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Netz als Textin sechs schnellen Cybergrammen gelesen Cybergramm 1: Vorhang auf.
Bildungszwergen wird durch die Netzmacher auf die Sprünge geholfen. Das Netz setzt keine universale Bildung voraus, sondern beinhaltet sie. Die Aneignung fremden Wissens folgt zumeist einer Speichereuphorie. "Heute speichern, morgen nicht lesen" scheint nicht zuletzt ein typisches Aneignungsideal der gefräßigen Netzexistenzen zu sein. Die Rechner müssen schlucken, was ihre User nicht lesen, viel weniger verdauen. Die Dialektik, wer hier User und wer Server ist, beantwortet sich nicht in der Interaktivität, sondern aus der Speicherkapazität des Heimrechners. Knotenpunkte in alle Richtungen, die nicht mehr von den Gestirnen bestimmt sind, bilden die zentrale Orientierung der Netzlektüre. Daß diese Knoten oft gordische Dimensionen haben, den Netzleser in unangeahnte Zusammenhänge katapultieren und an fernen Informationsgestaden kentern lassen, gehört zum Selbstverständlichen der Informationsnavigation. Fast erinnern Netzaufenthalte an die infinitesimalen Suchen nach dem Stein des Weisen an den europäischen Fürstenhöfen. Aber weniger Paläste beherbergen den Suchenden als mehr oder weniger opulente Kioske, oft nur Litfaßsäulen mit Minimalinformationen. Immer präsent ist der neue Stachel des Informationsgewissens, der die Leser bestimmt. Vielleicht besitzt gerade jener Kiosk, über den sich noch keine Datenspur zieht, jenes Geheimnis, vom dem du noch nicht einmal wußtest, daß du es suchst. Cybergramm 2: Hypertext als Sein. Textproduzenten im Netz gefallen sich heute in der Rolle von Mediatoren, Bescheidwissern und Trendberatern, die im Netz ihre Texte für die Ewigkeit eines Augenblicks entwerfen: "Sie sind der fünfzigtausendste Besucher dieser Seite", "Vielen Dank für Ihren Besuch". Homepages suggerieren Heimat und Gastfreundschaft. Noch bestimmen Rituale und traditionelle Verkehrsformen das Netz, die einer anderen Zeit entstammen. So konstruieren sich Websites als Häuser mit immer neuen Räumen. Im Bereich der Pornonetze wird das Schlüssellochprinzip wie ein museales Relikt alter Voyeurlüste inszeniert. Andere Sites folgen dem Warenhausprinzip oder leiten ihre Präsentationslogik von Printprodukten ab. Alle diese Konstruktionen bleiben aber inszenierte Texte, die geschrieben werden müssen und gelesen werden sollen.
Allüberall drängt sich die gleiche Frage auf: Wie werde ich zur omnipotenten Netzexistenz, zur multiplen Superperson? Eine bizarre Galerie virtueller SuperheldInnen in den babylonischen Bibliotheken, in den Boudoirs hypernarzißtischer Lust, in den Wachsfigurenkabinetten digitaler Verheißung leiten uns an. Wir hören ungezählte Spieglein an der Wand: "Hereinspaziert, seht die Götter der Postneuzeit. Seht den totalen Menschen, erschauert vor dem Höhepunkt der Evolution." Cybergramm 3: Poeten im Labyrinth. Die Netzgesellschaft formt sich zu einem gigantischen Mandala der Persönlichkeit, zu einem Beschwörungskanon des Lifestyle. Hier meditieren die Meister und ihre Schüler in der Abenddämmerung klassischer Gesellschaften. Im Zuge der ökonomischen und politischen Vernetzung wird erst der digitale Informationsglobalismus zum umfassenden Totalisierungsprinzip des neuen Menschen. Der abendländische Poetenglaube an die Bedeutung der Welt im und als Text nährt sich von Restposten, hängt an den Zitzen allegorischer Milchkühe, die zumeist schwarze Milch spenden. Auch wenn diese Milchkühe heute im Netz grasen, gigantische Online-Bibliotheken die Fortexistenz klassischer Schriftsteller behaupten, so erscheint das alles als Abgesang einer behäbigen Kultur, die auf Kontemplation und Verstehen setzte, das alte Spiel der Wahrheitssuche mit tausenden Masken betrieb. Flauberts Spätwerk ließ "Bouvard und Pecuchet" dieses Spiel der unauslotbaren Welt begreifen, als sie ihre Selbsttechnologie mit der Kopie von Fremdtexten beendeten: Keine Lust mehr auf Wissensaneignung, keine Lust mehr auf Persönlichkeit. Kopien waren sie und wollten sie sein - bis zu ihrem Tod. Deren Abfall von Weltwissen erscheint jetzt fast idyllisch. Das Weltwissen im vernetzten Text rüstet so auf, daß selbst die eifrigsten Adepten das Gruseln lernen. Zugleich aber liegen Netzängste- und lüste so dicht beieinander, daß daraus keine eigenen Textsorten entstehen wollen. Der Netztext bleibt ohne emotionale Kontur. Cybergramm 4: Alte Menschen in Neuen Netzen. Gesellschaftlicher Medienterror wird seit längerem als Äquivalent demokratischer Persönlichkeiten umgemünzt. Die mediale Grundversorgung des zoon politikon verändert sich zur richtungslosen Überrüstung politischer Partizipation. Die virtuelle Persönlichkeit führt uns weder in ein freigewähltes Exil, heraus aus den Bewußtseinstrümmerfeldern Alteuropas, noch in demokratische Blütenträume von Parteitagsprogrammen. Stammesgeschichtliches Wachstum lastet auf den alten Köpfen, die keine Chance haben, ihrer software ein saisonal frisches "update" per mouseclick zu verpassen, wie es die Programme vertragen. Die bedingte Konstruktion unseres Bewußtseins ist die Konstruktion der kleinen Welt, die wir aus dem großen Netztext herausschneiden. Auf diesen kleinen Texten, die dem Netztext abgerungen sind, lastet aber die immerwährende Hypothek, daß sie schon im Entstehungszeitpunkt antiquiert sind, weil sich der großen Muttertext, die Matrix des Weltwissen fortspinnt. Die stammesgeschichtlichen Voraussetzungen des Gehirns binden jede Erkenntnis zunächst an die Lösung praktischer Probleme. Die Kausalität zwischen Magie und erfolgreicher Lebenspraxis war dem archaischen Bewußtsein geläufig. Ockham's razor hatte zur Zeit des Faustkeils noch keine Schärfe. Der kartesianisch-rationalistische Zugriff auf die Netzwelt ist eine Magie anderer Ebene. Wie jede ordentliche Magie löst sie gewaltige Probleme. So können Netzapologeten auf die funktionalen Zugewinne in der Praxis sämtlicher Lebensbereiche verweisen. Es ist Magie, weil dem Netz Zwecke entnommen werden, die auf den Leisten menschlicher Belange gelegt werden, ohne mit Zwecken zu rechnen, die die Funktionalität menschlicher Praxis verlassen. Es ist Magie, weil jede Remedur des Netzes - schneller! besser! umfassender! - durch Gegenmaßnahmen durchkreuzt wird. Wie soll sonst erklärt werden, wie digitale Viren auftreten konnten? Wie soll sonst erklärt werden, daß kollektive Beschleunigung den Einzelnen permanent verlangsamt? Die Ablösung der kartesianischen Altmagie, die uns das Netz erklären will, steht noch bevor. Das schwarze Loch, in das sie kollabiert, kann nur erahnt werden. Sicher aber sind Bedenken gerechtfertigt, daß sich binäre Logik, Diskursivität und die anderen Errungenschaften des homo sapiens sapiens als Endpunkte des Netztextes aufrechterhalten lassen. Hüten wir uns nicht vor großen Vokabeln: Das Netz ist heute die weitreichendste Metapher, um Kultur zu beschreiben. Wir sind ihr ganz nahe, jener großen sehnsüchtigen Harmonie, in der viele Völker, Zeiten und Seelen dem Tod durch Kultur abtrünnig wurden. Ab heute schlagen wir den Tod mit virtuellen Konstruktionen. Philosophie, Religion, Kunst und alle anderen Restposten der guten alten Aufklärung werden Geschwister, die dem Netz gute Worte geben, um ihm neues Leben nach ihren Melodien zu entlocken. Aber das Netz ist viel umfassender, als es diese Systeme je sein konnten. Klassische Texte basierten auf Definitionen, Grenzmarken und verzeichneten Topografien. Das Netz will keine Grenzen und die alten Markierungen werden durch immer neuen Karten verdrängt: Karten mit Synapsen, die alles mit Allem verbinden.
Informationsterror begegnet den kurzgeratenen Netzriesen, die in das gigantische Fadenkreuz globaler Erscheinungen geraten. Die klassische Scheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit wird weggespült. In der allpräsenten Diskussion des Datenschutzes und der Vervielfachung der Sender, der Auflösung der klassischen Nachrichteninstrumente, zeigt sich die Brüchigkeit dieser Sphären. Diskurs- und Meinungszwänge gegenüber dem expandierenden Welttext läßt die überforderten Weltinformationsunterworfenen zwischen Euphorie und Apathie pendeln, mindestens aber reicht es zur Erfahrung der strukturellen Informationsgewalt. Heute erleben wir die Aporien der ubiquitären Vernetzung jedes Menschen mit der angeschlagenen Totalbefindlichkeit dieser Welt. Die Persönlichkeit wird zum Monitor von Lektüren, deren Existenz sie gestern nicht mal ahnte. Cybergramm 5: AI Religionen, sozialutopisches Denken, New-Age-Philosophie wurzeln in ältesten Intuitionen. Belebt vom Prinzip Hoffnung glauben diese Geisteshaltungen an die unbegrenzte Kraft des Menschen, sich zu verändern. Je höher die Anforderungen an das Subjekt formuliert werden, um so imaginärer ist der Gehalt solcher Heilslehren. Die Paradiese im Himmel und auf Erden haben noch geschlossen, aber die Schlüsselmeister glauben unverzagt an den Eintritt in die andere Welt. Transzendentalphantasien dieser Art beherrschen auch untergründig das Netz. Erst wenn das neue Subjekt der Geschichte, die künstliche Intelligenz, seinen Anspruch reklamiert, um aus der instrumentellen Rolle des Zuträgers der menschlichen Bedürfnisbefriedigung herauszutreten, mögen die urbanen Geschwindigkeiten wieder auf humane Grade fallen. Dann kann sich der Mensch von seiner Rolle als Geschöpf Gottes erholen. Nachdem die Sonne schon lange nicht mehr um die Erde kreisen muß und der Mensch in die aberwitzige Finsternis des untröstlichen Universums exiliert wurde, darf schließlich der biologische Monarch einige Jahrhunderte später abdanken und sich auf sein Altenteil besinnen. Er tritt seine angestrengten Persönlichkeit an jene evolutionären Wunderwerke ab, um deren Lebens- und Leidensfähigkeit es besser bestellt sein mag. Mit anderen Worten: Dem Netz sind Menschen nicht gewachsen, künstliche Hirne mit unendlichen Speicher- und Verarbeitungskapazitäten können diesen Text lesen. Die kritische Masse des Netzes sind apathische Bewusstseine, die ihre eigene Auflösung im Netz betreiben. Abgestiftet von Gott und Welt schweben wir völlig schwerelos in der Netzmelange aus news, nothing and eternity. Die beschädigte Seele gewinnt im Netz nicht die Welt, sondern die kleine Freiheit, eine Persönlichkeitskonstruktion für eine kurze Netzzeit zu behaupten. Cybergramm 6: Vorhang zu. Die korrekte Welt der Nichtvernetzten kauert im Nachtasyl alter Werte und Problemlösungen. Die neue Persönlichkeit, ohnehin eingekerkert in überfordernde Sozialsysteme, kombiniert eine hybride Technologie mit dem nackten Entsetzen über die Multiplikation der Welt im Netz. Auf den Benutzeroberflächen wird das Subjekt verbannt, nur reiner Text bleibt. Hatte das aufgeklärte Denken immer die Verhältnisse im Text affirmiert, jedes Wort als Mörtel der Existenz genommen, werden im Hypertext des Netzes die Verhältnisse zum Tanzen gebracht. Dionysische Philosophen wie Nietzsche hätten ihre Freude daran gehabt. Das Netz wurde so zum Existenzzeichen eine Rausches: "Nur Netzexistenzen sind die wahren Existenzen." Ihre Mythen umfangen uns, plustern sich zu Überfiguren auf, spotten unseren leibhaften Miniaturexistenzen "da draußen an den Bildschirmen". Wer sich über das Leben erheben will, seinen Tod und den der Welt für die Nachwelt versichern will, brennt seine Spuren in das Netz ein. Aber nicht nur im abgeklärten Alteuropa wurde die Luft eisig für alle Vorwitznasen, die hinter dem Vorhang des Netzes auf Erlösung hoffen. Netzexistenzen sind nicht nur virtuell Nomaden mit Blick für Wasserstellen, aber schon bald ziehen sie weiter: Das Netz ruft! So ist das Netz nicht eine lesbare Topografie, sondern ein übergeordneter Imperativ von Lesern, die selbst zum Text werden.
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