Zur KINOMAGIE -
eine Skizze
Von der imaginären
Wirklichkeit zur Wirklichkeit der Imagination
Einige Anmerkungen zu „Celine
et Julie vont en bateau“
Die
Feststellung, dass Traum und Wirklichkeit verschieden sind, ist
banal. Doch vielleicht nicht weniger banal ist die Erkenntnis, dass
Traum und Wirklichkeit eins sind. Sollte unser Wirklichkeitsverständnis
noch höchst unvollkommen sein? Das Kino ist eine Schule des
Wirklichkeitsverständnisses nicht weniger als der genuine Ort der
Magie, seitdem die klassische Magie in Verruf gekommen ist, eine
zweifelhafte, ja vergebliche Kunst zu sein. Dass die Magie aber die
Wirklichkeit verändert, ist die Lehre klassischer wie
postklassischer (=kinematografischer)
Magier. So wird das Kino je nach seinem magischen Programm
die Wirklichkeit abbilden, eine eigene Wirklichkeit sein oder die
Wirklichkeit fliehen. Die Wirklichkeit, von der wir längst nicht
wissen, was wir damit meinen, bleibt der Fokus des Kinos - immer
eingedenk des Wissens: „Dichter können gar nicht lügen, weil sie
gar nicht vorgeben, Tatsachen mitzuteilen.“ (Béla Balázs, Der
Geist des Films, Frankfurt/M. 2001 (Erstausgabe 1930, S. 163). Wenn
die Kunst des Lügens (Oscar Wilde) einen so hohen poetischen Wert
besitzt, müssen Dichter dann nicht immerzu lügen, um zu ihrer
Wahrheit zu kommen. Freilich bereitet das Paradox erhebliche
Probleme, wenn die Unterscheidungen nicht mehr auf gesicherte
Referenzen der Wirklichkeit zurückzuführen sind. Für Platon und
seine zwischen Idee, Schein und Widerschein geschichtete
Wirklichkeit war der Dichter der genuine Lügner, verwerflich und
nie mit dem Philosophen zu verwechseln, der allein den Königsweg
zur Sonne der Wahrheit beschreiten sollte. Das Kino ist die
Dunkelkammer, die wohl einige Ähnlichkeit mit Platons Höhle
reklamieren kann. Der Projektor steht für die künstliche Sonne,
die im Innern der Höhle für die Erleuchtung der dritten Art sorgt.
Platons Wirklichkeitsebenen sind längst in Bewegung geraten.
„Celine et
Julie vont en bateau“ ist ein Film über Magie und das
demonstriert er nicht lediglich über die magischen Inhalte bzw.
eine märchenhafte Erzählung, sondern durch die magisch
eingesetzten Zeittechniken des Films, die dem Zauber auf der
manifesten Inhaltsebene des Films zugeordnet werden.
„Celine
et Julie vont en bateau“ von Jacques Rivette galt dem Filmkritiker
David Thomson als: “the most innovative film since Citizen Kane…whereas
Kane was the first picture to suggest that the world of the
imagination was as powerful as reality, Celine and Julie is the
first film in which everything is invented.” Doch
jeder Film ist immer eine Erfindung gegen die Wirklichkeit, die sich
nicht plan in einen Film einbinden lässt. Und eine pure Erfindung
ist „Celine und Julie“ schon deshalb nicht, weil Rivette ein
originäres Kunstwerk aus den Versatzstücken fremder Imaginationen
macht. Imaginationen, die rekapituliert werden, um ihre jeweilige
Erfindung auch gegen sich selbst zu richten. Mehr als eine bloße
Erfindung ist „Celine et Julie vont en bateau“ aber ein
Metadiskurs über die Erzählkunst, die einer der Königswege der
Erfindung bleibt.
„Celine et
Julie vont en bateau“ von
Jacques Rivette ist für Gilles Deleuze „eine der ganz großen
französischen Filmkomödien“ (Gilles Deleuze, Das Zeitbild –
Kino 2, Frankfurt/M. 1997, S. 23). In einer Zeit, in der vielleicht
mehr Komödien denn je produziert werden – jene Komödien, über
die man nicht lachen kann, weil sie lächerlich sind – haben echte
Komödien vermutlich nur geringe Chancen, wahrgenommen zu werden.
Der Film
entstand 1974 ohne Skript bzw. Découpage. Während der Dreharbeiten
waren die Schauspieler, maßgeblich die beiden Hauptdarstellerinnen
Juliet Berto und Dominique Labourier, an der Entstehung des Films
beteiligt. Der Film präsentiert sich im Grobschema auf zwei
Handlungsebenen, die schließlich ineinander laufen und miteinander
verschmelzen. Die Binnenerzählung wurde nach zwei Henry James-Erzählungen
"The Other House" und "A Romance of Certain Old
Clothes" konstruiert. Jacques Rivette konstatierte in einer
Rezension über einen Renoir-Film: „Die Improvisation ist so nur
Mittel für ein Höchstmaß an Realismus“. (Jacques Rivette,
Schriften fürs Kino, S. 14). Angeblich schrieben Regisseur und
Schauspieler nachts den Teil der Geschichte, die sie dann am nächsten
Morgen drehten. Rivette erläuterte: „Das Sujet eines Films wird
immer aus der Methode geboren, mit der man dreht.“ Diese
Form-Inhalt-Dialektik ist Lichtjahre von den durch und durch
komponierten Drehbüchern Hollywoods entfernt, die nichts mehr dem
Zufall der Wahrnehmung oder aleatorischen Mehrwerten überlassen
wollen.
Die Geschichte
Celine (Juliet
Berto) and Julie (Dominique Labourier) befassen sich beide mit
Magie. Celine gibt in ihrem Hoteleintrag als Beruf „Magierin“ an
und Julie liest in der ersten Szene ein Buch über Magie und zieht
mit den Füßen ein magisches Zeichen in den Sand. Julie praktiziert
die Kartenlesekunst des Tarot als „Nebentätigkeit“ ihrer Arbeit
in einer öffentlichen Bibliothek. Später wird sie mit Celine sogar
nachts in diese Bibliothek einbrechen, um ein Lehrbuch der Magie zu
stehlen. Die erste Begegnung der Frauen ist sonderbar und wird im
Film mit dem Hinweis eingeleitet: „Meistens begann es so…“.
Das macht a priori, vor jedem Bild und jeder Handlung klar, dass es
eine Geschichte ist, die so oder anders, aber immer wieder
stattfindet. Wir bewegen uns in einem Universum der Wiederholungen
und Variationen. Julie läuft hinter Celine her und schon hier gibt
es Ahnungen, Kommunikationsstörungen und –absonderlichkeiten, die
der Zuschauer beim ersten Sehen nicht ergründen kann. Was stiftet
eigentlich die Beziehung der Frauen? Ist es der Film, der bereits
ablief und den wir extrapolieren müssen? Wieso kommen sie wie
selbstverständlich zusammen, obwohl es doch nicht mehr Beziehungen
gibt als einen Schal, den Celine verloren hat.
Interpunktiert
werden die Szenen von dem lapidaren Hinweis: “Aber am nächsten
Morgen…”, was nichts anderes besagt, dass die Erkenntnisse und
Erlebnisse eines Tages nur vorüber gehend sind. David
Thomson formuliert diese Grunderfahrung des Films so: „Well, this
is what you're seeing this time, but realise there were a whole lot
of other things going on, and there are already other things you may
notice.” Es gibt nicht die Geschichte, sondern mehrere
Geschichten, die miteinander in vielfältigen Beziehungen stehen und
nur teilweise aufklärbar sind. Die nichterzählten Szenen mögen
genauso wichtig sein, wie die präsentierten. Eine Provokation für
die abgeklärte und aufgeklärte Filmerzählung, die sich logisch
entfaltet und mit einer befriedigenden Auflösung sich wieder
zusammenfaltet – und vergessen werden darf. Celine und Julie
treffen sich und in ihren Erzählungen taucht ein verwunschenes Haus
auf, in dem sich merkwürdige Dinge abspielen bzw. abgespielt haben
oder abspielen werden. Die Zeitebenen sind absichtsvoll diffus,
sodass nie ganz klar ist, ob die Ereignisse im Haus unter der verräterischen
Adresse „7 bis rue du Nadir aux Pommes“ (bis = Wiederholung, da
capo; Nadir = Tiefstpunkt, Fußpunkt) gegenwärtig oder vergangen
sind. Irgendwann konstatieren die beiden Frauen, dass es immer der
gleiche Tag zu sein scheint, der wie ein Fluch oder eine
tiefsitzende seelische Störung immer wieder wiederholt werden muss,
bis sich vielleicht der Knoten löst oder zumindest das Geheimnis
aufgeklärt ist. Dieses Haus ist der Ort der Wiederholung, der Ort
eines ständigen da capos. Es hat sich Schreckliches ereignet und während
in den Schauergeschichten ein ruheloser Geist auf sich aufmerksam
macht bis er erlöst wird, hat sich hier die Geschichte selbst - das
– mit Freud gesprochen – Familiendrama - verselbständigt und
muss repetiert werden, bis die Seele erlöst ist.
Doch selbstverständlich gibt es keine Wiederholung, die völlig
identisch mit dem Wiederholten wäre. „Nadir“ ist eine ähnliche
Konstruktion wie der Kaninchenbau, in den Alice gleich zu Beginn
ihrer wunderlichen Reise in das Wunderland fällt. Man fällt tief,
um den Geheimnissen auf den Grund zu gehen und nur in der
Wiederholung der Szenen wird es Celine und Julie mit gehöriger
Anstrengung gelingen, die komplexen Verhältnisse eines
Personen-Verwirrspiels aufzulösen, das bereits die Leser der Henry
James-Kurzgeschichten, die teilweise Vorlage waren, mit vertrackten
Rätseln konfrontiert hat. Das Geheimnis des Hauses ist die
Geschichte eines Mannes, der seiner sterbenden Frau gelobt hat, sich
nicht mehr zu liieren. Zwei Frauen, eine davon die Schwester der
Verstorbenen, Camille (Bulle Ogier), die ihr sehr ähnelt, versuchen
den Mann von diesem „grausamen Gelübde“ abzubringen. Dieser
Plan wird vor allem dadurch erschwert, dass die Tochter des Mannes,
Madlyn, ihn immerzu an seine verstorbene Frau erinnert. Eine der
Frauen, Sophie, (Marie-France Pisier) versucht das Mädchen daher zu
vergiften, indem es dem Kind vergiftete Bonbons anbietet, die es
immer weiter schwächen. Doch ist Sophie wirklich die Mörderin? Können
wir sicher sein, dass Sophie nicht selbst ein Werkzeug der Handlung
ist. Die Filmerzählung lässt bereits offen, ob der umworbene
Oliver (Barbet Schroeder) nicht heimlich weiß, dass das Kind
vergiftet wird und er zum Mittäter durch Unterlassen wird. Bereits
in der Kurzgeschichte von Henry James „The other house“ gibt es
verschiedene Schuldzuweisungen, die letztlich darauf hinaus laufen,
dass es einen Verschuldenszusammenhang gibt, der zwar Täterin und
doloses Handeln nicht leugnet, aber die Tat als das Ergebnis
emotionaler Verwicklungen schildert, die eine ungesunde Atmosphäre
von Liebe, Eifersucht und Frustration entstehen lassen. Aber selbst
über dieser psychologischen Erklärung mögen auch metaphysische
Umstände eine Rolle spielen. Henry James liebte alte Häuser, weil
sie nicht mehr nur Behausungen sind, sondern Datenspeicher, die den
narrativen Stoff der Jahrhunderte sammeln. Hier ist das Haus selbst
ein Protagonist. Es öffnet –von Geisterhand? -
zur vorgesehenen Stunde die Eingangstür, um entweder Celine
oder Julie wie in einem Doppelspalt-Experiment hinein zu lassen. Im
„roman noir“ spielt das Eigenleben von Häusern, Gemäuern,
gespenstischen Orten schon immer eine Rolle, das sich selten vollständig
in den Rekonstruktionen oder den jeweiligen Katastrophen auflöst.
Was wären viele Geschichten von E.A.Poe oder H.P.Lovecraft ohne die
unheimlichen Häuser? Ist das „Unheimliche“ ohne Häuser überhaupt
denkbar? Kennen Nomaden das Unheimliche? Nur im „Heim“, dem Ort
der Sicherheit, kann das Vertrauen auf den sicheren Umraum enttäuscht
werden. Das Unheimliche ist eine zivilisatorische Befindlichkeit.
Der Natur gegenüber ist jedes Vertrauen riskant. Es ist ein alter
Animismus, der an die Objekte ihre Erzählungen klebt, als wären
sie Erinnerungsspeicher des Schreckens. Im Roman „Die
Besessenen“ von Witold Gombrowicz ist es das Schloß „Myslocz“,
ein mysteriöser Ort, der wie bei „Celine und Julie“ die
Geschichte einer Rettung respektive Befreiung schildert. Erst als
die Bewohner und Besucher nicht länger im Bann des Unheimlichen
stehen, fügen sich die unerklärlichen Vorgänge in ein Muster und
schlüssigere Erklärungen als der undurchdringliche Schrecken
bieten sich an. So gibt es auch in Rivettes Erzählung einen
detektivisch-psychologischen Motivkomplex, der mit allen Mitteln des
Suspense-Kinos immer stärker auf die verschlungenen, sich langsam
enthüllenden Absichten der Akteure hinweist.
Oliver erklärt
Sophie, sie solle dem Mädchen keine Bonbons geben, denn die würden
ihr schaden. Redet er von Karies oder von Mord? Sophie wiederum
reagiert so, dass sie selbst eines der Bonbons nimmt, was Oliver
entsetzt registriert und einen Versuch unternimmt, das zu
verhindern. Zumindest seine vordergründig seriöse Erscheinung und
das von ihm zur Schau getragene schwere Schicksal werden zudem
dadurch konterkariert, dass er den Avancen der rivalisierenden
Frauen gegenüber nicht spröde reagiert und schließlich selbst mit
dem Kindermädchen anzubandeln versucht. Sophie erklärt Camille,
dass sie darüber wachen werde, dass das Gelübde nicht gebrochen
wird. Aber wie meint sie das? Denn beide Frauen sind sich darüber
im Klaren, dass das Gelübde nur solange gilt, solange das Mädchen
lebt. Will Sophie das Kind töten, weil sie selbst die
Geliebte des Mannes werden will oder weil sie weiß, dass das Gelübde
schließlich doch nicht gehalten wird und sie der Sterbenden gegenüber
versprochen hat, alles zu tun, das zu verhindern? Gilt hier die
paradoxe Logik, dass sie lieber das Kind tötet, als das Gelübde zu
gefährden. Kann man der Toten nur dadurch entsprechen, dass man
auch ihr Kind tötet, denn die Toten sollen keine Herrschaft über
die Lebenden haben. Insofern sind die Motive der Handelnden ähnlich
undurchschaubar wie das Geschehen überhaupt? Es sind Motivfetzen,
die wie bildliche Versatzstücke eher Varianten von Geschichten
skizzieren, als sich auf eine Geschichte und ihre Lesart
einzulassen. Oder sollte die Tote selbst eingegriffen haben? Denn plötzlich
heißt es, dass etwas Schreckliches passiert sei und auf dem Mädchen
liegt ein Kissen mit einem blutigen Händeabdruck. Dafür könnte
auch Camille verantwortlich sein, die sich an einem zersplitternden
Glas die Hand verletzt hat. Doch der blutige Händeabdruck trifft
auch die beiden Heldinnen, was letztlich paradox ist, da sie das
Kind der Toten retten wollen. In der Szene mit dem Kissen könnte
das Mädchen tot sein, denn sie liegt unter dem Kissen völlig
leblos mit verdrehten Gliedern. Oder ist Angèle, das immer
missmutige Kindermädchen, die Täterin? Erzählt sie die Geschichte
so wie Geschichten von David Lynch erzählt werden, besonders
raffiniert in „Mulholland Drive“, der uns die Perspektive einer
Frau erzählt und sich als pure Wirklichkeit einleitet, um schließlich
völlig demontiert und umgekehrt zu werden. War die Frau zunächst
in ihrer Selbsterzählung stark, so ist sie am Ende schwach und das
vormalige Opfer, dem sie geholfen hat, ist die wirklich Starke.
Bei „Celine
und Julie“ ist es eine offene Frage ähnlich wie in Kurosawas „Rashomon“,
wo selbst der Ermordete keine Auskunft über den Täter geben kann.
Niemand kann wirklich über die Tat aufklären, allein die Rettung
des Mädchens wäre eine Antwort auf die Frage nach dem Täter. Denn
wenn das Mädchen gerettet wird, stellt sich die Frage nicht mehr
und vor dieser Paradoxie schreckt der Film nicht zurück.
Die Bonbons,
die dem Mädchen verabreicht werden, schwächen, die Bonbons, die
Celine und Julie zu sich nehmen, bringen dagegen sukzessive die
Erinnerung respektive die Aufklärung über den wahren Plan der Mörderin
Sophie. Alles Wissen erschien Platon als Erinnerung. Aber längst
wissen wir, wie fragil Erinnerungen sind, wie täuschungsanfällig
und –bereit menschliche Gehirne sind. Gerade der Film scheint
dagegen das Medium einer unbestechlichen Wirklichkeitssicht. Denn
objektiviert er nicht die Abläufe, dokumentiert nicht ein für alle
mal, was sich wirklich zugetragen hat. Auf der Suche nach der
verlorenen Zeit heißt in diesem Film aber, sich nicht auf dieses
Medium zu verlassen oder nur den Versuch zu unternehmen, die flüchtige
Zeit zu rekonstruieren, sondern überhaupt erst herzustellen. Der
Film schöpft Wirklichkeit. Erinnerung und Zukunft treffen sich auf
einer virtuellen Ebene, auf der es möglich wird, zukünftig in die
Vergangenheit einzugreifen. Es gibt keine unbeteiligte Beobachtung,
sondern der Beobachter wird zum Handelnden, der den Verlauf der
Geschichte maßgeblich beeinflusst, so wie der Beobachter des
Quantenkosmos immer auf seine eigene Beobachtung zurückgestoßen
wird.
Die Fröhlichkeit
der beiden Heldinnen, ihre Disposition zu Spiel und Albernheit wird
grundiert von der düsteren Atmosphäre dieses Hauses, das selbst
wie ein eingestaubtes Wachsfigurenkabinett erscheint, bevor tatsächlich
seine Bewohner mit wächsernen Gesichtern Toten ähnlicher sind als
den Lebenden. Bei Henry James heißt das nach der schrecklichen Tat
von Rose Armiger (=Sophie):
„Rose´s mask was the mask of Medusa.“
Aber längst
ist klar, dass es verschiedene Erzählstränge, verschiedene
narrative Universen gibt, in denen sich andere, glücklichere Verläufe
dieser Geschichte vollziehen könnten. Der Film ist eine
Schicksalsbeherrschungskunst. Wie anders wären die unzähligen
Happy-Ends zu erklären, die der Zuschauer nicht satt wird zu sehen.
Die von Nietzsche gefeierte griechische Tragödie hat keine Chance
mehr, weil der „elan vital“ längst nicht mehr so zuverlässig
erscheint wie es antikisierender Betrachtung angelegen ist. Der Film
ist die Kunst, aus einer Tragödie eine Komödie zu machen und
Rivette demonstriert diese Magie in der Erzählung selbst, was eben
deutlich macht, warum Hollywood kaum je eine wirkliche Traumfabrik
war, sondern eine entzauberte Welt mit fragilen Illusionen. Ein
Kino, das nur den Traum zeigt und nicht seine Genese, seine
Wandlungen, beraubt den Film seiner vorzüglichsten Eigenschaften.
Vom Beobachter
zum Akteur – kein Rollenwechsel
Celine und
Julie sind die Beobachter dieser Geschichte in der Geschichte und
wandeln sich zu Akteuren, die aktiv und – rettend – in die
Geschichte eingreifen. So wie Rousseau erklärte: Um Zuschauer zu
werden, wurde ich Schauspieler.
Beide
Heldinnen sind biografisch mit dieser Geschichte längst verbunden.
Julie wohnte als Kind eine Zeit lang gegenüber dem merkwürdigen
Haus und erinnert sich mit dem Kindermädchen daran, dass die
Bewohner auszogen und seitdem die Fensterläden geschlossen sind.
Oder ist sie selbst Madlyn, die den vormaligen Schrecken verdrängt
und über den Schrecken nur in der dritten Person reden kann? Was
nun dort passiert ist, weiß sie nicht. Celine berichtet an einer
anderen Stelle Julie, dass sie in dem Haus als Kindermädchen
gearbeitet habe und Pässe ohne Fotos gefunden haben. Doch auch das
könnte konfabuliert sein, um das Verdrängte nicht zulassen zu müssen.
Irgendetwas Schreckliches ist also passiert, aber weder ist das
leicht zu entdecken noch wird klar, in welcher Weise die Heldinnen
biografisch dieser Geschichte längst verbunden sind. Celine
behauptet auf der Flucht vor den unheimlichen Besuchern zu sein und
hat sich dabei verletzt. Die Hölle ist aus den Fugen geraten. Die
Anderen treten bereits vor ihre Pforten, um ihr Geheimnis aktiv zu
schützen. Julie betreut Celine, sie ist ausgebildete
Krankenschwester. Später trägt Julie auch das Zeichen einer
blutigen Hand auf ihrem Rücken. Das ist der Beweis, dass hier nicht
nur ein Traum verhandelt wird. Zugleich aber ist der Einbruch des
Unheimlichen aus der halluzinogenen Sphäre in das Realdasein. Just
das ist auch die Pointe der Kurzgeschichte von Henry James „The
‚romance of certain old clothes“. Als sich Rosalind wider dem
Wunsch ihrer verstorbenen Schwester Perdita an deren Kleidern und
Preziosen vergreift, tritt der Schrecken und „mehr als der Tod“
in das Dasein: „and on her blanched brow und cheeks there glowed
the marks of ten hideous wounds form two vengeful ghostly hands.“
Diese blutige Hand trifft auch das Kind. Auch Julie hat das blutige
Mal auf der nackten Haut und stellt sich unter die Dusche, um es
abzuwaschen – das Thema einer versöhnenden Variation über die
blutigste Dusche der Filmgeschichte in Hitchcocks „Psycho“. Später
werden Celine und Julie der Schwester der Toten, Camille, zur Hilfe
eilen, nachdem sie sich verletzt hat und blutet. „Die Blutsbande müssen
neu geknüpft werden“, sagt Angele das Kindermädchen mehrfach in
ernstem Ton. Ist das ein Todesurteil? „Muss ich bis zum bitteren
Ende gehen“, fragt Sophie. Nur, was meint sie? Die Vergiftung des
Mädchens? Oliver erklärt regungslos: „Was Sie begonnen haben, müssen
Sie zu Ende führen.“ Ist also Oliver der Mittäter?
In der Folge
versuchen die Frauen mit allen Mitteln, das Geheimnis des Hauses und
seiner Bewohner aufzuklären und verstricken sich selbst immer
tiefer in die Geschichte. Sie greifen zu Zaubermitteln, Bonbons und
magischen Getränken, um die Geschichte aufzuklären. Sie stehlen
sogar eigens ein Zauberbuch in der Bibliothek. Dabei sind sie als
Einbrecherinnen „verkleidet“, tragen einen schwarzen Overall –
nachgebildet einem Comic-Helden aus der Serie „Blanche Épiphanie“
der seit 1967 von Georges Pichard gezeichnet wurde. Das Motiv dieser
sehr erfolgreichen Serie entspricht dem Rettungsmotiv im Film
Rivettes: Der Comic-Held hilft permanent einer Heldin, deren
Abenteuer nicht allzu weit von de Sades Opferheroine „Justine“
angelegt sind, immer im allerletzten Moment aus der allfälligen
Krise. Dieser Held ist so grotesk wie Celine und Julie, die auf
Rollschuhen fahren. Dabei wird diese Pseudodynamik comic-artig
gebrochen, als die beiden Frauen völlig fertig die Kapuzen
entfernen, die sie zur Tarnung tragen. Zugleich kann man sich
schwerlich auffälliger durch eine Stadt bewegen als mit diesem Kostüm.
Sie spielen
zunächst alternierend und dann zusammen das Kindermädchen, das als
Krankenschwester auftritt. Fortwährend wechseln Celine und Julie in
der Rolle des Kindermädchens, je nachdem wer gerade den Zugang zu
der Geschichte hat, diese Rolle, die indes zunächst immer gleich
bleibt. Die Akteure im Haus führen ihre Geschichte immer wieder neu
auf. Der magische Zugang von Celine und Julie ist der einer
Zeitmaschine. Doch selbst der Schauplatz des Geschehens ist
ungesichert. Denn die Straße ist in Paris, Julie lässt sich mit
dem Taxi hinbringen und abholen. Jedoch Camille sagt zu Oliver, er wäre
eine der besten Partien von Neuengland. Sind Celine und Julie in die
Erzählung von Henry James geraten und klären sie jetzt mit den
Mitteln des Films auf? Dann wäre der Film zugleich eine
Medienkritik an der relativen Starrheit der Erzählung. Wo also sind
wir überhaupt? Der Beobachter (=Zuschauer) ist irritiert und hat
Schwierigkeiten zu entscheiden, ob tatsächlich immer dieselbe
Geschichte erzählt wird oder Variationen, unmerkliche
Verschiebungen, quantenmechanische Veränderungen in die Geschichte
einziehen. Julie beginnt sich zu langweilen, weil sich die
Geschichte immer zu wiederholen scheint, ohne dass die Pointe, das
Ende, die Auflösung in Sicht wäre. Aber Celine, die
„katzenartiger“ in die Geschichte eindringt, lässt sich davon
nicht beirren, sie weiß, dass dieser Zustand nicht anhalten wird,
sondern die Krisis vorbereitet.
Mit dem
Wechsel von den Bonbons zu dem magischen Getränk, dem „Gedächtniselixier“,
das die „Alten `Herba-Wein` nannten“ und das offensichtlich höher
dosiert ist, gelingt es den Darstellerinnen nunmehr sich der Pointe
der Geschichte zu nähern, selbst handlungsstärker zu werden und
sich dem Zwang der Wiederholung zu entziehen. Denn das Hause und
seine mysteriösen Bewohner wollen die Wahrheit nicht zulassen –
so wenig wie die Protagonisten in „The other house“ die Aufklärung
der Tat zu lassen. Es ist zugleich eine Drogengeschichte, eine
Geschichte der Stoffe, eine buchstäbliche Chemie der Gefühle –
aber im buchstäblichen Sinne des Wortes. Die Figuren der Geschichte
riechen nach Naphtalin (verwendet in Mottenkugeln), stellen Celine
und Julie fest. Die Kleider der Toten werden in Kampfer, dem man übrigens
eine psychoaktive Wirkung nachsagt und das als Konservierungsmittel
eingesetzt wird, und Rosenblättern verwahrt. Sophie fällt in
Ohnmacht, wenn sie Blumen nur sieht. Als Camille das Kleid der Toten
mit einer Rosenapplikation trägt, kann Sophie den Anblick nicht
ertragen. Doch vielleicht ist ihre Unpässlichkeit auch nur darauf
zurückzuführen, dass sie in der Rivalität mit Camille um die
Liebe von Oliver ihre Chancen schwinden sieht, denn Camille sieht
wie die Tote aus. Denn Madlyn begrüßt sie in diesem Kleid als
Mutter. Bereits der Name „Blume“ darf gegenüber Sophie nicht
erwähnt werden und als ihr Madlyn ein Blumenbild zeigt, fällt sie
in Ohnmacht. Ein intermedialer Witz, da Sophie bei Henry James
„Rose“ heißt, sodass die Blumenallergie nichts anderes als eine
unbewusste Anamnese ist, eine Erinnerung, dass sie in einem früheren
(Film/Text)Leben die Täterin ist. Die Akteure der Geschichte selbst
agieren schließlich wie Zombies, wie Wiedergänger aus der
Totengruft, während Celine und Julie zwischen dem Schrecken über
den Mordversuch am Kind und der Albernheit der Handelnden hin und
her gerissen sind. Sie machen sich über die Geschichte und ihre
entlarvten Helden lustig und nehmen den Anschlag auf das Kind
zugleich sehr ernst. Sie wissen nicht, ob sie nun noch die Rolle des
Kindermädchens spielen müssen oder bereits eine besondere
Handlungsmacht gewinnen, die sie von den Vorgaben der Erzählung löst.
Zunächst versuchen sie das Kind mit Handzeichen darauf aufmerksam
zu machen, keine Bonbons mehr zu essen. Sie selbst allerdings müssen
ständig Drogen konsumieren, um das Band zu der Geschichte nicht zu
verlieren. Selbst in den Szenen der Binnenerzählung trinken sie
permanent aus einem „Flachmann“, um nicht den Faden der
Geschichte zu verlieren und wieder zurück an den Ausgangspunkt zu
gelangen. Die Varianten überschlagen sich, Celine und Julie
wechseln in den Repetitionen der Szenen immer schneller die Rollen.
Ein Schnitt, eine andere Kameraeinstellung und schon wird aus Celine
Julie und umgekehrt. Dieses Vexierspiel, wer wer ist, leitet sich
bereits früh ein. Julie spricht von einer Zwillingsschwester im
Haus. Julie tritt auch im Variete auf und versucht - allerdings
ziemlich unvollkommen - Celine zu vertreten. Celine tritt dort sehr
erfolgreich als Zauberer(in) „Mandrakore“ (=Mandragore=Mandrake=Alraune)
auf (Filmmusik der Bühnenszene: Play Piano Play-No. 4. Allegro Ma Non Troppo
von Friedrich Gulda, Uraufführung 1971) und soll sogar eine Welttournee machen. Allerdings sind die
Vorschläge des Managers bizarr. Sollte hier der Wunsch von Celine
der Vater des Gedankens sein? „Mandrake“, der Magier war eine
von Lee Falk in den 30er Jahren erfundene Comic-Figur – ein
klassischer Magier mit einem schwarzen Umhang. Mandrake tritt als
Illusionist auf, der mit seiner Hypnose-Technik seine Zuschauer und
Gegner verblüfft. Celine führt so wie die Comic-Figur die üblichen
Zaubertricks vor. Während Celines Vorstellung stört ein Zuschauer
mit dem Zwischenruf „Alles Betrug“. Das ist natürlich als
Kritik an einer Zauberveranstaltung nachgerade grotesk. Doch der
wahre "Mandrake gestikuliert hypnotisch", sodass sich eine
Katze in einen Tiger verwandeln kann, während Celine auf der Bühne
des Varietes nur bunte Tücher in Tauben verwandelt. Nebenher kämpft
Mandrake auch auf einer anderen Ebene. Im wirklichen Leben jagt er
Verbrecher. Hier verwandelt er etwa Pistolen zu Schlangen. Während
Celine auftritt, werden Szenen der späteren Ereignisse im mysteriösen
Haus eingeblendet, die kaum einem Wahrnehmenden zuzuordnen sind.
Obwohl also die Variete-Veranstaltung wie eine kleine Binnenerzählung
oder nur ein Versatzstück erscheint, wird in dieser Montage
behauptet, dass die Kunst des Zauberns nicht danach zu unterscheiden
ist, was dem Spiel und was der Wirklichkeit, der echten Magie, zugehörig
ist. Celine und Julie benutzen auch einen Talisman, um sich den
Aufdringlichkeiten des Hauses und seiner Bewohner zu entziehen. Als
zum Ende der Rettung hin Celine diesen Ring für einen Moment lang
verliert, wird sie wieder in den Bann des Hauses geschlagen und kann
sich für Sekunden nicht bewegen.
Anspielend auf
die eigenen Erfahrungen sagt Celine nach ihrem Auftritt beiläufig
zu einer anderen Mitarbeiterin des Varietes, sie solle mit ihrem
kleinen Assistenten in das Kino gehen, dann käme er auf „andere
Gedanken.“ Das nimmt dieser Film wörtlich, denn immer wieder gibt
es „Interferenzen“ der Parallelwelten, zwischen denen die Frauen
wechseln. Führt der Film nicht das vor, was ohnehin den Zuschauer
bedrängt? Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Ist nicht immer
der Zwangszusammenhang der Welt der Schrecken, dem nur höchst
unvollkommen mit Analyse und Rekonstruktion beizukommen ist. Die
Frauen suchen andere Bilder, konkretere Wahrnehmungen, sodass sich
der Schrecken, den sie zugleich fürchten, nicht mehr entziehen
kann. Der Film kommt auf „andere Gedanken“ und trägt so seinen
eigenen Entstehungsprozess in das Werk hinein. Das ist das übergreifende
„mise en scène“, das mehr als ein arrangiertes,
durchkomponiertes Bild ist. Es ist die Genese der Szenen, es sind
die Assoziationen, die sich nicht eins zu eins mit der
Handlungslogik verrechnen lassen und die in dem Brennpunkt einer
Szene diese transzendieren. Es gibt einen Mehrwert der Bilder, der
erst die Qualität eines Films bestimmt.
Sind Celine
und Julie eine Art cineastisches Doppelspalt-Experiment, deren
Interferenzen sie auch dann zusammenführen, wenn sie weit
voneinander entfernt agieren? Celine erklärt beiläufig nach einer
aufschneiderischen Erzählung über ihre Erlebnisse in Afrika, sie
habe auch so rote Haare wie Julie gehabt. Später präsentiert sich
Celine gegenüber einem alten Freund respektive Liebhaber von Julie
als diese höchstselbst. Sie trägt eine rote Perücke und nach überschwänglicher
Begegnung desavouiert sie ihn und kündigt die Beziehung, die nicht
ihre ist, auf. Oder ist es doch ihre Beziehung? Ist sie eifersüchtig
oder will sie sich nur einen Spaß machen. Celine und Julie sind
vielleicht auch nur eine Person, die sich im Verlauf der Erzählung,
deren Anfang wir nicht kennen, in zwei Personen aufgespaltet hat.
Ihre Identitäten werden jedenfalls im Lauf der Geschichte, die im
Haus geschildert wird, immer schwerer ununterscheidbar. Allein die
beobachtende Kamera und die Montage entscheiden, ob Celine oder
Julie auftauchen. Schließlich bewegen sich beide im Haus und sind
wieder vereint. Jetzt können sie sehr konkret eingreifen. Sie
organisieren mit Madlyn eine Flucht aus dem Haus, die nicht durch
die Tür, sondern aus dem Fenster mit Hilfe einer Leiter führt. Ihr
Rettungsversuch ist aber nicht nur in dieser, sondern auch in jener
Wirklichkeit erfolgreich. Denn als sie wie auf Knopfdruck wieder in
Julies Wohnung sind und aus dem Traum„aufwachen“, zweifeln sie
zunächst, ob sie das Kind gerettet haben. Das Kind ist jedoch im
Nebenzimmer. Alle Wirklichkeiten scheinen für einen glücklichen
Moment versöhnt. Sie fahren mit dem Mädchen in einem Boot, haben
es in ihre Wirklichkeit hinüber gerettet, während die Akteure des
Hauses blutleer an ihnen vorbeitreiben. Das ist nebenbei bemerkt
nicht nur die Quintessenz des Films, die Rettung des Lebens vor dem
Tod respektive der Versteinerung, die im Leben wie im Film droht.
Stattdessen beeinflussen die Beobachter nicht nur die Geschichte,
sondern werden als die maßgeblichen Handlungsträger so einbezogen,
dass sie die Geschichte neu schreiben, während die vormaligen
Akteure schließlich zu immer lebloseren Skulpturen regredieren.
Celine und Julie tanzen einen Tango zwischen den vormals Furcht
erregenden Figuren und lachen sich tot über deren Erstarrung.
Das genau ist
auch die Differenz zwischen dem klassischen und dem neuen
Schauspielertypus, der mit der „nouvelle vague“ thematisch wurde
– in den Worten von Juliet Berto: "Jacques zeigte uns, wie
man sich aus der Situation eines Roboter-Schauspielers befreien
kann." Das wird aus einer kleinen Episode klar, die J. Rivette
in einem Interview mit Frédéric Bonnaud über die Rezeption von
Joseph L. Mankiewicz erzählt: „I knew his name would come up
sooner or later. So,
I'm going to speak my peace at the risk of shocking a lot of people
I respect, and maybe even pissing a lot of them off for good. His
great films, like All About Eve (1950) or The Barefoot Contessa
(1954), were very striking within the parameters of contemporary
American cinema at the time they were made, but now I have no desire
whatsoever to see them again. I was astonished when Juliet Berto and
I saw ´All About Eve´ again 25 years ago at the Cinémathèque. I
wanted her to see it for a project we were going to do together
before Céline and Julie Go Boating (1974). Except for Marilyn
Monroe, she hated every minute of it, and I had to admit that she
was right: every intention was underlined in red, and it struck me
as a film without a director! Mankiewicz was a great producer, a
good scenarist and a masterful writer of dialogue, but for me he was
never a director. His films are cut together any which way, the
actors are always pushed towards caricature and they resist with
only varying degrees of success. Here's a good definition of mise en
scène - it's what's lacking in the films of Joseph L.
Mankiewicz.” D.h.
der Eigenwert der Schauspieler wird dem Skript geopfert, während
Rivette seine Heldinnen auch noch agieren lässt, wenn die
Geschichte außer Reichweite gerät und die Bilder zu Belegen einer
Beziehung wird, die sich nicht narrativ auflösen lässt.
Folgt man
David Thomson in einer aktuellen Nach-Betrachtung des Films (2004)
sind es gerade dieses absichtlosen, nicht komponierten, nicht auf
den Zuschauer einhämmernden Bilder, die diesen Film auszeichnen. Es
sind Atmosphären ohne Geschichte, was auch zu einer provokanten
Zweiteilung des Films führte. Die erste Hälfte ist nach
klassischen Zuschauererwartungen langweilig, während dann die
Spannung geradewegs zu einem Genre-Wechsel hin zum Kriminalfilm führt.
Jacques Rivette charakterisierte diese eigenartige Kinospannung so:
„Das Kino ist eine dramatische Kunst; die Welt organisiert sich
hier Kräften gemäß, die in Konfrontationen stehen; alles hier ist
Duell und Konflikt; aber ohne jeden Zweifel findet es seine Erfüllung
in seiner Negation: in der Kontemplation“ (Jacques Rivette,
Schriften fürs Kino, München 1990, 2. Auflage, S. 29). Dass das
Kino ein „Duell“ sei, hat Rivette in dem gleichnamigen Film
(auch als Unsterbliches Duell bzw. „Duelle“ in Deutschland
gezeigt) demonstriert. Dabei liegt eine besondere Spannung in den
Lichtverhältnissen, die Sonne und Mond repräsentieren.
Mobile
Features
Die Eigenwerte
der Schauspieler, die Bandbreiten ihrer Kunst werden dadurch in
einer Weise möglich, die dem präskriptiven Film fehlt. Das ist ein
alter Diskurs der Filmtheorie, ja man könnte geradezu sagen, dass
mit dem Aufkommen des Films auch und gerade der nicht ausgebildete
Schauspieler eingesetzt wird. Warum? Béla Balázs erläutert das
1930 bereits so: „Es soll und braucht ja nichts mehr `gespielt` zu
werden. Es soll nicht etwas erst `dargestellt` werden, was die
Kamera, gleichsam aus zweiter Hand, reproduziert, sondern sie soll
etwas entdecken und direkt zeigen, was von Natur aus da ist.“ (Béla
Balázs, Der Geist des Films, Frankfurt/M. 2001 (Erstausgabe 1930,
S. 23).
Gilles Deleuze
spricht von der Notwendigkeit, „professionelle Laien“ zu finden:
„Schauspieler, die wie ´Medien` eher zu sehen und sichtbar zu
machen wissen als zu agieren und die gelegentlich auch stumm bleiben
oder eine endlose, beliebige Unterhaltung führen können, statt zu
antworten und einem Dialog zu folgen.“ (Gilles Deleuze, S. 34).
Gilles Deleuze nennt Bulle Ogier, die sowohl in „Celine und
Julie“ als auch in „Duelle“ als Gegenspielerin der Mondgöttin
(Juliet Berto) mitspielt und Jean-Pierre Léaud. Mindestens ebenso
gilt das aber für Juliet Berto, “Screen symbol of the spirit of
soixante-huit” (The Times 17 Januar 1990), die „zufällig“ anlässlich
einer Begegnung mit Jean-Luc Godard 1963 Schauspielerin geworden
war. Juliet Berto spielt
in „Celine und Julie“ mimisch sehr ausdrucksstark und wechselt
bruchlos zwischen kindlichen und erwachsenen Zügen. Sie lässt
misanthropisch die Mundwinkel hängen, was fast als Markenzeichen
der Berto gelten kann, und schon im nächsten Moment ist sie albern,
aufschneiderisch und mutiert dann wieder als professionelle Magierin
zur „femme fatale“. Dominique Labourier verkörpert dagegen das
kontrastierende Realitätsprinzip: Sie studiert Magie, braut den
Zaubertrank und entwickelt den „Schlachtplan“ zur Rettung des
Kindes. Ihr Apartment
ist die „Bodenstation“, zu der die Frauen nach ihren
virtuell-magischen und realen Expeditionen zurückkehren. Die
Spielweise beider ist sehr stark durch das von Gilles Deleuze
genannte Schauspieler-Prinzip der Medialisierung geprägt. Ihre
Dialoge verlassen Handlungsnotwendigkeiten, erscheinen oftmals
absichtslos frei schwebend und gerade dadurch entsteht eine offene
Sphäre, in der das Motiv des Films, mehr oder minder offene
Handlungsalternativen vorzustellen, plausibel wird. Auch ihre
Beziehung zueinander wird nicht wirklich endgültig definiert, weil
es in dieser Erzählstruktur nichts End-Gültiges gibt. Man mag –
wie es Kritiker getan haben – über eine lesbische Beziehung mutmaßen,
mag darin eine zeittypische Emanzipationserzählung einer starken
Frauen-Beziehung sehen, letztlich wechselt Rivette immer wieder die
Rollen der beiden, sodass auch die Zuordnung von Stärke oder Schwäche
nicht zu einer konstitutiven Beschreibung der Figuren führt. So ist
das emotionale Spektrum der Celine unmöglich einer Person
zuzuordnen, sondern einer Rolle, die sich je nach dem
Handlungsverlauf ändert. D.h. sie wird auch durch die Geschichte zu
Verhaltensweisen motiviert, die nicht einem Beobachter-Ich
entsprechen, das „Ich“ wird in diverse Personen aufgespalten. Ein
Modus, der übrigens in dem kurz darauf gedrehten Rivette-Film
„Duelle“ fortgeführt wird: “Miss Berto has mobile features
and the wooliness of her part results in our not being quite sure,
for a long way into the film, whether she is one or several
characters.” (Richard Eder, Film: Jacques Rivette's 'Duelle':
Rivalry of Gorgons Remains Obscure to the Audience, NY Times,
October 13, 1976).
Was allerdings
vordergründig als spielerische Improvisation und Multiplizierung
der Persönlichkeiten erscheint, fügt sich schließlich in ein
komplexes Puzzle, das alle diese scheinbar absichtslosen,
unverbundenen Wirklichkeitspartikel eng führt, d.h. der Film ist
deshalb gelungen, weil sich die Flüchtigkeit und Zufälligkeit der
Erscheinungen in einer rekonstruktiv pointierten Erzähllogik
treffen, ohne von ihr aufgesogen zu werden. So gibt es eine im Sinne
klassischer Erzähllogik „viel zu lange“ Eingangssequenz, die in
der ersten Hälfte des Films spannungsdramaturgisch gemächlich
gesteigert wird, um schließlich eine Spannung zu produzieren, die
sich klassischen Mustern nähert, aber mit ihnen dadurch spielt,
dass Beobachtungs- und Handlungsebenen keine diskrete Trennung mehr
kennen. Rezeptionsgewohnheiten des auf ein anderthalb Stunden Schema
konditionierten Zuschauers werden permanent gestört.
Diese Spielweise bedingt, dass es keine rein handlungsorientierten
Erzählstränge gibt, in denen sich alle Momente des Spiels
notwendig und unausweichlich miteinander verknüpfen. Hitchcocks
oder Kubricks Kino wäre dieses Kontrastprogramm zu Rivettes Cinema,
weil auch der Zufall als Konstruktion erscheint.
Doch die
Geschichte beginnt wieder von neuem: Sie muss endlos wiederholt
werden. Doch gerade nicht die Wiederkehr des Immergleichen, die
Nietzsche als der schwerste Stein erschien, sondern die Wiederholung
und Variation zugleich. Die Heldinnen können den Film immer wieder
ablaufen lassen. Ihre magische Kinomacht ist identisch mit der
weniger magischen Fähigkeit des Zuschauers seit der Geburt des
Video, Filme zu wiederholen und damit ein analytischeres Sehen zu
ermöglichen. Der Schock der Bilder, die Überraschung weichen einer
strukturellen Sicht der Dinge. Der Zuschauer nicht weniger als die
Darsteller(=Zuschauer) des Binnenfilms entdecken die schwarzen Löcher
der Erzählung. Gilles Deleuze hat auf Fellini verwiesen: „Was wir
geworden sind, sind wir im Gedächtnis, wir sind gleichzeitig
Kindheit, Jugend, Alter und Reife.“ Deleuze hat diese komplexe
Bewegung in „Gedächtnisräumen“ - und darum handelt es sich bei
„The other house“ - als paradoxale Eigenschaft einer
achronologischen Zeit beschrieben, in der es zur Koexistenz aller
Vergangenheitsschichten, einer Konzentration der Zeiten in einem
Gegenwartsbewusstsein kommt (S. 133 f.). Es gibt also keine reine
Erinnerung, sondern die Zeiten laufen in der Erinnerung zu einem
vielschichtig sich überlagernden Bild zusammen. Das Gedächtnis ist
eine virtuelle Zeitmaschine: „Zwei Personen lernen sich kennen,
kennen sich aber schon und kennen sich noch nicht.“ (S. 135) Das könnte
eine Beschreibung des Aufeinandertreffens von Celine und Julie sein,
nicht weniger als eine Beschreibung der Begegnungen im Haus. Das
deja-vu ist keine Bewusstseinsstörung, sondern die gewöhnlichste
Kondition der (filmischen) Wahrnehmung.
Die Aussage
lautet: Jeder Film kann in ein Leben so inkorporiert werden, dass er
Teil dieses Lebens wird. Insofern erfüllt Rivette hier das so
prahlerische wie aussichtslose Versprechen der nouvelle vague, dass
das Kino Leben ist. Jean-Luc
Godard wurde nie müde zu behaupten:
„I see no difference between the movies and life. They are
the same.” (Zitiert nach Gene Youngblood, 'Jean-Luc Godard: No
Difference between Life and Cinema', in Jean-Luc Godard: Interviews.
Ed. David Sterritt. (Jackson: University Press of
Mississippi, 1998), S. 13). Jedoch ist dieses stärkste Motiv, Filme
zu machen und der Wirklichkeit die Quittung zu präsentieren oder
sie gar kinematografisch zu revolutionieren, nicht nur bei Jean-Luc
Godard gescheitert. „Kino ist Leben“ ist eine Formel, die spätestens
mit den siebziger Jahren zu Ende ging, ihre Anhänger verlor, weil
die 24 Wahrheiten pro Sekunde ihre Plausibilität verloren hatten.
Das Kino ist nicht der Ort der Wahrheit, weil es immer Montage
bleibt. Die Montage ist eben nicht nur das Prinzip, Wahrheit
herzustellen, sondern zugleich das Prinzip, die Wahrheit zu
transzendieren. In der „Außenseiterbande“ konnte Godard die
Kamera über die Leuchtreklame „Nouvelle Vague“ fahren lassen,
die jene innige Verschränkung zwischen cineastischem Programm und
Wirklichkeit zu garantieren schien. Insofern ist Celine und Julie
zugleich einer der letzten Filme dieser Zeit, in der das
kinematografische Apriori diese (selbst)bewusste Täuschung über
eine unüberwindbare Differenz noch bei jedem Kinobesuch bescherte.
Welche Welt
ist die wahre?
Sie gibt das
Leitmotiv vor. Sie ist oder sie ist nicht und schließlich wird
klar: Sie ist und sie ist nicht. Ein cineastischer Versuch über
quantenmechanische Parallelwelten, in denen sich alle Varianten
einer Geschichte zu einem narrativen Multiversum auffächern, in dem
die Schauspieler nicht weniger herumirren wie die Zuschauer. Ständig
wird die Frage nach dem Handlungsort und der –zeit und den
Absichten der Akteure irritiert. Man kann sich nicht mehr auf eine
Wirklichkeit verlassen, die auf einer statisch einsinnig
verlaufenden Zeitachse hin zu einer Auflösung eilt.
Allein der
Aufenthalt in diesem oder jenem Universum der Geschichte entscheidet
darüber. Als Julie in der Küche eine „Bloody Mary“ zubereitet,
sagt Celine plötzlich aus dem Nebenzimmer: „Ich hätte Lust auf
eine Bloody Mary.“ Julie ist so verstört über diese Koinzidenz,
dass ihr ein Glas hinfällt. Es ist dieses unbewusste Wissen aus der
Vor-Geschichte, das im Film zu Ahnungen, Vermutungen und Hypothesen
über den Verlauf der Geschichte führt. Ohnehin ist Blut ein
Leitmotiv des Films. Später wird Camille sich an zerbrochenem Glas
die Hand verletzen und bluten. Auch in der Binnenerzählung nach
Henry James werden die Blutsbande immer wieder betont. Das Blut
steht für die Verquickungen der Akteure.
So kann der
Film kein wirkliches Ende haben, denn die Geschichte wird immer
wieder neu ablaufen, in dieser oder jener Variante. Zum Ende des
Films hastet Julie vorbei, die nun die Rolle von Celine hat,
Verfolgte und Verfolgerin wechseln. Alice und das Kaninchen sind
Teile eines Vexierspiels und beiden tauchen wechselseitig in ihre
Geschichte ein. Eine Geschichte, die keinem gehört, so wie der
Hutmacher Alice erklärt, dass es sinnlos ist, von seiner Zeit zu
reden.
Es gibt eine
komplexe Verschachtelung der Beobachtungsebenen, die den Zuschauer
mit den Akteurinnen zusammenführt: Der Zuschauer (Filmkamera)
beobachtet Celine und
Julie, wie sie sich langsam dem Geheimnis nähern. Diese beobachten
„televisionär“ die Akteure im Haus, während sie im Appartement
von Julie Drogen zu sich nehmen. Aber zugleich beobachten sie sich
selbst als Handelnde im Haus. Schließlich beobachten sie als
Handelnde im Haus die Figuren der Geschichte und versuchen
einzugreifen. Julie nennt sie „versteinerte Bilder von Hampelmännern“.
Während sich Celine allein aufmacht, um das Haus real aufzusuchen,
werden Bilder von Spielpuppen eingeblendet. Sollte das alles nur
noch ein Puppenspiel sein, leblose Figuren, Marionetten, die sich
eine Zeit an Fäden hängend, drehen und dann wieder dem Tod anheim
gegeben werden. „Ist es ein Traum oder eine Gedächtnislücke?“
fragt Julie. Celine hatte eine Puppe auf einer Bank liegen gelassen,
die Julie findet. Celine findet später mehrere Puppen in einer
Spielzeugkiste bei Julie. Sind die abstrakten Beziehungen der Puppen
das Gesetz, nach dem sich auch die Menschen bewegen. Geht es um
Voodoo? Julie hängt unter einem magischen Quadrat Puppen auf, eine
kopfunter, und erinnert an den Gehängten (pendu) aus dem
Tarot-Spiel, mit dem sie zuvor noch in der Bibliothek die Zukunft
weissagte. Aber hält sich die Zukunft an ihre Beschwörungen?
Die
Geschichten überlagern sich, tauschen Motive aus. Vorahnungen,
Deja-vus, dunkles Wissen verraten uns die Verbindungen zwischen den
Universen. "Viele-Welten-Interpretation", die der
US-Physiker Hugh Everett im Jahr 1957 formulierte: Ihr zufolge
verwirklicht das Elektron alle möglichen denkbaren Zustände -
jedoch in verschiedenen Universen. Bei jeder Beobachtung spaltet
sich das Universum in diverse Wirklichkeiten, in denen alle nach der
Quantenphysik denkbaren Zustände auch existieren. Der Begriff des
„Universums“ selbst ist falsch, weil er eine Geschlossenheit
suggeriert. Übrigens spalten sich nach der Theorie auch die
Beobachter, die sich in jedem Universum mit ihren jeweiligen
Beobachtungen fortsetzen. In der Geschichte von Celine und Julie
entsteht fortwährend die Frage, in welchem Grad die beiden
Beobachterinnen in welchem narrativen Strang eingebunden sind.
Nach Gilles
Deleuze strebt diese Geschichte einem Punkt zu, „wo Reales und
Imaginäres ununterscheidbar werden“ (Gilles Deleuze, aaO., S.
25). Diese Nichtunterscheidbarkeit von Realem und Imaginären, das
allein retrospektiv aufklärbar ist, nie aber im Moment der
Beobachtung, ist ein Kriterium für den Unterschied von guten und
schlechten Filmen. Wir kennen diese Traumsequenzen, die den Traum
entwerten, wenn sie ihn mit Weichzeichner einleiten oder gar durchführen,
als wäre es nichts als Schall und Rauch. Luis Bunuel hat in
„Belle de Jour“ diese Unterschiedslosigkeit interferierender
Wirklichkeiten demonstriert: Die Heldin tagträumt ihre sexuellen
Fantasien, ohne diese Träume anzuzeigen. Wirklichkeit dieser und
jener Ebene gehen nahtlos ineinander über, was sich insbesondere in
der pointierten Auflösung des Konflikts demonstriert. Ihr von ihren
ausgelebten Träumen betrogener Mann sitzt halbtot in seinem
Rollstuhl, nachdem er von einem frustrierten Liebhaber schwer
angeschossen wurde. Ein Freund erscheint, der das Doppelleben der
Ehefrau kennt und erklärt ihr, ihrem Mann nun alles zu erzählen,
damit der sich nicht schuldig fühlen müsse. Danach betritt die
Frau voll Scham das Zimmer. Plötzlich steht der Mann auf, er ist völlig
unverletzt und offensichtlich hat ihm auch niemand die
kompromittierende Geschichte erzählt. Nichts ist passiert. Nur der
Zuschauer hat gelernt, dass dem Kino nicht zu trauen ist und dass
die Traumwirklichkeit so „penetrant“ im wahrsten Sinne des
Wortes sein kann, dass die wirkliche Wirklichkeit keinen höheren
Wirklichkeitsgrad besitzt.
„Universum
und Blick, beide eine einzige und selbe Realität; die nur existiert
durch den Blick, den man von ihr aufnimmt, und dieser wiederum hat
nur Sinn in Bezug auf sie; -
unteilbare Realität, wo Erscheinung und Erscheinen sich vermischen,
wo die Vision die Materie zu erschaffen den Anschein erwecken kann
(Kamerafahrten bei Renoir), wie auch die Materie die Vision zu
beinhalten; ohne Vergangenheit, ohne Kausalitätsbezug. Eine einzige
und selbe Realität mit zwei Gesichtern, vermischt und eins im
erschaffenen Werk.“ (Jacques Rivette, Schriften, S. 11). Abgesehen
von dem Bezug auf Berkeley geht es hier um die Faktur einer
Wirklichkeit mit zwei Gesichtern. Die Vision erschafft die Materie,
zumindest scheint es so und gerade im Kino liegt zwischen Schöpfung
und Schein allenfalls eine virtuelle Sekunde. Ist nicht vielleicht
die Geschichte von Celine und Julie einem Kinderbuch entsprungen?
Die beiden Heldinnen spielen mit Puppen und immer wieder tauchen
wichtige Bücher auf, die mehr sein könnten als lediglich Lektüre.
Julie ist Bibliothekarin und Celine besucht sie in der Bibliothek
und blättert in Kinderbüchern. Als sie geht, hinterlässt sie in
dem Kinderbuch „Der kleine Tom“ eine Art Frauendoppel-Portrait,
das Julie herausreißt und in dem die Beziehung der beiden kürzelhaft
festgehalten wird. Tom ist - wie das Mädchen - Bewohner eines
Gartens, den er verlässt, um die Welt kennen zu lernen und wieder
dorthin zurückkehrt, als er erkennt, dass der Garten die wirkliche,
seine Welt ist und jene Welt dort draußen ihren Ruf nicht verdient.
Der Film erzählt
en passant in einer Variante, dass das Kind (wahrscheinlich)
gestorben ist. Gilles Deleuze formuliert das kinematografisch gelöste
Paradox so, dass das Mädchen „seinem unausweichlichen
Schicksal“ entrissen wird (Gilles Deleuze, aaO., S. 23). Wir
erleben eine Heilsgeschichte, die nur das manipulierbare Medium
spendiert, hier gilt sie nicht, die unerträgliche Leichtigkeit des
Seins, die Irreversibilität eines Lebens. Das ist Kino-Magie, die
eigentliche Magie, die selbst dem Schicksal ein Schnippchen schlägt:
„Es gibt kein lustigeres Feenspiel“ (Gilles Deleuze, aaO.).
Aber diesen Spaß bricht Rivette in einer Atmosphäre, die
teilweise beklemmend ist. In einem Interview sagt er auf die Frage,
ob „Celine und Julie“ ein lustiger Film ist: „Yes, but there
is also a certain terror. Not
in the tradition of Frankenstein films but more in the line of
Jacques Tourneur. I Walked with a Zombie (1943), Cat People (1942),
etc, are films that are intelligent and also stunningly crafted.” Die
untergründige Beziehung zu „Cat People“ drängt sich auf. „I
found that Berto is just like a cat“, erläuterte Rivette in einem
Interview mit John Hughes. In den Worten von Andreas Kilb: …“und
dass es im alten Europa noch immer keinen besseren Frauenregisseur
gibt als Jacques Rivette…“ (FAZ 24.08.2004).
Und verrät
uns das Intro des Films, dass sich Celine just aus der Katze in ein
“Menschen-Kaninchen” verwandelt hat? In der Tat bewegt sich
Juliet Berto in zahlreichen Szenen wie eine Katze, die spielt und
schnurrt und in ihren Gesten unberechenbar ist. Der Film beginnt und
endet mit den Bildern einer Katze, die keine andere als Schrödingers
Katze ist. „Ihr habt mich aufgeweckt – und dabei hatte ich einen
so schönen Traum! Und du warst mit dabei, Mieze, im ganzen
Spiegelland. Hast du das denn auch gewusst?“ (Lewis Carroll, Alice
hinter den Spiegeln, S. 142 f., Frankfurt/M, 1963). In der Folge
wird es komplex. Alice fragt danach, wer sich in wen verwandelt hat
und wer wen geträumt hat. Und schließlich ist es wahr, dass sie
vom Schwarzen König geträumt wurde so wie der Schwarze König von
ihr. D.h. es gibt keine vorgängige Wirklichkeit, sondern unsere
Wirklichkeit ist der Traum der Anderen – wie umgekehrt. Die
Anderen sind also Himmel und Hölle gleichermaßen.
Epilog
Warum heißt
der Film eigentlich „Celine und Julie fahren Boot“? Nach der
erfolgreichen Rettung des Mädchens machen alle drei eine sonnige
Bootspartie. Was hier als pastoral versöhnliches Bild präsentiert
wird, ist nur im Blick auf die Kurzgeschichte „The other house“
von Henry James verständlich. Dort wird das kleine Mädchen von
Rose ertränkt. Die Umstände der Tat, ja selbst ihre Urheberschaft
bleiben indes recht mysteriös, auch wenn zuletzt kein Zweifel ist,
dass Rose, im Film heißt sie „Sophie“, die Täterin ist. Sie
wird in der Kurzgeschichte vom Bootshaus aus beobachtet, allerdings
bleibt unklar, ob der Beobachter auch die eigentliche Tat gesehen
hat und nun schweigt oder es tatsächlich keine unmittelbaren
Tatzeugen gibt. Der Film bringt indes en passant das intermediale
Zauberkunststück fertig, „Effie“ (=Madlyn), das ertränkte Mädchen
in der Kurzgeschichte James´ zu retten. Das Kind wird also zwei Mal
gerettet, zunächst durch Flucht aus dem Haus in die bessere
Wirklichkeit respektive Imagination und dann in der sonnigen
Kahnpartie, die schließlich den Blick frei gibt auf die erstarrten
Täter. Das vermag der Film, er bietet sich nicht nur als das Leben
an, sondern zugleich als Korrektiv von Wirklichkeit(en) und
Fiktion(en). Rivette und seine Protagonistinnen schreiben die
Geschichte um, Literaturkritik wird cineastische Heilsgeschichte –
und das ist ein ironischer Gestus gegenüber der Unabänderlichkeit
des Schicksals, das so seines traurigen Ernstes beraubt wird, um in
der höheren Wirklichkeit des Films seine Schulden abzutragen.
Goedart Palm
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