverhalte zu reden. 

Wittgenstein steht nicht die mozarteske Leichtigkeit des Genies zur Seite, das in olympischer Heiterkeit nicht nach Lösungen sucht, sondern sie findet. Zwar mögen aphoristisch beschwingte Sentenzen wie "A serious und good philosophical work could be written and would consist entirely of jokes" dem Leser mitunter einen "tractatus logico humoristicus" mit dem Motto "Wovon man nicht reden kann, darüber kann man lachen" nahelegen. Seine philosophischen Tagebücher schildern dagegen keinen leichtfüßigen "homo ludens" der Sprachspiele, sondern einen Denker, der mit der Philosophie wie Laokoon mit der Schlange ringt (K.T.Fann in seiner lesenswerten Kurzdarstellung "Die Philosophie Ludwig Wittgensteins", München 1971). Immer wieder lebt Wittgenstein in Zuständen der Dumpfheit, ja in akuter Todesangst, die ihn bewegt, Russell das Versprechen abzunehmen, seine Arbeit der Nachwelt zu erhalten. So wie sein philosophisches Werk von Brüchen, Wechseln und Verrücktheiten lebt, ist auch seine vita amorosa von unerwiderten Lieben, platonischen Beziehungen und bisexuellen Abenteuern geschüttelt.

Genie ist das, was uns das Talent des Meisters vergessen macht. Ein grotesker Treppenwitz der Philosophiegeschichte ereignet sich 1914, als Wittgensteins "Logik" nicht als Magisterarbeit an genommen wird, weil sie wegen eines fehlenden Vorworts und fehlender Quellennachweise nicht der Prüfungsordnung entspricht. Wittgenstein explodiert gegenüber G.E. Moore: "Wenn ich's nicht wert bin, dass Sie auch nur in dummen Einzelheiten eine Ausnahme für mich machen, dann kann ich genau so gut gleich zur Hölle fahren; und wenn ich es doch wert bin, und Sie tun's dann nicht bei Gott, dann können Sie hinfahren."1919 nach der Befreiung als Soldat in italienischer Gefangenschaft und dem Tod seines Vaters, eines der reichsten "Kohle-Juden" (Max von Esterle) Österreichs, der unter anderem als Mäzen Gustav Klimts hervorgetreten war, unterstützt Ludwig Wittgenstein Ludwig von Ficker, Rainer Maria Rilke, Georg Trakl, Oskar Kokoschka, Else Lasker Schüler, Adolf Loos, Theodor Däubler und andere. Der  Expressionist Albert Ehrenstein schickt Wittgenstein als Dank zwei seiner Werke. Wittgenstein bedankt sich auf seine eigene Art: "Ein Hundedreck, wenn ich mich nicht irre."

Die Erbschaft auf seinen Vater macht Wittgenstein zu einem der reichsten Männer Europas. Welches Motiv trieb ihn dazu, "finanziellen Selbstmord" zu begehen, als er sein gesamtes Vermögen seine Schwestern Helene und Hermine sowie auf seinen Bruder Paul überträgt, um kurze Zeit später Fabrikarbeit als Erwerbsquelle in seine Erwägungen ziehen? Ist es die Selbständigkeit gegenüber dem Vater, dessen übermächtige Figur seine drei älteren Brüder in den Selbstmord getrieben hatte, oder die Notwendigkeit, praktische Erfahrungshorizonte zu sichern? Diese existenzielle Entscheidung sollte ihn in der Folge seines Lebens noch oft einholen. Als er später wieder in Cambridge weilt, sind seine Studien zeitweise gefährdet, weil er nicht einmal das Geld hat, die Studiengebühren zu bezahlen! Nach dieser folgenschweren Entscheidung lässt er sich im Anschluss an eine Volksschullehrerausbildung als Lehrer in dem Dorf Trattenbach nieder. Wie kurios ihm selbst diese Existenz erschienen ist, geht aus einer brieflichen Bemerkung an den in Peking als Gastprofessor weilenden Russell hervor: "Es dürfte wohl das erste Mal sein, dass der Volkschullehrer von Trattenbach mit einem Universitätsprofessor in Peking korrespondiert." Wittgensteins nachhaltiges Engagement als Lehrer stößt auf eine verstockte Landbevölkerung und endet mit einem juristisch unangenehmen Nachspiel, als er den elfjährigen Schüler Josef Haidbauer so brutal schlägt, daß dieser ohnmächtig zusammenbricht. 

"Erinnere Dich an den Eindruck guter Architektur, dass sie einen Gedanken ausdrückt." Die Perfektion der Schlichtheit, die den Tractatus auszeichnet, gilt auch für Wittgensteins anschließendes Wiener "Gastspiel" als Architekt. Beherrscht von den puristischen Idealen eines Adolf Loos, dem Ornament als Verbrechen galt, entwirft und realisiert Wittgenstein mit dem Architekten Paul Engelmann ein extrem karges Wohnhaus in der Kundmanngasse für seine Schwester, die den Bau skeptisch als "hausgewordende Logik" betrachtet. Später findet sich in den Zetteln eine Notiz Wittgensteins von 1940 über dieses Haus: "Aber das ursprüngliche Leben, das wilde Leben, welches sich austoben möchte, fehlt". In dieser Zeit gelingt es Moritz Schlick mit höchst seltsamen Versprechen Wittgenstein zur Teilnahme an den Treffen des Wiener Kreises logischer Positivisten zu bewegen. Wittgenstein bedingt sich in dem philosophischen Zirkel, zu dem Friedrich Waismann, Rudolf Carnap und Herbert Feigl gehören, aus, dass keine philosophischen Gespräche geführt werden! Statt dem radikalen Antimetaphysiker, den die Gruppe erwartet hatte, begegnen sie einem Philosophen, der ihnen manchmal den Rücken zuwendet und Gedichte des indischen Mystikers Rabindranath Tagore vorliest. 

Als Wittgenstein im Januar 1929 wieder zu seiner philosophischen Geburtsstätte Cambridge zurückkehrt, hat sein Tractatus längst seinen Ruf als Kultfigur begründet. Keynes schreibt seiner Frau: "Gott ist angekommen. Ich traf ihn im Fünf-Uhr-Fünfzehn-Zug. "Der "grimmige Kopfjäger" oder "Papst", wie ihn andere nennen, hat offiziell den Status eines Doktoranden, der von dem 17 Jahre jüngeren Frank Ramsey als Tutor betreut wird. Das Rigorosum am 18. Juni 1929 wird zur Farce. Als Russell und Moore in den Prüfungsraum kommen, lächelt Wittgenstein und spottet: "Das ist das Albernste, was mir je in meinem Leben vorgekommen ist. Wittgenstein beendet schließlich "seine" Prüfung, seine Prüfern auf die Schulter klopfend und tröstend: "Keine Sorge, ich weiß, ihr werdet es nie verstehen."

Doch nicht nur die radikale, ja persönlich verletzende Kritik anderer, die ihm nicht folgen wollen oder können, auch die hemmungslose und widerspruchsvolle Selbstkritik bestimmen Wittgenstein. So rückt er von der Selbstbeschreibung, der "größte Philosoph aller Zeiten" zu sein, ab. Sein antijüdisches Ressentiment, das sich mit einer Apologetik Oswald Spenglers verband, bestimmt auch seine Selbstzweifel, als "jüdischer Denker" nur ein Talent zu sein. In dem salopp trivialen Ton, den er gegenüber Gilbert Pattisson anschlägt, findet er rüde Worte über sich selbst: "Es ist beschämend, aber meine Pläne ändern sich alle zwei Stunden. Ich merke, dass ich im Grunde ein großes Arschloch bin und fühle mich ziemlich elend."

"Eine Bedeutung eines Wortes ist eine Art seiner Verwendung." Wittgensteins Abwendung von der Abbildtheorie des Tractatus hin zur "Spätphilosophie" des Sprachspiels beginnt wohl mit Anregungen des italienische Ökonoms Piero Sraffa, der Wittgensteins "ethnologischen" Blick auf die jeweiligen kulturellen Verwendungszusammenhänge der Sprache schärft. Das "Blaue Buch", Ergebnis einer Vorlesung des akademischen Jahres 1933/34, führt die antisokratische Technik des Sprachspiels ein, das mit Fragestellungen wie "Was ist Zeit?", Was ist ein Gedanke?" als Quelle philosophischer Verwirrung bricht. Da Substantive den Dingen ein Wesen verleihen und damit den Geist verleiten, nach Substanzen zu suchen, wo keine existieren, besteht die Aufgabe der Philosophie darin, nach der Verwendung der Wörter in der Alltagssprache zu fragen, Begriffs- und Sprachfallen aufzudecken und damit das zu beschreiben, was jeder weiß, aber vielleicht noch nicht entdeckt hat. So wusste ein "Vorläufer" Wittgensteins Lichtenberg bereits zu sagen: "Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauches."

Als Wittgenstein im Sommertrimester 1947 beschließt, seinen Lehrstuhl in Cambridge aufzugeben, entwickelt er seinen letzten methodischen Ansatz im so genannten "Aspektwechsel". Kurz gefasst handelt es sich dabei um den Perspektivenwechsel des Blicks auf Sachverhalte, die ohne ihre „äußere Form zu verändern, je nach dem zugrunde liegenden "Aspekt" verschieden verstanden werden. So kann etwa ein Bild einmal eine beliebige Ansammlung von Flecken auf der Leinwand sein oder im verstehenden Blick eines versierten Betrachters eine bewegende, ausdrucksvolle Struktur. Das Aspektsehen fundiert in der jeweiligen Kultur oder Lebensform des Betrachters. Der Pessimismus Wittgensteins hinsichtlich der Wirkung seines eigenen philosophischen Werkes resultiert aus der Überzeugung, dass unser Blick mithin nicht wesentlich durch philosophische Annahmen, sondern durch die jeweilige Kultur und Erziehung determiniert ist. So attestiert er den affirmativen Charakter der Philosophie "Sie lässt alles, wie es ist" und plädiert etwa gegen Hegels identifizierendes Systemdenken wie Darwins starre Entwicklungsschemata für die ungebändigte Mannigfaltigkeit des Lebens.

Warum der "Professor wider Willen", der stolz darauf zu sein schien, keine anderen Philosophen studiert zu haben, ja nicht einmal eine Zeile von Aristoteles zu kennen, Cambridge verlässt und in der Folge ein einsames Leben in Irland vorzieht, hat er seinem Lehrstuhlnachfolger Georg von Wright so erklärt: "Cambridge ist ein gefährliches Pflaster. Sie können dort rasch oberflächlich werden oder angepasst. Und wenn das nicht geschieht, droht Ihnen schreckliches Leiden". Der Protest einiger Cambridger Professoren gegen die Verleihung der Ehrendoktorwürde an den französischen Philosophen Jacques Derrida, dessen Dekonstruktion der Geisteswissenschaften einem heimtückischen Computervirus verglichen wird, scheint diese Einschätzung zu bestätigen.

Ray Monk ist es gelungen, nicht nur eine minutiöse Darstellung des verschlungenen Lebensweges Wittgensteins zu zeichnen, sondern eine philosophische Lebensgeschichte, die den wechselnden Denkbewegungen in ihrer biographischen Prägung nachspürt. Wittgensteins Lebenspraxis war zugleich ein Anwendungsfall seiner Philosophie. Wer den "sprechenden Löwen" Wittgenstein verstehen will, findet in dieser lebendigen Biographie eine vorzügliche Hilfe. Ein Zugewinn für die brillante Arbeit von Ray Monk läge freilich neben der Erstellung einer Zeittafel in der Skizzierung der wirkungsgeschichtlichen Dimension des Denkers. Denn wenn ein Autor in seinen Werken weiterlebt, dann ist auch die Biographie Wittgensteins nicht im Jahr seines Todes 1951 abgeschlossen, sondern schreibt sich seitdem in einer weit verzweigten Rezeptionsgeschichte weiter fort.

Goedart Palm

 

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Copyright. Dr. Goedart Palm 1998 - Stand: 05. Juni 2018.