Jean
Baudrillard oder die alten Leiden der neuen Theorie
Am 20. Juli 2009 wäre Jean Baudrillard achtzig Jahre alt
geworden
Die
Wüste ist der signifikante Topos der späten, nicht enden wollenden
Moderne. Postmoderne ist nichts anderes als Wüstenverwaltungspolitik von
philosophischen Administratoren, die sich alter Kategorien erinnern, die
aber keinen Sinn mehr machen. Friedrich Nietzsche leitet diesen brisanten
Ort als eine hypertrophe Form ein, die bedrohlich das Aids der
Sinnlosigkeit im Subjekt wuchern lässt. Bei Jean Baudrillard avancierte
die Wüste zum Wunschziel des philosophisch erzwungenen Abschieds von der
Wirklichkeit: „In der Wüste muss ich die Einsamkeit nicht erst suchen,
ich bin Teil davon. Ich bin auch nicht mit mir selbst allein, das wäre
wieder die romantische, westliche Form der Einsamkeit. Nein, die Wüste
ist für mich die klarste, schönste, hellste, stärkste Form der
Abwesenheit.“
Strahlte vorher die Wahrheit, schien das Licht der Aufklärung und glänzten
viele Sonnen der Erkenntnis, wird die Wüste nun zum Ort der Abwesenheit
von den urbanen und medialen Exzessen unserer seinsvergessenen
Alltagswirklichkeit. Doch es kommt noch schlimmer: „Später habe ich den
Traum auf Städte übertragen, denn manchmal kann sich auch im urbanen
Raum diese losgelöste Art des Reisens einstellen. Große Städte wie New
York empfinde ich auch wie Wüsten, vertikale Wüsten. Sie mögen extrem
dicht und bevölkert sein, aber dahinter verspüre ich die Leere dieser
Urszene.“ Hier spricht ein vormals kämpferischer Intellektueller,
dessen tiefes Misstrauen gegen die einst so mächtigen Potentiale der
Theorie keine Konstruktion der „condition humaine“ mehr zulässt.
Baudrillards Wüste ist letztlich der von Nietzsche beschriebenen
nahverwandt, also als ein (Nicht)Ort, der wächst und schließlich als
fragile Daseinsverfassung des entwurzelten Daseins übrig bleibt. „Die
Welt ohne das eigene Ich, das könnte auch die Welt ohne die menschliche
Spezies sein. Die Welt, bevor die Menschen sie betreten haben. Oder
nachdem sie wieder von ihr verschwunden sind. In meiner Fantasie steht die
Wüste für diese Vorahnung eines Planeten, der nicht mehr von Menschen
bewohnt wird.“
Der Tuaregführer Mano
Dayak sieht das völlig anders: „Jedes Mal, wenn ich der Wüste gegenüberstehe, führt sie mich auf
die erregende Reise in mein eigenes Ich, in dem wehmütige Erinnerungen,
Befürchtungen und Hoffnungen des Lebens miteinander streiten. Wer in der
Wüste überleben will, muss sie verstehen, ihr zuhören. Denn sie wird
immer stärker sein als der Mensch. Man muss, um hier zu leben, ebensoviel
Bescheidenheit wie Mut aufbringen. Für Menschen, die nicht in ihr gelebt
haben, erscheint sie wie ein großer leerer Raum, während sie für uns
unendlich lebendig ist. Wie diese Liebe erklären, die wir unserer so
ausgedörrten und schwierigen Umwelt entgegenbringen?“
Aber
vielleicht erfahren wir hier gar nicht die vordergründige Antinomie eines
weltflüchtigen Ichs gegenüber der lebendigen Erfahrung des Wüstensohns,
wenn wir Hugo Balls archimedischem Hinweis folgen: „Wenn in der inneren
und äußeren Welt nichts mehr sicher ist, bleibt nur die Wüste.“
Bleibt uns in der „mentale(n) Diaspora der Netze“ nur noch die Wüste
als paradoxe Mega-Oase? Jean Baudrillard beschreibt die Verflüchtigung
des Menschen als einen Prozess, der nicht mehr dem Topos der aufhebbaren
Verdinglichung des Menschen folgt: „Im 19. Jahrhundert war immer die
Differenzierung des Subjektes um so höher, je tiefer es durch die
Maschine, durch die Technik usw. entfremdet war. Je tiefer die Technik
greift, desto tiefer ist die Empfindung des Selbsts des Subjektes als
Entfremdetes. Aber jetzt mit der Informationstechnologie, mit den
elektronischen Maschinen usw. wird das Subjekt aufgesaugt. Es wird verflüchtigt,
hinein in den Prozess selbst. Früher war es verfremdet durch die
materielle Alienation, aber jetzt wird es durch sein Gehirn, in seinem
Gehirn aufgesaugt, und die Grenze zwischen dem Menschlichen und dem
Unmenschlichen verschwindet. Das ist, meine ich, das Wesentliche, diese
Aufhebung der Grenze zwischen menschlich und unmenschlich.“
Richard Münch trifft also in seiner soziologischen Aufklärung nicht die
ganze Radikalität des Ansatzes, wenn er Baudrillards Theorie der
Medien-Hyperrealität nur als „aktuelle Version von Marx´
Entfremdungstheorie“ deutet. Karl Kraus hat diese Destruktionsdialektik
Baudrillards ante litteram auf den besseren Endreim gebracht: „Das
ist das wahre Wunder der Technik, dass sie das, wofür sie entschädigt,
auch ehrlich kaputt macht“. Maßgeblich verantwortlich für diese
Diffusion und Destruktion ehedem eherner Konstruktionsbedingungen
menschlicher Welterfahrung sind die Medien. Die fundamentale
Unterscheidung von technischem „Code“ als medientypischer
Kommunikationsform gegenüber dialogischer „Reziprozität“ als dem
Gespräch von Menschen in Rede und Gegenrede folgt einem platonischen
Modell, das trotz der vielfach beschworenen „Intelligenz des Bösen“
hartnäckig wider alle Strategien der perfiden Medienherrschaft nachgerüstet
wird. „Denn Vergessenheit wird dieses in den Seelen derer, die es
kennenlernen, herbeiführen durch Vernachlässigung des Erinnerns, sofern
sie nun im Vertrauen auf die Schrift von außen her mittelst fremder
Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst, das Erinnern schöpfen.“
(Platon, Phaidros).
Massenmedien,
Telefon und Internet finden im Aufstand ihrer unendlichen Zeichen
gleichermaßen keine Erhörung des Medientheoretikers. Jean Baudrillard
gerierte sich in diesem Verdikt gegen die Zerstörung echter menschlicher
Direktkommunikation von Rede und Gegenrede päpstlicher als die
Diskurstheoretiker, deren Geltungsansprüche auch an der Eigensinnigkeit
der Medien abprallen. Das technische Medium destruiere die echte
menschliche Kommunikation. Eine typische Denkbewegung Baudrillards gegen
diese Zerstörung lautet, die Medien selbst zu zerstören, was als
marxistisches Theorierelikt eines Antimarxisten gelten kann – denn, wie
er in einem frühen Text konstatiert: Wenn das Mietshaus brennt, reden die
Nachbarn wieder miteinander. Sind wir nicht längst über dieses
romantische Desiderat einer Kommunikation unter Anwesenden hinaus
gekommen, die so kontingenten Umständen folgt und sich in Gesprächen über
Brandversicherungen erschöpft? Nein, die mediale Verschaltung zu binären
Supermonstern einer entfesselten „Kommunikations“-Wirklichkeit mache
diese Situation noch schlimmer, da – verkürzt gesprochen – die Medien
selbst die Antworten auf die Fragen präsentieren, den „response“ auf
den „stimulus“ gleich mitliefern. Der Mangel dieser Theorie ist die
Ausschließlichkeit der Beobachtung massenmedialer Effekte. Baudrillard
verwandelt seine Analyse selbst dem medialen „Code“ an, der im eigenen
Selbstgespräch die Antworten gibt, ohne die heterogenen Verwendungsweisen
von Medien noch länger differenzieren zu wollen. Immerhin ist sein
Authentizitätsverdikt gegen die Medien moderierend aufzunehmen, als die
expandierende Informationsfülle, der wir stärker als in den vormaligen
Zeiten des „Broadcasting“-Imperiums ausgesetzt sind, in der Tat
paradoxe Wirkungen zeitigt:
·
Information wird an Gegeninformation, Meinung an Meinung
gebrochen, ohne dass dieser Widerstreit eine positive Dialektik oder gar
einen Konsens eröffnet. Wir erleben eine Dissensgesellschaft, die oft
erst dann handelt, wenn die Katastrophe eingetreten ist.
·
Medien fördern den wuchernden Hintergrundglauben, dass
alles gleich-gültig ist. „Aktualität“ prägt die Ordnung von
Nachrichten und Diskursen nicht nach Kriterien gesellschaftlicher
Relevanz, sondern nach Aufmerksamkeit.
·
Das Beharrungsvermögen des Subjekts gegen seine mediale
Verflüchtigung ist geeignet, einen medialen Autismus zu begründen, was
nicht nur dem Mythos kommunikativer Globalität zuwiderläuft, sondern
auch pathologische Lebensweisen begünstigt.
So
ist etwa die Kommunikationslust per E-Mail und die vormals zweckfreie
Netzbewegung als frühes Datendandytum stark gegenüber rein funktionalen
Verwendungen des Medienkonglomerats „Internet“ zurückgetreten. Hier können
wir Jean Baudrillards Beobachtungen aufnehmen, während andere
„Wahrnehmungen“ des Theoretikers sich längst als ungenau oder gar
falsch erwiesen haben: Seine digitale Bildtheorie, die einen breiten Raum
im Werk einnimmt, reklamiert die ex-nihilo Konstruktion der digitalen
Bilder. Ein referentielles Bild mit Negativ folge alten Konditionen, während
das digitale Bild das Wahrheits-Schema von Ding und Abbildung auflösen würde.
Seine letzten Ausführungen zum Exkurs über die Photografie gelten ihm
sogar als „Mikromodell einer verallgemeinerten Analyse der Hegemonie“,
des Zustand einer vorstellungslosen, alle Möglichkeiten ausreizenden
Technik. Dass nun die Referenz der Bilder zur „Wirklichkeit“, dem
gleichermaßen fetischistischen wie paradoxen Objekt dieses Denkers
schlechthin, aufgelöst wird, ist schon im Blick auf die vordigitale
Bildgeschichte unrichtig. Künstler schufen fortwährend referenzlose
imaginäre Bilder: Wie anders entstanden Madonnen, Einhörner oder die unzähligen
ornamentalen und freien Bildentwürfe ohne jede konkrete Provenienz in der
„Wirklichkeit“? Digitale Bilder, so wie sie das Internet inzwischen
unendlich überfluten, sind größtenteils referentielle Objekte, deren
binäre Transformierbarkeit wenig am Objektglauben des Abgebildeten verändert.
Nota bene: Man kann Bilder für inakzeptable Verflachungen des
menschlichen Wahrnehmungskosmos halten, doch hier unterliegt Baudrillard
in fataler Weise denselben Beobachtungsschwächen, die schon ältere
Medientheorien obsolet gemacht haben. Denn die abstrahierten Momente, die
Reduktion sinnlicher Eindrücke und die Vervielfachung der phänomenologischen
Betrachtung – etwa wenn wir um einen Gegenstand herumgehen und ihn
„begreifen“– erschließen sich der Analyse, sodass sich daraus nicht
Täuschungen ergeben müssen. Gerade hier wäre der Theoretiker als (Medien)Phänomenologe
gefragt, der erkennt, dass Wahrnehmungsmomente bei jeder Abbildung
hinzugerechnet werden müssen und der gegen die Negation der Wirklichkeit
sein (analytisches) Wissen und den sinnlichen Mehrwert der ihm bekannten
Dinge addiert. Und weiter: Die Reduktivität der medialen Verfassung ist
– wie immer – ein temporärer Zustand der Konstitution von Bildern und
nicht weniger der symbolischen Verfassung von Wirklichkeitsbeobachtungen.
Die magischen Kanäle verleiteten Jean Baudrillard dazu, Karl Marx auch in
seiner semiotischen Neueinkleidung zu verlassen und insoweit Marshall
McLuhan zu folgen. Die Abkehr vom klassischen Marxismus ist zwar
plausibel, weil in dessen Fixierung auf Arbeit, Produktion und Wertschöpfung
die Bedeutung medialer Veranstaltungen für die Verfassung der
Gesellschaft ausgeblendet werden. Doch die mediale Magie könnte weiter
reichen, als es irgendeine Theorie zulässt, die vornehmlich um die
Behauptung menschlicher Wahrnehmungshoheit gegenüber dem allgegenwärtigen
Spektakel kämpft. Das Internet produziert einsinnige reduktive
Bildwelten, doch deren Medialität steht in einem unabsehbaren Kontext von
Gegen- und Alternativwelten - ohne den propagandistischen Effekt zu
erzwingen, dass nur manipulierte und konfektionierte Wahrheiten eine
Chance auf Erhörung hätten. Menschen prozessieren Medien über die
starren Grenzen ihrer jeweiligen Konstitution hinaus. Kein Bild ohne
Kontext, keine Wahrheit oder Lüge ohne ihren Gegenpol. Unser Wissen erschöpft
sich eben nicht in dessen „Wikipediatisierung“ (Peter von Brinkemper),
sondern greift immer weiter aus und erweitert die medial-menschlichen
Rekonstruktionen in zahlreichen Äußerungsformen, die mit dem unsauberen
Verhältnis von kanonischen und apokryphen Wahrheiten zu leben lernen.
Nebenbei bemerkt fällt diesem Medienprozess auch ein großer Teil der
gegenwärtigen Medientheorie zum Opfer, etwa jener, die das Fernsehen
gegen das Internet ausspielt und hier präsentisch-authentische und dort
computergenerierte-technische Darstellungen zu erkennen glaubt. „Youtube“
und andere haben den medialen Unterschied zwischen den Einzelmedien bis
zur Unkenntlichkeit verwischt. Das Fernsehen ist längst tot, ohne es zu
wissen. Jean Baudrillard hatte gestanden, nur einen oberflächlichen
Zugang zum Mediumverbund „Internet“ zu haben, was ihn als Theoretiker
einer Zeit ausweist, die vom Paradigma der Massenmedien klassischen
Zuschnitts ausging, um zuvörderst zu ergänzen, dass binäre Welten
„unnatürlich“ konstruiert seien. Die binäre Konstruktion hat für spätklassische
Medientheoretiker wie Jean Baudrillard eine eigentümliche Faszination,
die sich nicht durch die nichtbinären Erscheinungen binären „Seins“
irritieren lassen wollte. Auch insoweit wird kräftig an der immer länger
werdenden Fußnote zum Platonismus (Whitehead) weiter geschrieben, was
nichts anderes heißt, als das Wesen der Dinge mit der vorgeblich natürlichen
Wesenhaftigkeit ihrer Konstruktion gleichsetzen zu wollen. Schlechte
Zeiten für Künstler und Programmierer. Es herrscht in diesen Ansätzen
das älteste Dilemma des Idealismus, es gäbe einen wahren Weg der
Weltkonstruktion, der in allen Entfernungen zur ursprünglichen Natur, vor
allem in der unmenschlichen Herrschaft bloßer Berechnung verraten würde.
Lässt sich aus dieser ältesten Differenz noch etwas lernen für die
Frage, was eine gewitztere Theorie diesseits der Medien leisten könnte?
„Simulation“, das transgressive Zauberwort Baudrillards, meint nichts
anderes als die Austauschbarkeit aller großen Unterscheidungen bzw. binärer
Codierungen wie „Wahrheit/Unwahrheit“, Schönheit/Hässlichkeit,
linke/rechte Politik, ja sogar Natur/Kultur – wobei nicht immer
eindeutig ist, ob hier nur die Differenzverluste auf der Ebene der Zeichen
gemeint sind oder weitergehend die Auflösung des menschlichen
Unterscheidungsvermögens überhaupt betroffen ist. „All unsere Werte
sind nur Simulationen. Was bedeutet Freiheit? Dass wir die Wahl haben, das
eine Auto zu kaufen oder das andere. Das ist eine Schein-Freiheit.“
Diese nicht gerade originelle Behauptung, die zum Altbestand der
klassischen Kritik konsumistischer Gesellschaften gehört, die nur noch
eine pseudodemokratische Herrschaftsfunktion zulassen, kapituliert vor der
Komplexität der Verhältnisse, die einen einfachen Freiheitsgestus, eine
ein- und eigensinnige Revolte, ein fröhliches „Phantasie an die
Macht“ heute noch leichter abfedern als bereits 1968. Das Problem, das
in der Homogenisierungsmaschine dieser Theorie verschwindet ist, ist das
hybride Nebeneinander von Werten und Wertdemontagen, die Provokation eines
theorieresistentem „Realen“, das sich gegen elegante Theorien sperrt.
Jean
Baudrillard erscheint uns retrospektiv als der genuine Mediendandy, immer
plakativ und so telepräsent wie einprägsam in seinen Macht- und Schlagwörtern
gegen die „Wüste des Realen“: Das Reale ist die Welt der Wahrnehmung
durch den Menschen. Der Schein ist die Welt, wie sie ist. Im
„Hyperrealen“ löst sich die Welt von der Wahrnehmung des Menschen.
Der Mensch wird in Zeiten der Virtualität nicht mehr als Vermittler
zwischen den Dingen und ihren Zeichen benötigt. Die Welt emanzipiert sich
von ihrem bislang genialsten Prozessor. "Warum ist nicht alles schon
verschwunden" heißt im Klartext, dass die Kategorien in ihrer
Bedeutung verblassen, aber der Denker keine Erklärung für die
Wirklichkeit mehr besitzt und das Unternehmen einstellt. Dieser letzte
Text Baudrillards fasst seine Theorie noch einmal zusammen und ist vorzüglich
geeignet, die Grundmotive seines Denkens im Holzschnitt kennen zu lernen.
Was
nicht nur dieser Theorie abhanden kommt, ist die Verschlagenheit der
Wirklichkeit, die eben nicht einfach in plane Virtualität übergeht, so
wenig alte Werteordnungen konservierbar oder in fatale Strategien überführbar
sind. Wir erleben weiterhin eine „Unübersichtlichkeit“ der Verhältnisse,
die der Theorie und ihren Mitteln spottet und auch auf die List der
Vernunft nicht mehr baut - was sich unter anderem im wachsenden Neben- und
Miteinander heterogener Weltentwürfe niederschlägt. Jean Baudrillard war
enttäuscht von der ehedem großmächtigen Theorie, die eben den Schritt
mit der Wirklichkeit nicht mehr halten konnte, was nur in einem überheblichen
Theorieglauben selbst zur Signatur der Wirklichkeit wird. Das Problem ist
nicht der Sog der „Simulation“, die jede Wirklichkeit erfasst, sondern
das paradoxe Wechselspiel von Wahrheiten und Manipulationen, die auf keine
oberste Rechtsprechungsinstanz wie die kantische Vernunft oder den
herrschaftsfreien Diskurs vertrauen können. Gerade die neokonservative
Realpolitik hat die Werte, auf die sich Bush und die Seinen beriefen,
gegen diese selbst mobilisiert, was immerhin - wider Baudrillard
gesprochen - für moralisch leidlich intakte Reaktionen spricht – so
wenig Obamas „Yes, we can“ schon zureichende (Er)Lösungen parat
halten würde. So sind diese trägen bis unberechenbaren Öffentlichkeiten
respektive Gegenöffentlichkeiten längst nicht sensibel genug,
Manipulationen so frühzeitig zu erkennen, dass Opfer vermieden werden.
Das Wechselspiel zwischen Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit hat
sich aber auch nicht in der digitalen Planierung der Wahrheit erledigt,
wie es das „Wirklichkeitsrequiem“ Baudrillards behauptet. Die
Konditionen sind andere, die vermutlich nicht erst in der Theorie
formalisiert werden können, wie es das narzisstische Welterschließungsmodell
von Denkern mancher „couleur“ verlangt. Baudrillard erscheint uns in
diesem Theorie-Spiel als die illustre Figur einer verblassenden Epoche der
allmächtigen Kritik, die auf die Transparenz und Transzendenz der Verhältnisse
zielte und dabei selbst so transparent und unwirklich in ihrer
Erkenntnisungeduld wurde – bis sie sich auf den Gespenster-Status zurückzog,
der nicht mehr so fröhlich-ironisch wie weiland im „Kommunistischen
Manifest“ formuliert werden kann. Dieser
Diskurs des Verschwindens riskiert nolens volens seine eigene Auflösung,
weil die Begriffe, die er weiterführt, mächtige Widerstände gegen
virtuelle Konstruktionen begründen. Auch Cyberleiber können schön oder
hässlich in einem klassischen Sinne wahrgenommen werden, so wie die
Begriffe einer fragilen Wahrheit oder schwachen Theorie („pensiero
debole“) nicht desavouiert werden, wenn Platons Sonne nicht mehr im
Zenith steht. Zentral und fatal wurde für Baudrillard das von Friedrich
Nietzsche aufgeworfene Problem, wie der Schein das Sein ist, wenn doch
zugleich diese Unterscheidung in den transzendentalen Bedingungen des
Erkennens unhintergehbar angelegt erscheint. Die ehernen Unterscheidungen
lösen sich im „Hyperraum“ auf, doch die
Abwesenheit alter Sicherheiten wie Gott, Sein, Vernunft macht die
Verhältnisse ungemütlich. Jean Baudrillard kämpfte wie weiland Don
Quichotte gegen die Riesen, die man heimlich lieben muss, wenn sie nicht
aufhören sollen zu existieren. Oft wird übersehen, dass dieser kapriziös
auftretende Ansatz nur aus dem humanen Impetus dieses Philosophen erklärbar
ist. Der Druck dieses Denkens liegt darin, dass die alten Spannungen
solches Denken erst möglich gemacht haben. Baudrillard erkannte
allerdings, dass diese alten Sicherheiten selbst immer nur Illusionen
waren, so mächtig sie sich auch in den philosophischen Diskurs
einschrieben. „Zwar gibt es im Innern dieser Welt durchaus ein
Erkenntnis- und Denksystem, das so etwas wie Wahrheits- und
Wirklichkeitseffekte produziert. Aber ich finde es wichtig, dass die
Philosophie diese radikale Unsicherheit und Illusion immer im Hinterkopf
hat. Man muss sich vor der Wahrheit hüten.“
Die Welt Baudrillards hat ihre Erdungen und archimedischen
Sicherheiten verloren: „Wenn ich von der Zeit spreche, dann deshalb,
weil sie noch nicht ist. Wenn ich von einem Ort spreche, dann deshalb,
weil er verschwunden ist. Wenn ich von einem Menschen spreche, dann
deshalb, weil er schon tot ist.“
Baudrillard bewegt sich damit auf dem gefährlichen Boden, dass die
Wirklichkeit unwirklich und der Mensch tot ist und doch die Bühne wieder
aufgezogen werden muss, um nun die Totgeglaubten wieder zu sehen – und
vielleicht zu retten. Er spielte mit der Welt der alten Unterscheidungen
wie ein Kind, das das Feuer sucht, weil Angst und Lust ununterscheidbar
werden. Sein elegischer Spätdiskurs ist einer der in der Beobachtung des
Verschwindens der menschlich wahrgenommenen und interpretierten Welt auch
selbst verschwindet. Die Begriffe wurden auf ihre Spitze und darüber
hinaus getrieben, wo sie ihren Gehalt und ihre Anschlussfähigkeit einbüßten
– was auch der relativen Isolierung Jean Baudrillards im
Wissenschaftsbetrieb entsprach. Der Schauspieler, der er auch war, räumt
die Begriffsrequisiten nach der Vorstellung weg, die wir vormals für real
gehalten haben. Es bleibt eine leere Bühne, was – nebenbei bemerkt –Baudrillards
Nähe zu diversen Denkern und Künstlern der französischen Mentalitätsgeschichte
nach dem Krieg demonstriert. Energietechnisch und wohl auch biografisch ähnelt
diese Theorie einer Supernova, der Stern wird immer heller und reißt sich
selbst in den Tod. Mit einem solchen Impetus des „ens realissimum“, um
nicht von Wirklichkeitswut zu sprechen, wird jede Theorie selbstwidersprüchlich,
weil sie den Gegenstand ihrer Betrachtung, den sie vernichtet, schließlich
doch wieder fingieren muss. Baudrillard hat das auch explizit eingeräumt,
ja sogar eine Theorie-Volte daraus gemacht, die freilich das Wesen der
Theorie als Anschauung destruiert: „Die
Theorie muss ihrem eigenen Schicksal selbst vorgreifen. Denn sie muss für
jeden Gedanken unwägbare künftige Zeiten in Betracht ziehen. In jedem
Fall ist sie der Verdrehung, der Irreführung und der Manipulation
geweiht. Es ist also besser, wenn sie sich selbst verdreht (se détourner
elle-même), wenn sie sich von sich selbst abwendet (se détourner d’ellemême).“
Eine Theorie, die so überlegen auf der Bühne des Denkens agieren will,
kann sich letztlich nicht behaupten, weil sie die zwingenden Konditionen
ihrer eigenen Zeitlichkeit in Abrede stellen will. Gott (oder Leibniz) mag
eine solche Supertheorie prästabilierten Wissens vorbehalten sein, andere
Theoretiker geraten in einen unendlichen Rückgriff der Wahrheit, deren
vorläufige Ergebnisse immer wieder zurückgenommen werden müssen –
weil der blinde Fleck der Beobachtung nicht durch puren Willen aufgelöst
werden kann. Das ist wahrlich eine fatale Strategie, weil sich die Theorie
im Wege ihres Vollzugs auflöst und selbst das „Requiem“ leer wird,
weil es nichts mehr zu betrauern gibt. „Wir haben diesen Vorsprung der
Ideen vor der Welt verloren, diese Distanz, die bewirkt, dass eine Idee
eine Idee bleibt.“
Witzig mag erscheinen, dass die nun bankrotte Theorie hier ihrem
vormaligen Unwirklichkeitsstatus nachtrauert, den sie gleichzeitig den
Medien als genuines Weltverhältnis aberkennen will. Baudrillards
Theorieexistenz ist die Geschichte der Selbstentmachtung des Theoretikers,
was einerseits die Bedingtheit theoretischer Welterschließung erweisen könnte,
andererseits aber auch einen übertriebenen Theoriegestus anzeigt, der
sich von „theorein“ emanzipieren wollte, um die endgültige Wahrheit
der Wirklichkeit als Betriebssystem ohne laufende Nummer
vorzuinstallieren. Wir dagegen beklagen weniger die um uns wuchernde
„Hyperrealität“, die eher als eine Idiosynkrasie Baudrillards
verbucht werden muss, als die Bodenhaftungsverluste nicht nur dieser
Theorie, die den instrumentellen Charakter einer provisorischen
Wirklichkeitsabstraktion aufgibt, um ihrem eigenem schönen Versprechen
einer „Schau des Göttlichen“ zu erliegen. So träumt Baudrillard in
seinem letzten Text von göttlichen „Abziehbildern“ wie dem Schweißtuch
der Veronika und lobt die antike Kritik an den bloß von Menschenhand
gefertigten Ikonen. Der Theoretiker der Verführung erlag selbst der Verführung
durch die Theorie – was deutlich macht, dass die Verführung nicht
lediglich eine subversive Strategie ist, sondern auch reale Opfer macht.
„Und alsbald trieb ihn der Geist in die Wüste; und er war in der Wüste
vierzig Tage und wurde versucht von dem Satan und war bei den wilden
Tieren, und die Engel dienten ihm.“ (Markus-Evangelium 1,12 f.). Als
Jean Baudrillard in jene andere, gleichfalls erfolgreiche Erlösergeschichte
der „Matrix“ eingebunden werden sollte, beschied er die Wachowski-Brüder
auf die Unmöglichkeit einer bildschöpfenden Welt des Hyperrealen:
„Diese Leute halten die Hypothese des Virtuellen für einen tatsächlichen
Zustand und verwandeln sie in ein sichtbares Phantasma. Aber die
Besonderheit dieses Universums besteht gerade darin, dass man die
Kategorien des Realen nicht mehr benutzen kann, wenn man darüber sprechen
will.“ Ist der Rest also Schweigen? Nein, auch der scheinbar so zwangsläufige
Tod von Theorie und Theoretiker ist eine paradoxe Kondition: „Das Ende
selbst ist verschwunden…“ So lautet der letzte veröffentlichte Satz
Baudrillards. Sollte aber diese Matrix der etwas anderen Art auch den Tod
entsorgt haben, was uns ohnehin als der älteste Anlass der Philosophie
erscheint, müssen wir mit Jean Baudrillards Wiederauferstehung rechnen.
Goedart
Palm
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