Grass oder die Leiden des neuen Hyperion
Dichter sollen dichten. Die Morgenzeitung ist Anlass genug. Günter
Grass dichtet also über Griechenland. "Europas Schande" ist
ein Gedicht, das als Beispiel der uneinlösbaren Ansprüche der Poesie
einen guten Platz in den Schulbüchern erlangen sollte. Ob das Gedicht
poetischen Standards entspricht oder nicht, wollen wir dabei gar nicht
erst entscheiden. Das Gedicht leidet an einem völlig anderen Dilemma.
Es kommt gravitätisch daher, kontaminiert griechische Antike und neuere
Geschichte wild mit aktuellen Befindlichkeiten und glaubt, einen
moralischen Anspruch daraus herleiten zu können. Zeus schleudert
diesmal keine Blitze, sondern hilft den Rettungsschirm zu öffnen -
oder auch nicht. Was nun die Antike mit der Gegenwart zu tun haben soll,
vermag dieses Gedicht nicht anzugeben. Es säuselt moderat mythologisch,
um uns irgendwie klar machen zu wollen, dass Olymp, Götter und Antigone
doch nicht so schmählich enden dürfen. Ach ja, die Obristen gab es
auch noch… Das ist fundamental schlechtes Denken.
Die Historie wird an die Gegenwart geklittert, zieht sie in ein Meer der
bedeutungslosen Anspielungen herunter: Grass, mach uns noch einmal den Hölderlin.
Hier reklamiert einer Allkompetenz, wo die Auguren längst versauern.
Poeten suchen eine Form, eine wie auch immer stark hervorgetriebene
Bedeutung, wo ihr Metrum sich an fremden Parametern wund scheuert.
Wirklichkeit unterwirft sich solchem ästhetischen Regiment nicht. Es
gibt zahllose „Griechenländer“, die wir nicht erst seit seit Johann
Joachim Winckelmann als Konstruktionen mit bedingter Haltbarkeit
kennengelernt haben. Doch wer vertraut gar auf diese historischen,
kategorienlosen Multi-Überblendungen, wie sie uns Günter Grass nun
aufdrängt, wenn er aktuelle Probleme in zwölf Strophen erledigt.
Dringender Rat oder Packungsbeilage: Misstraut diesen Dichtern! In ihren
assoziativen Niederungen und Betroffenheitsgesten wird man nicht die
Wahrheit finden, die Wirklichkeit verdient. Wie wenig Poesie in
Gefahr und größter Not noch zu sagen vermag, dafür mag dieses Gedicht
stehen. Das „Rettende“ ist eine fragile Agenda, die längst von
einem anderen Metrum bestimmt wird.
Goedart Palm |