Einleitung
1. Einem zweifelhaften Gerücht zufolge soll sich Sophokles beim
öffentlichen Vortrag einer langen Passage seiner "Antigone" zu Tode gelesen
haben, weil der Text mangels Interpunktion keine Pause zuließ. Ein schöner Tod! Weniger
Zweifel an dem Wahrheitsgehalt dieser Schlussepisode eines unsterblichen Dichters kämen
auf, wenn Sophokles Surfer gewesen wäre, weil in den "zwischennetzlichen"
Beziehungen inzwischen auch ohne die Gnade von Interpunktion, Zäsur und Maß agiert wird.
Das literarische Internet präsentiert sich heute als wildwuchernder (Kon)Text aus Texten.
Unzählige Autoren schreiben an diesem Megatext und nie wird ein Mensch diesen
babylonischen Text je vollständig lesen.
Das Netz ist selbst ein alphanumerischer Text und seine literarische
Bedeutung hängt vom Erkenntnisinteresse ab. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass
die Schönheit eines Virenprogramms über die Erlesenheit solcher Texte hinausgehen mag,
denen wir auch in Zeiten postklassischer Beliebigkeit und Unübersichtlichkeit noch das
Attribut "literarisch" beimessen würden.
2. In der babylonischen Architektur des Internets finden sich zunächst
immer umfassendere Literatursammlungen - das ist alter, aber guter Wein in neuen
Schläuchen:
Das Projekt
Gutenberg - Deutschland mag die bekannteste Sammlung klassischer Texte sein, die
urheberrechtsfrei sind, und daher jedermann zum Sofortverzehr oder download präsentiert
werden. Auch wenn diese Projekte hier nicht detailliert verfolgt werden, ist immerhin
festzustellen, dass teilweise sehr schöne Sammlungen entstanden sind und bei Gutenberg.de
die Zugriffszahlen pro Monate angeblich in Millionenhöhe liegen. Eine ebenfalls sehr
gelungene, wenn auch viel kleinere Sammlung präsentiert Hans-Heinrich Fortmann: Deutsche Gedichte - Homepage
Hans-Heinrich Fortmann.
Auch wenn die Netzavantgarde das mitunter als
"Literatur im Netz" gering schätzt, gleichsam als Text im Behälter abtut,
werden auch hier Rezeptionsmöglichkeiten gefördert, die über den Lektürekomfort des
Printmediums weit hinausgehen. Welche Print-Bibliothek verfügt über solche Speicher und
Suchfunktionen?
Wenn hier von "Literatur im Netz" die
Rede ist, wollen wir aber solche Literaturprojekte betrachten, die versuchen, dem Medium
eine eigene Literatur abgewinnen. (Wer im Übrigen eine Einführung sucht, kann sie bei: Dieter E. Zimmer: Die digitale Bibliothek (zur
zeit down) sowie Berliner Zimmer finden.)
Neue Textsorten
Auf der Suche nach der Netzliteratur
1. Die Hoffnung, das kommunikativ revolutionäre Medium
"Internet" habe auch eine revolutionäre "Netzliteratur" als neue
genunine Literaturgattung vorgestellt oder gar große Kunstwerke geschaffen, hat sich
trotz der ausufernden Produktivität bisher nicht eingelöst. Dieser Tatbestand könnte
darauf zurückzuführen sein, dass das Netz trotz seiner technischen Möglichkeiten
letztlich die Literatur unberührt lässt, die neuen Möglichkeiten der Textproduktion
noch nicht völlig erschlossen sind oder aber die Leser diese Texte noch nicht richtig
lesen können. Fraglich ist, welche Veränderung das Medium "Literatur" durch
digitale Medien, allen voran das Internet, erfährt.
2. Genuine Netzliteratur dürfte darin erkannt werden, dass entweder
literarisch-technologische Veränderungen der Textualität nur im Netz möglich werden
oder/und das gesellschaftliche Umfeld der Texte sich auf die spezifische Technologie des
Internets stützt.
Wer Netzliteratur nur darin sieht, dass sie allein im Netz stattfinden
kann, also nicht auf Printmedien, CD-Roms oder irgendein anderes Medium übertragbar ist,
wird die folgenden Exkursionen zum größten Teil nicht für spezifisch halten.
Literaturwissenschaftler suchen Kategorien, es stellt sich große Befriedigung ein, wenn
viele Schubladen viele trennbare Phänomene beinhalten, die den horror vacui beruhigen und
so lässt sich immer wieder ein Bemühung erkennen, die Besonderheiten der
Internetliteratur gegenüber anderen Literaturen festzuhalten.
Florian
Cramer verwehrt sich etwa gegen die naiven Freiheitsverheißungen von
Hypertextualität und Multimedialität. So sei die Geschichte der Netzdichtung eine
Geschichte konzeptueller Missverständnisse, weil nicht realisiert werde, dass das Netz
selbst einen Code hat, den zu beeinflussen dessen spezifische Literatur sei. Sollten die
meisten Netzliteraten letztlich doch noch antiquierten Konzepten folgen?
Mag sein. Wer wie Florian Cramer einen puristischen
Ansatz verfolgt, der das Etikett "Netzliteratur" nur für das im Netz zu
Realisierende reserviert, wird "in der Kontamination von natürlicher Sprache und
Programmiersprachen....das größte Potenzial künftiger Netzdichtung" erkennen.
Cramer erinnert daran, dass "die Avantgarde des Schreibens in Computernetzen bislang
nicht Schriftsteller, sondern Programmierer (waren), die das Internet und seine
Unix-Software geschrieben haben."
Cramer verweist etwa auf die australische
Netzdichterin mez alias Mary
Ann Breeze mit Texten, die den Slang von Computercrackern mit Joyce´scen
Sprachspielen kombinieren. Weiterhin nennt Cramer die sog. Perl Poetry, eine in
Programmiersprache verfasste Netzlyrik, deren Programmcode auch als Lyrik goutiert werden
mag. Ein Beispiel vom Vortragenden garantiert falsch rezitiert - lautet etwa:
#!/usr/bin/perl
sleep;
pipe (drip, drip);
listen (drip, drip);
kill noises;
kill dripping;
close pipe soon, NOW;
sleep again;
listen (drip, drip);
sleep (not now);
exit (do it);
accept destiny, now;
alarm neighbors;
get the keys now, &
#open (up, &survey the);
crypt of,darkness;
not a single; pipe here,anywhere;
Obzwar Cramer in seinen neun Thesen herausfinden will,
"Warum es zu wenig interessante Netzdichtung gibt" erscheinen mir die von ihm
gegebenen Beispiele einer genuinen, aber ebenso raren wie esoterischen Netzliteratur
letztlich nichts anderes zu sein als der Versuch einer Antwort auf die Frage, ob jenseits
menschlicher Poesie eine Maschinenpoesie denkbar ist. Auch wenn man diesen Glauben mit
guten Gründen besitzen kann, bleibt die Frage, ob Menschen in Zukunft noch die geeigneten
Rezipienten dieser Art von Literatur/Poesie sind. Einen Reiz solcher Sprachspiele auf der
Ebene des Programmiercodes mag bestehen, aber mir scheint es falsch, den Code gegen das
Symbolsystem "Sprache" auszuspielen, wie immer auch diese Sprache technisch
generiert wird. Das wäre etwa so, als würde man das menschliche Sprachvermögen auf die
zu Grunde liegenden physiologischen Prozesse zurückführen und in deren Betrachtung auf
die Sprache des Menschen schließen. Was für das Programm oder den Code signifikant ist,
avanciert dadurch noch lange nicht zum Signifikanten oder Signifikat einer Literatur, die
bei aller Verschiedenheit ihrer Anlässe ihre Gemeinsamkeit in der menschlichen Sprache
findet.
Aber das Spezifikum der Netzliteratur ist nicht nur der Code, sondern
auch die virtuelle Gesellschaft, in der sie entsteht. Das Netz ist in seiner Struktur ein
konnektives, interaktives Medium mit einer gesellschaftlichen Potenz, die wir bisher nur
in ihren Anfängen erkennen. Es verknüpft auch das, was nicht zusammengehört. In diesem
sozialen Ambiente entstehen auch solche Literaturen, die zwar in andere
Medienzusammenhänge übertragbar wären, aber ihre Geburt, ihre Ausstrahlung und ihre
Bedeutung im Netz erfahren haben. Insofern sind die Entstehungsbedingungen solcher
Literatur, wenn auch nicht ihre technologische Realisation, netzspezifisch.
II. Vom Gesamtkunstwerk zum Hyperkunstwerk
Die permanente Beschwörung der mit dem Netz aufgerüsteten
Multimedialität bietet zunächst aber auch wenig formale oder inhaltliche Aspekte, ein
Kunstwerk zu schaffen, das über das klassische Symbolsystem der Sprache und die mehr oder
weniger weit reichenden Formalisierungen der Literatur hinausgehen würde. Die Aufrüstung
mit Bildern, Animationen und Tonspuren verspricht vordergründig zwar das medial
integrative Kunstwerk, meinetwegen mag vom Gesamtkunstwerk sprechen, aber das ist kein
literarisches Kriterium, sondern nur eine mediale Beschreibung von Möglichkeiten. Wer
hier ein poetologisches Modell sucht, wird zum ehestens von einer technologischen
Literarizität sprechen, in der die Technik der Literatur auf die Sprünge hilft. Was
heißt das?
III. Dichtende Maschinen
1. Eine noch kuriose, aber in Zukunft mit
hohen Erwartungen verbundene Textproduktion, die vornehmlich technologisch ausgelöst
wird, sind Textgeneratoren wie etwa Gedichtmaschinen: Chris Seidel`s Poetry Generator, Poetron4G - Günters Genialer Gedicht
Generator, Lyrik-Maschine von Martin
Auer. Streng genommen handelt sich hier in der Tat (oder im Wort) nicht um
Internet-Literatur, sondern um Textgeneratoren, die mit mehr oder weniger gelungenen
Algorithmen und semantischem Material Texte hinter - in einigen geglückten Ausnahmen -
auch vor dem Horizont der Willkürlichkeit entstehen lassen. Hinter diesem Phänomen
verbirgt sich die offene bzw. umstrittene Fragestellung, ob es Literatur jenseits
menschlicher Kreativität gibt. Semantische Ausstattung, Random-Faktoren, Komplexität des
poetischen Codes wären Kriterien für die Qualität dieser Literatur. Die Frage der
literarischen Potenz solcher Maschinen beantwortet sich aber letztlich allein in der
Lektüre. Poetron4G etwa gelingt es mitunter auf Grund von vorfabrizierten und vom
"Urheber" beigesteuerten Textelementen Gedichte zu machen, die sich im Nebel
surrealer Poesie verlieren und hier und da ein wenig Erstaunen oder gar Sinnerleben beim
Leser hervorrufen mögen.
Doch auch jenseits dieser bedingten Einflussnahme des
Leser/Autors von Texten poetischer Generatoren gibt es auch nichtmenschliche
Textproduzenten wie etwa Brutus,
der in seinen Kurzgeschichten das Thema Betrug variiert.
2. Wenn das Misstrauen gegenüber dem hirnlosen
Textproduzenten zurzeit noch seine Berechtigung haben mag, könnte diese Entwicklung eine
ähnliche Verlaufsform finden, wie sie etwa bei Schachcomputern zu beobachten war. Das
glaubt zwar niemand, der den menschlichen Faktor für eine nicht in Maschinensprache
auflösbare Größe hält, aber auch Literatur folgt Regeln, so komplex und
unnachvollziehbar sie auch zurzeit noch erscheinen mögen.
IV. Digitale Collagen
Nicht netzspezifisch im strengen Sinne, aber im Netz vielfach zu
finden, sind digitale Text/Bild-Collagen. In Zeiten, in den die literarische Welt auf
"copy und paste" hin ohne Mühe unendliches Collagenmaterial bereithält,
schlägt auch die Stunde des Collagenromans erneut. Heute muss niemand mehr abschreiben,
keiner muss wie weiland Max Ernst mit feiner Schere in endlosen Stunden das Material
präparieren, bis es sich in die formale Fantasie des Autors einpasst. Wer also wie der
Vorvater des Surrealismus, Lautreamont, von der Begegnung einer Nähmaschine und eines
Regenschirms auf einem Vivisektionstisch träumt, findet im Netz seine Visionen immer
wieder neu bestätigt.
Unter http://www.softmoderne.de/SoftMo99/glaser/index.htm
präsentiert etwa Peter Glaser den Roman "Licht, Berlin", in dem er sich ein
Stelldichein mit den Autoren Walter Benjamin, Peter Handke, Marshall McLuhan gibt. Dieser
Text hat diverse Zugänge, sodass man in den Inhalt nach Anfängen (A - Z)
Inhalt nach Autoren oder den Inhalt nach Komposition einsteigen kann. An dieser Stelle
organisiert der Autor seinen Text in den Fremdtexten, es erinnert an die Arbeit
historischer Kommentatoren, die an den Rändern weiter geschrieben haben. Glaser erfüllt
sich den, wenn auch verdinglichten Traum, mit Großmeistern der Zunft ins Gespräch zu
treten. Solche Romane sind kleine Zeitmaschinen, die indes jedem Leser geläufig sind, der
seinen Verstehenshorizont im Geflecht der Literaturen sucht.
Ein weiteres Beispiel für einen Collagenroman, der sich
zugleich diversen Bildmaterials versichert, ohne einen Lektüremittelpunkt zu forcieren,
findet sich bei Michael Rutschky "Berlinroman" -
eine Arbeit, die sich m.E. nicht wesentlich von den Arbeiten unterscheidet, die Rutschky
vor den Netzzeiten präsentiert hat.
V. Multiperspektivität
1. Die Architektur des Netzes folgt einer
paradoxen Verräumlichung. Räume werden dynamisiert, stehen
gleichweit entfernt - jederzeit bereit, sich zu virtuellen Szenarien zusammenzuschließen.
Kaum lässt sich eine diskrete Trennung der Räume von der Temporallogik des Netzes
trennen. Fast scheint die Relativitätstheorie sich mit ihrem Wissen von der Verschmelzung
von Raum und Zeit auch als Makrotheorie des Netzes anzuempfehlen. So ist das Netz weder
zeit- noch raumlos, aber es inszeniert Architekturen und Zeitschemata als fiktionale
Beruhigungen der user, die hier eine Heimat suchen, die zumindest ein wenig
"Netzwärme" spenden soll.
Mit einem Wort: Das Netz ist
unübersichtlich und auch Suchmaschinen und ähnliche Zusammenfassungen von
"content" lassen den fröhlichen surfer oft vergeblich um Orientierung kämpfen.
Wer hier wenigstens noch den Rest eines Überblicks über neueste Tendenzen sucht,
Literatur etwa in den umfassenderen Rahmen der Kultur des Netzes stellen will, findet
anspruchsvolle Aufklärung bei Hotwired
und Telepolis für beide Namen gilt: est
omen. Telepolis ist kein reines Kulturmagazin, sondern ein Forum für netzspezifische
Themen, das längst deutlich gemacht hat, dass es ein virtuelles Leben nach oder mit dem
realen gibt.
2. Multiperspektivität als Fortsetzung der Literatur mit
den Mitteln des Internets findet man dagegen, aber auch hier gilt wie für viele Projekte,
fand man in dem Werk "Die
Aaleskorte der Ölig" (down): Dieses Projekt präsentiert eine
Geschichte, die durch den Leser variiert werden kann: Die Vorlieben oder Motive des Lesers
werden zumindest tendenziell zum Steuerungsmoment der Erzählperspektiven. Ähnlich
eröffnet "Looppool"
(down) Variationsmöglichkeiten des Rezipienten über einen Popsong. Das Projekt C.O.R.E. simuliert
einen "Computer im Computer", der eine Szene aus dem Film "Casablanca"
zu immer absurderen Konstellationen abwandelt, ohne dass die Lust daran zu einer
schlüssigen Semantik aufschließen würde.
Ein typisches, mit viel Lob begleitetes Beispiel einer
topografischen, multiperspektivischen Bildtextgeschichte findet sich unter http://www.teleportacia.org/war/- (http://www.cityline.ru/~olialia/war/)
Die Geschichte spaltet sich in Fenster, die immer kleiner werden, bis schließlich
17 verschiedene Fenster geöffnet sind und der Name der Autorin Olia Lialina als
Email-adresse erscheint. Diese Autorin hat den Anspruch Geschichten, ggf. Hunderte von
Geschichten simultan zu erzählen. Dabei kommt es der Autorin auf den Rahmen, will sagen:
die Rahmen an. Da wir in einer "Windows-Welt" leben, mögen Rahmen und Fenster
vielleicht die stärksten Metaphern unserer Schnittstellenlebensweise sein. Im Gegensatz
zu Film und Video entstehen jedenfalls so simultane, parallele, assoziative
Erzähltopografien, die etwa die vermeintliche Linearität des Mediums "Buch"
aufbrechen sollen. In der Tat verbindet sich mit dieser labyrinthischen Literatur, die
sich im besten Sinne verzettelt und klassische Erzählhaltungen ablehnt, die plotgläubig
den Leser in eine Richtung mitziehen, ein vernetzter Erzählmodus. Auch auch das Buch ist
ja nur vordergründig ein lineares Medium. Wer hätte nicht auch Printtexte als
multiperspektisch erfahren, auch in Büchern lässt sich surfen, wenngleich die
"Regieanweisungen" des Autors eine stärkere Bindung der Lektüreeinrichtung des
Lesers bedingen als vielfach verzweigte Hypertexte.
Jedenfalls erscheint das genannte Beispiel noch erheblich
verbesserungswürdig zu sein, insbesondere weil das verwendete Material sehr beliebig
eingesetzt wird. Das Werk mutet wie ein Comic an, der zwar lernt, in verschiedene
Richtungen zu laufen, d.h. einige Schritte zu tun, aber Textfetzen und nicht auslotbare,
weil narrativ nicht ausformulierte Figurenkonstellationen bieten dem Leser oft nur
assoziatives Material.
Das Problem des Netzes und auch der Netzliteratur ist im Übrigen
zuletzt der Mangel an assoziativen Schnittstellen. Die Synapsenfreudigkeit präsentiert
inzwischen nicht nur eine literarische, sondern eine allgegenwärtige multithematische
Aufdringlichkeitskultur, während der Leser gerade im Verlust eines literarischen
Gravitationszentrums Verbindlichkeiten, Regieanweisungen etc. sucht.
3. Einen Schritt weiter geht Olivia Adler mit
ihrem begehbaren Roman. Die Autorin
stellt dazu fest: "Der Beitrag hat sich unter dem ständigen Feed-back der Leser von
seiner ursprünglichen Form wegbewegt und eine Art Evolution durchgemacht. Die Zeitleiste
am oberen Rand ist das zentrale Navigationselement, der Text ist immer der gleiche, das
erste Kapitel eines Romans, der offline entsteht und für den ich im Dezember 1997 die
cafe-nirvana.com Domain reservierte, um einen Teil der Geschichte im Netz wahr werden zu
lassen. In diesem Roman geht es um das Internet im Jahr 2044, um künstliche Intelligenz,
Virtual Reality und die Frage, inwieweit virtuelle und greifbare Realität noch
voneinander unterschieden werden können...Es wird nicht mehr einfach nur gelesen, sondern
Rätsel müssen gelöst werden, der Text wird mit Illustrationen und Tönen aufgelockert,
eine Kreuzung zwischen Computerspiel und Comic, das aber seine textliche Herkunft nicht
verleugnen kann. Interaktivität gibt es in Form von Chat, Messageboard und der
Möglichkeit, dem Autor per e-mail oder Formular Feed-back zu geben. Die Geschichte wird
nicht mehr erzählt, sie findet statt - im WWW. Die chronologische Reihenfolge ist
aufgebrochen - der Leser wird zum Detektiv auf Spurensuche, deshalb ist der Ausgangspunkt
auch eine Abfrage in einer Suchmaschine. Die Geschichte hat sich bereits ereignet, und der
Leser recherchiert. Die Figuren haben sich verselbstständigt. Sie haben Homepages, sie
schreiben e-mails, sie verewigen sich in Gästebüchern und Foren, und sie werden von
Suchmaschinen gefunden. Natürlich ist diese Suchmaschine nur ein Fake, aber wenn die
Seiten nur lang genug im Web wären, würden sie früher oder später tatsächlich in den
Listings von Suchmaschinen auftauchen... Natürlich haben diese Charaktere kein
Eigenleben, der Autor steht immer als Puppenspieler dahinter. Noch sind wir nicht so weit,
dass wir KI's ins Web schicken können, die ihre eigenen Seiten bauen, ihre eigenen Mails
schreiben und sich selbst weiterentwickeln. Aber wir sind nicht mehr weit davon entfernt.
Die Geschichte ist Realität geworden."
Auch wenn hier Anspruch und Realisation nicht
deckungsgleich sind, ist dieser Ansatz vor allem deshalb so interessant, weil die
Erzählung nicht mehr als ein abstraktes Symbolsystem entsteht, das eben gelesen werden
muss und nur im Bewusstsein des Lesers den Figuren ein Sein verleiht. Hier entsteht ein
narrativer Raum, eine Erzähltopografie mit Akteuren, die sich potenziell
verselbstständigen. Die fiktiven Figuren, die Helden treten aus dem Rahmen der
auktorialen Festlegung hinaus und beginnen ein Eigenleben zu führen.
4. Einen sehr ähnlichen Anspruch verfolgen auch die sog. MUDs
(Multi-User-Dungeons, Multi-User-Domain, Multi-User-Dimension), die einer großen Anzahl
von Spielern die Beteiligung an einem Spielszenario eröffnen, in dem sie zu
"personae" werden, dh. sich Masken aufziehen und etwa mittelalterliche Barden
oder Helden werden. Das ist in unserem Zusammenhang deshalb bemerkenswert, weil sich auch
hier der Mythos aus der Erzählform löst, dramatisiert werden kann und sich
multiperspektivisch fortspinnt, ohne einem "plot" zu folgen. Hier wird
Cyberspace zur literarischen Bühne, die Mitspieler kommunizieren über die von Ihnen im
Rahmen des "dungeons" eingerichteten Räumen und vor allem Texten, die mehr oder
minder literarisch sind. Sherry Turkle berichtet immerhin von Hochzeiten und intimen
Begegnungen in Cyberspace, die auf Grund der Rollenprofile den Usern mitunter
Erlebnisstoff bieten, den sie in "Real Life" nicht hätten.
Wie hier, aber auch an zahlreichen anderen Stellen im Netz auffällig
ist, treten viele User mit Fantasienamen, Pseudonymen, konstruierten und fabulierten
Identitäten auf, führen eine zweite, dritte, ja multiple Existenz oder entscheiden sich
für virtuelle Travestien, dh. ändern sogar ihr Geschlecht. Hier werden künstliche
Identitäten hergestellt, die im Cyberspace einen Anspruch auf Eigenleben reklamieren,
mitunter aber auch Ausgänge in die "wirkliche Wirklichkeit" haben. Vor kurzem
wurde etwa die Mailingliste Netzliteratur durch einige Teilnehmer verunsichert, die sich
unter Leihidentitäten eingeschmuggelt hatten, und von denen einer sich als alternder Nazi
auswies. Die damit verbundene Konfusion ist exemplarisch in dieser Welt der Kürzel und
Täuschungen, sodass sich auch hier literarische Stoffe einleiten, die zwar klassische
literarische Provenienzen haben (Romantiker mit ihren Doppelgängerfantasien), aber doch
in Digitalien in viel umfassenderer Weise virtualisiert werden kann.
In der Folge sind eben auch Szenarien denkbar, in denen sich Idee und
Figuren von ihrem Schöpfer lösen und eine virtuelle Realität produzieren, die auf Grund
der bedingten technologischen Möglichkeiten zwar noch reduziert gegenüber unserer
Ausgangswirklichkeit erscheint, mit Sicherheit aber in der Folge die Fantasien immer
lebendiger im wahrsten Sinne des Wortes werden lassen. Allerdings hebt sich
diese Literatur idealtypisch zuletzt selbst aus, weil sie nicht mehr eine
Beschreibungsebene der Welt, sondern selbst Welt sein will. Der Leser ist keiner mehr, er
wird zum Akteur unter Figuren, die eigene Wege gehen und die Geschichte ist auch keine
mehr, weil sie erst im Handeln entsteht. So weit sind wir zwar noch nicht, aber hier wird
besonders deutlich, dass die Literatur in zukünftigen Hypermedien ins Leben, auch wenn es
zunächst nur als virtuelles reduziert erscheint, zurückgestoßen bzw. erhoben wird.
VI. Hypertext
1. Hypertext ist zunächst nichts anderes als
getrennte, mehr oder weniger selbstständige Texte durch sog. Hyperlinks zu konnektieren.
Ihre Lektüre erfolgt durch Browser, also Softwareprogramme, die eine Schnittstelle
zwischen Text und Leser herstellen. In diesem Sinne ist das Netz selbst ein Hypertext.
Bekannte Hypertextprojekte, die dieses Strukturmoment literarisch nutzen und zugleich auch
diverse Theorien dieser Textweisen präsentieren, finden sich bei Eastgate, Mark Amerikas Grammatron und den Hypertext-Experimente des Florida Research
Ensemble. Ein Klassiker ist bereits Michael Joyces Afternoon (Vgl. unter
Eastgate).
Fließend ist hier mitunter der Übergang zu
Hypermediadokumenten, die zugleich auch Abbildungen, Ton, Filme und Animationen
verarbeiten. So können Seiten etwa durch dynamische HTML-Effekte so präpariert werden,
dass die Texte in einer bestimmten Weise aufladen etwa einfliegen oder sich langsam
auftragen bei der Berührung von Texten oder Bildern sich unter den Augen des
Lesers verändern. Hier lässt sich zum ehesten von einer Taktilität des Textes sprechen,
der gegenüber klassischer Literatur eine neue Wahrnehmungsebene schafft. Im Übrigen
lassen sich digitale Texte ohnehin durch Suchfunktionen auch jenseits der Autorenvorgaben
hypertextualisieren.
2. Die Verweisungsphänomenologie
des "Hyperlinks" in der literarischen Arbeit ist m.E. noch wenig erschlossen,
obwohl die literarischen Vorläufer diese Technik längst erkannt haben, wenngleich sie
diese Konstruktion noch nicht technisch realisieren konnten.
Bereits ältere Autoren wie etwa Sterne
haben narrativ geschlossene Strukturen in Frage gestellt und dem unabgeschlossenen Text,
der nichtabschließbaren Erzählung mehr Wahrheit beigemessen das zeigt etwa
Sternes Erzählstruktur der ständigen Abschweifungen, Aufschübe und scheinbar
unvermittelten Einfälle. Aber selbst die über Jahrhunderte ausgedehnten
Redaktionskollektive diverser Weisheitsbücher erscheinen selbst als Paradigma der
Unabschließbarkeit des Mythos, seiner Veränderlichkeit und Relativierungen im Lauf der
Reproduktion. Jede Fiktion eines geschlossenen Textes bestreitet sich selbst in
kollektiven Redaktions- wie Rezeptionsgeschichten, sodass Umberto Eco zu Recht vom offenen
Kunstwerk sprechen konnte, das sich immer wieder neuen Lesarten stellt.
Die frühe Literatur des 20. Jahrhunderts, etwa Joyce,
Döblin, aber auch Thomas Mann, später die Protagonisten des noveau roman oder Arno
Schmidt, haben diese Form der Intertexualität ausgebaut. Hier wurde mit unterschiedlichen
Experimentierlüsten eine Vielzahl von Textsorten vorgestellt, die der Konstruktion von
Collage, Montage bzw. parafilmischen Schnitttechniken folgten. Diese Techniken entsprangen
nicht nur der Adaption anderer künstlerischer oder technologischer Konstruktionsformen,
sondern folgten einer tiefen Verunsicherung gegenüber Schließungen, Einheitsprinzipien,
Weltbildern und allen übrigen Formen klassischer Selbstverteidigung gegen eine
Komplexität, die nicht mehr in der reduktiven Textproduktion verarbeitet werden kann.
Vereinfacht: Versagen Ideologien oder idealische Muster der
Welterschließung, bricht auch die Form auf. Geschlossene Formen werden dann oft zu
Abfallproduktionen, die den Trivialkünsten vorbehalten bleiben. Nun sind aber selbst die
trivialen Geschichten in cyberspace oder in der neuen software längst zu infiniten
Geschichten mutiert, die nicht länger auf Geschlossenheit zielen. Es wächst jetzt auch
das zusammen, was nicht zusammengehört.
Auch wer gegenüber Korrespondenztheorien der Literatur, der relativen
Spiegelung von Welt und Text skeptisch ist, wird nicht die Wirkungsmacht solcher
Bodenverluste auf Literatur abstreiten können. Von der Inflation des Romans als der Form
der Formlosigkeit bis hin zur heute grassierenden "Hypermania" wird die Hoffnung
auf einen archimedisch festen Punkt der Weltenthebelung vereitelt.
3. "Hyperlinks" sind danach nicht nur die vorläufige Hochform
der künstlerischen Montage im Internet, sondern "bodenlose"
Fortbewegungsmittel, die unausweichliche Exkurse, autonome Schnittstellen der Rezeption,
Abschweifungen und Aufbrechungen der Form zum beherrschenden Konstruktionsprinzip einer
Literatur werden lassen, die eben keinen Formkanon mehr besitzt.
Ein weniger anspruchsvoller, aber sehr sinnvoller
Einsatz des Hyperlinks sind aber gerade solche Verweisungssysteme, die eben
Literaturhinweise, Fußnoten oder Wissenshintergründe vermitteln, ohne den eigentlichen
Text zu befrachten. Längst ist im literarischen Netz jedenfalls eine Selbstbescheidung
der Autoren zu beobachten, Hyperlinks vorsichtiger einzusetzen. Weitere Informationen zum
Thema: Hyperfiction Linkliste.
VII. Work in progress/Kollaborationen
1. Hypertrophische Texte
Geschichten, die nie zu Ende gehen, scheinen auf Internetautoren
einen mächtigen Reiz auszuüben. Hier spiegelt sich die unabgeschlossene und
unabschließbare Struktur des Netzes in der literarischen Erzählweise. Jede Lektüre ist
in ihren Konnotationsmöglichkeiten an die Textverfestigung, den Verlauf und das Ende
einer Erzählung gebunden. Aber es gibt auch medial-technische Gründe: So stößt das
Buch sehr schnell an die Grenze des Mediums kiloschwere Werke wie etwa
"Zettels Traum" von Arno Schmidt sprengen das Printmedium.
1.Ein Medium, das dagegen über gewaltige
Speicherkapazitäten verfügt, verleitet dazu, auch diese Grenzen der Textverfassung
aufzubrechen, wie die etwa immer höherragenden "Die Säulen von Llacaan".
Dabei handelt es sich um eine Narration, die drei Anfänge und mehrere Fortsetzungen der
Auswahl des Lesers zur Verfügung stellt. Sollte in dieser Struktur der Leser seine
Wunschlektüre nicht finden, kann er selbst eingreifen und dem webmaster seine Lektüre,
die zugleich Text ist, vermitteln. Davon wird offensichtlich rege Gebrauch gemacht. Der
Leser begegnet nicht mehr einem linearen Inhaltsverzeichnis, sondern komplexen
Baumstrukturen, die entsprechend vielfältige Zugangsweisen eröffenen. Hier wird zugleich
klar, dass das Netz eine wuchernde Topografie ist, die in ihrer Virtualität auch das
Wunschdenken von usern zu befriedigen verspricht.
Zwar sind die vielen "bugs" und "broken
links", die auch den Vortragenden bei der Vorbereitung quälten, sowie unerträgliche
down- und upload-Zeiten noch ein Riegel vor der endgültigen virtuellen Herrlichkeit, aber
wie die Werbung weiß: Man arbeitet daran. Weiteres Beispiel für alternative
Handlungsverläufe "Zeit für die Bombe".
2. Vielleicht das prominenteste Beispiel einer Geschichte
in Entstehung ist: Novel in Progress: MARIETTA von Matthias Politicky (down?). Politickys
Schreibforum kann zwar gleichsam in Echtzeit betrachtet werden, ist aber nur vom
Schriftsteller zu betreten. Interessant ist hier die Entstehung und Verknüpfung des Werks
zu sehen, das eine Fortschreibung des "Weiberroman" von Politicky ist. Daneben
existiert eine Parallelforum, auf dem sich mehrere Autoren eigenen Fortsetzungen des
Romans widmen. Auch Netzbesucher können hier ihre Vorschläge und Fortsetzungsideen
präsentieren. Politickys Projekt hat viel Resonanz bis zu 10.000 pageviews im
Monat - , aber der Schriftsteller äußerte Zweifel, dass das Werk überhaupt gelesen
wird, weil surfer zumeist Zeitgenossen seien, die Ablenkung und nicht Kontemplation
suchen. Aber auch hier hat die vormalige Euphorie Polityckis über die Koautoren
"Zehn User haben regelmäßig mitgeschrieben. Wahnsinn, was dabei herauskommt"
nicht lang gehalten. Politycki hat mitnichten diese Ideen, etwa eine uneheliche Tochter
seines Romanhelden, akzeptiert, sondern die "Userkiste" (Der Spiegel Nr. 38,
18.09.2000, S. 243) wieder ausgeräumt und letztlich doch "Ein Mann von vierzig
Jahren" selbst geschrieben.
3. Aber es geht auch anders. Die Rollenveränderung des
klassischen Autoren-Leser-Verhältnisses wird durch die technische Vereinfachung markiert,
gemeinsam, ja in großen Gruppen Fließ- oder Wandertexte digital zu schreiben. Der Leser
als Autor findet sich auch in Kooperationsprojekten wie: Add-venture, Hyperknast, Claudia Klingers Human Voices - Texte aus irgendwo. Die
klassische Autorenfunktion wird zu Gunsten einen offenen Autorenzusammenhangs verwischt,
dem sich der einzelne Teilnehmer mehr oder weniger ein- und unterordnet.
Die Hypertextualisierung in diesem Fall ist nicht nur
technisch bedingt, Texte hinter einander zu montieren, sondern auch die
Kommunikationserleichterungen zwischen den Autoren per email oder auf elektronischen Foren
führen eine weitere Ebene des Hypertextes ein. Hier wird das vormalige "Textzentrum
Autor" zu Gunsten einer polyfonen Textlichkeit zerstört, deren Urheber ein mehr oder
minder anonymer brainpool ist. Literatur wird zum open-source-Projekt, das keine klaren
Ränder mehr hat, weil die Textebenen auch in öffentliche oder private
Emailkorrespondenzen und Foren hineinreicht. Zwar ist auch der traditionelle Autor durch
Fanpost erreichbar, aber die ungleich rasantere Verbindung, die nicht nur durch Email,
sondern auch durch Foren, newsgroups und Mailing-Listen gelegt werden, führt zu einem
neuen Selbstverständnis des Lesers. Die Geschichte wird exhibitioniert, der unmittelbaren
Kritik anheim gestellt. Leser greifen ein. Das bekannteste Beispiel für eine solche
Newsgroup ist de.alt.geschichten, aber auch etwa bei
Yahoo gibt es elektronische Kaffeekränzchen mit teilweise bizarren Themen.
Hier findet eine unaufhaltsame Rollendiffundierung statt,
in der der Leser zum Autor wird wie umgekehrt. Die getrennten Rollen
der Autoren und Leser werden nachhaltiger erschüttert als es bisherigen litarischen
Formen je möglich war. Der Leser, ohnehin jeder Rezeptionsästhetik nach ein Koautor,
emanzipiert sich nun über die auktorialen Maßgaben des Textes hinaus zum Produzenten
seines eigenes Textes. Wer digital liest, seine elektronischen Spuren im Netz
hinterlässt, schreibt zugleich seine eigene "Hypergeschichte".
4. Viele Stimmen, die zusammen kommen, singen aber
noch lange nicht im Chor, weil weder Tonart, Takt noch Rhythmus vorgegeben sind. Das
"Mitschreiben am
längsten Gedicht der Welt" präsentiert etwa einen poetischen Wildwuchs,
der ohne zentrale Idee oder Autorenzentrum letztlich nur der Ausverkauf einer ohnedies
kränkelnden Gattung ist, die allein durch den technologischen Overkill, eine ungehemmte
Mitschreibelust beherrscht wird. Zumindest eröffnet sich hier aber vielleicht in Zukunft
die Chance, dass sich virtuelle Autorenkollektive finden, die ähnlich den
Autorengemeinschaften klassischer Literatur, wie etwa den berühmten Goncourts oder den
Strugatzki-Brüdern eine Textualität entwickeln, die über das Vermögen des Einzelnen
hinausgeht. Ferner: Baal lebt".
5. Einen literarisch weniger präteniösen, aber sehr
konstruktiven Ansatz einer extensiven Gedächtniskultur verfolgt das groß angelegte
Fortschreibungswerk Generationen-Projekt
von Jan Ulrich Hasecke. Der Projektleiter will Geschichtsschreibung von unten betreiben
und meint dazu: "Wie war das noch? Damals als die Mauer gebaut wurde, als der
Minirock für Skandale sorgte, als die 68er auf die Straße gingen, als die RAF die
Bundesrepublik terrorisierte, als Biermann ausgebürgert wurde, als Tschernobyl
explodierte, als die Mauer fiel, als ..." Hasecke fordert den Leser auf, seine
persönlichen Erinnerungen an wichtige Ereignisse der letzten 50 Jahre aufzuschreiben.
Hier werden Geschichts- und Gedächtnisräume aufgebaut, in denen alle Formen der
Literatur Platz finden sollen, von Tagebuchnotizen bis hin zu Hypertexten, sofern das
jeweils geschilderte Ereignis auch Referenzen an eine kollektive Erinnerungskultur
besitzt. Auch das ist sicher kein netzspezifisches Angebot, wie etwa das
Auswertungsprojekt persönlicher Geschichten bei Walter Kempowskis "Echolot"
zeigt. Aber erst unter den Bedingungen des Internets versprechen solche Projekte die
Stollen in das Bergwerk "Geschichte" viel tiefer zu legen. Die
Unabgeschlossenheit solcher Vorhaben und die potenziell unbegrenzten Speicherkapazitäten
des Netzes versprechen eine Geschichtsarbeit, die tendenziell nichts mehr durch den Rost
des Vergessens schicken. Aber auch hier werden Leser wie Mitschreiber mit der Frage
konfrontiert, ob die Aufgabe des Literaten bzw. literarischen Historikers nicht eher darin
bestünde, das Material zu sichten, auszuwählen und den Ballast zu vernichten.
2. Kollaborationen
ABSOLUT HOMER (1992) behauptet von sich, ein
Unternehmen zu sein, das wahrscheinlich das gewaltigste Stück Concept-Art auf
literarischem Gebiet darstellt. Der Text ist multiautorisiert, in Sprüngen stößt man
jeweils auf den anderen Autor. 22 Autoren aus Österreich, Deutschland, Frankreich, Ungarn
und Japan übernehmen den Auftrag an Land, die Odyssee, den Beginn der nachweisbaren
Autorenliteratur, an deren mutmaßlichem Ende ein weiteres Mal zu schreiben. Ausgehend von
der These der Wiener Ethnologin Christine Pellech, die Odyssee sei der Reflex einer
phönizischen Weltumsegelung, suchen (keine hier verfügbaren links!) Walter Grond, Elfriede Czurda, Ferdinand Schmatz, Deszö Tandori, Julian Schutting, Yoko Tawada, Patrick Deville, Ingram Hartinger, Sabine Scholl, Kurt Neumann, Hans Jürgen Heinrichs,
Ludwig Fels, Lucas Cejpek, Josef Winkler, Helga Glantschnig, Jürgen Ritte, Jean Pierre Lefebvre, Günther Freitag, Angela Krauß, Ilma Rakusa und Paul Wühr die Stationen
der Odyssee zwischen Sinai und den
Lofoten, den Niagarafällen und Feuerland, Australien, Indien und Arabien neu auf. ABSOLUT
HOMER will mehr als "die Paraphrase eines von Homer bis Joyce klassisch gewordenen
Textes" sein. "ABSOLUT HOMER sichtet angeblich "die Trümmer und Scherben
des Museums Europa in der Welt und erzeugt auf diese Weise ein weit verzweigtes, zum
aktiven Lesen einladendes Netz von Korrespondenzen und Überlagerungen. ABSOLUT HOMER
erkundet damit auch die Idee der Autorschaft unter den Bedingungen zeitgenössischer
Literaturproduktion und entdeckt den Autor als Unternehmer, Manager, Archivar, Sekretär
und Auftragsempfänger."
Das klingt gewichtig und sagt doch wenig.
Selbstverständlich bestehen zwischen Autoren Schnittstellen und wenn sie diese auch nicht
selbst realisieren, war gerade die Literaturwissenschaft und kritik immer daran
interessiert, die vielfältigen, oft untergründigen Verbindungslinien der Autoren zu
erkunden. Ob Homer wirklich so absolut ist, muss bezweifelt werden, mir erscheint diese
Arbeit als eine mehr oder minder klassische Textsammlung mit hyperverlinkten Einsprengseln
zu sein.
VII. Zur Textsorte der intimen Öffentlichkeit: Digidiaries und das
Seelenleben von netizens
Verliert schon die politische Unterscheidung
zwischen öffentlich und privat im Internet ihre Trennschärfe, so kann festgestellt
werden, dass die Öffentlichkeit des Privaten keinen geringen Reiz auf Online-Autoren
ausübt. Rainald
Goetz, Claudia Klinger oder Paul Diel verfassen bzw. verfassten
Tagebücher, die nicht länger verschlossen sind und sich erst posthum fremden Blicken
öffnen, sondern eine Art instantane Lektüre fremder Befindlichkeiten, Tag für Tag,
präsentieren.
Diese Schreibhaltungen verdanken sich einerseits dem
Glaubensverlust gegenüber der großen literarischen Form, gegenüber der Formstrenge und
Vollendung, die in vergangenen Zeiten selbstverständlich vorausgesetzt wurden, bevor es
einer wagte, literarisch in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Claudia Klinger etwa, die
professionelles Webdesign erstellt, sagte beispielsweise, dass sie mit der Zeit auch dazu
übergegangen sei, sich von der letzten Formalisierung, der gestalterischen Vollendung
eines Textes zu verabschieden, um auch spontane Reaktionen zuzulassen.
Rainald Goetz
etwa schreibt spontan, der Leser hat fast ein Echtzeit-Erlebnis, wenn er des Autors Texte
in statu nascendi erlebt. Literarische Überformungen oder Verbesserungen finden nicht
statt, um die Unmittelbarkeit der Erfahrung nicht zu relativieren.
Andererseits findet sich hier aber auch der mehr oder
weniger versteckte Wunsch die Suche nach der verlorenen Zeit sofort und ohne
Erinnerungsverluste zu betreiben. Ewigkeit, Unsterblichkeit, Zeitprotokoll sind nicht nur
die hervorstechenden Momente dieser Literatur, sondern in Selbstverständnisaussagen von
vielen netizens findet sich dieser Anspruch mehr oder weniger versteckt immer wieder. Aber
diese Mischung aus Alltäglichkeit und Ewigkeit, Selbstverewigung und
Gelegenheitsauftritten spricht weniger für die paradoxale Natur des Netzes als für die
Angleichung des virtuellen und realen Lebens.
Bei Goetz zeigt sich aber gleichwohl eine konventionelle Haltung des
Textproduzenten, der sein Online-Werk "Tagebuch" inszwischen als Printfassung
veröffentlicht hat und damit doch wieder ein Vorrangverhältnis zu Gunsten des gedruckten
Buchs feststellt. Bei nicht wenigen Textiniativen ist zu beobachten, das gute alte Buch
als die Krönung der literarischen Produktion vorzustellen, während die digitalen
Fassungen im Netz im Blick auf große Leserkreis tendenziell reine Promotionfunktion
haben. Das hängt selbstverständlich auch von der mitunter bedingten ökonomischen
Verwertbarkeit der Netzfassung ab. So kann zwar über Banner-Werbung und gewerbliche
Anzeigen versucht werden, auch wirtschaftliche Erfolge zu erzielen, aber der
"traffic" auf Literaturseiten hält sich in Grenzen.
Aber auch diese Lust der Selbstdarstellung, des Seelen-Striptease kann
auch an andere Grenzen stoßen. So lesen wir auf der demontierten Homepage von Paul Diel
etwa: "Paul Diel gibt es nicht mehr. Ich hatte zwar viel Spaß am Projekt, konnte
aber doch nicht so frei schreiben, wie ich wollte." Sicher beschleicht jeden Autoren,
der seine Intimität zur Schau stellt, irgendwann ein unheimliches Gefühl, sich
freiwillig dem "Big Brother" Leser auszusetzen. Rainald Goetz hat seinen sog.
"Abfall für alle" wieder in einen "Abfall für einige", d.h. die
Käufer des suhrkamp-Verlags, konvertiert. Der Text ist in der Sprache der netizens
"down" und so sind viele Berichte aus der Welt der Netzliteraten bereits
antiquiert und was wir heute feststellen, gilt morgen schon nicht mehr.
VIII. Literarische Netzkunst
Literarizität gibt es nicht nur in der Sprache zu
verorten. Vordergründiger gesprochen entstehen etwa mit Beginn des 20. Jahrhunderts
Kunstwerke, die nicht mehr eindeutig den vormaligen Gattungsbeschreibungen der Künste
folgen. Dadaisten, insbesondere Kurt Schwitters, Konstruktivisten, Futuristen,
Concept-Artisten, "Konkrete Poeten", aber auch die bereits erwähnten
Neo-Klassiker haben die Künste vermischt, synästhetische Eindrücke hervorgerufen und
auf den Schnittlinien der Künste neue Ausdrucksformen entdeckt. Im Internet ist dieses
Feld längst unübersehbar geworden und viele der bereits vorgeführten Beispiele
transzendieren klassische, aber auch die noch fragilen, permanent in Frage gestellten
Kategorien vernetzter Literarizität.
1. Fevzi Konuk http://www.hyper-eden.com/index.html
http://www.hyper-eden.com/digitaltroja/help5.html
etwa präsentiert in "Digital Troja"
einen "aesthetischen Vergleich zwischen dem 'Trojanischen Krieg' mit seinen Helden
und Göttern, und den Auseinandersetzungen mit den Helden, Handys und Maschinen der
Gegenwart". Der unermüdliche Dichtung-Digital-Netzliteraturkritiker
Roberto Simanowski meint dazu: "In Konuks Konzept heisst es am Ende, wieder sehr klug
und wieder nur dahergesagt: "Wie fängt man Wilde? Mit Tand und Glasperlen" -
angesichts der glitzernden technischen Effekte und der schmucken, zumal englisch
aufgepepten Headlines in "Digital Troja" fällt dieser Satz auf den Ort seiner
Präsentierung zurück.....das zeigt nur, dass die von der visuellen Kunst kommenden
Experimente im Feld der digitalen Literatur bei der Konzipierung des Gesamtwerkes nicht
weniger durch den Tand schicker Effekte gefährdet sind als die von der Literatur
kommenden; vielleicht sogar ein bisschen mehr."
In der Tat. Dass das Medium und seine Ableitungen bereits
die Botschaft sind, wird in der unermüdlichen medientheoretischen Nachfolge von Marshall
McLuhan immer wieder festgestellt. Und viele Künstler lassen sich von den technischen
Manipulationsmöglichkeiten der neuen Text/Bild-Gestaltungen mehr dazu verleiten, das
Medium zu feiern, als es zu instrumentalisieren. Semantik droht hier zur Glasur der
Oberflächen zu werden. In solchen Produktionen bewahrheitet sich, dass auch dann noch
lange was zu sagen ist, wenn längst nichts mehr zu sagen ist. Aber auch diese Sogwirkung
der Medien, ihr phänomenologisches Eigenleben reduziert sich in der Abnutzung der
Effekte. Längst finden sich etwa in außerkünstlerischen Internetpräsentationen starke
Tendenzen, die jeweilige Botschaft vor der Wirkungsmächtigkeit des sich selbst
vermittelnden Mediums zu befreien.
Immerhin tritt die Arbeit "Epos der
Maschine" mit dem Anspruch auf, der zugleich die Gefahr markiert: Zwischen Text und
Umsetzung werden alle Gräben geschlossen: Wörter formen sich zu Bildern, zerfließen in
Gedankenströme und umschmeicheln wabernd den Machinauten, will sagen den Mauszeiger,
pulsen über den Bildschirm wie manische Tagtraeume und kreisen unter anderem um den
Ursprung allen Seins (http://www.uni-essen.de/~hnr00s/edmindex.html).
Und weiter: "Der Betrachter taucht, die Hand an der Maus, in den Text, der ihm
entgegenströmt, sich windet und verschwindet. Der Mauszeiger wird zum Großen
Kommunikator zwischen Mensch und Maschine. Ersterer sitzt nicht passiv da und lässt sich
von letzterer bestrahlen sondern ersterer verschmilzt mit der Geschichte, deren Ablauf er
nicht allein mit den Augen sondern mit seiner kompletten Schnittstelle verfolgt, sozusagen
breitbandverlinkt mit dem Medium, also mit letzterer." Der Anspruch ist gut, aber
auch hier reicht die Vision weit über die Realisation hinaus, zudem die verlaufenden,
ineinanderlaufenden Schriften zugleich Kommunikationshindernisse bereiten.
2. Eine andere Form der literarischen Netzkunst lässt
sich in den eher puristischen Arbeiten der Londoner Künstlergruppe I/O/D unter http://www.jodi.org
bzw http://www.backspace.org/iod/
finden.
Einem sehr radikalen Verständnis von
"literarischer" Netzkunst begegnet man unter der in der Literaturszene immer
wieder genannten Plagiatoren-Netzkunst http://0100101110101101.org. Hier werden endlose
Zeichenreihen in für Menschen nicht mehr sinnvoll zu verarbeitendem Tempo produziert, die
entfernt an die beiden Supercomputer in der SF-Apokalypse "Colossus" erinnern,
die zwar miteinander kommunizieren, aber Menschen längst aus ihrem Diskurs ausgesperrt
haben.
B. Die literarische Netzgesellschaft
Emanzipation von Netzautoren
Nicht nur technologisch, sondern auch sozial führt das
Netz zur Konnektion von Schriftstellern, die man mit dem alten Schlachtruf eines
Schriftstellerkongresses der Siebzigerjahre "Einigkeit der Einzelgänger"
belegen könnte. Prägnante Beispiele sind der internet literatur webring bla, der eine
Reihe sehr unterschiedlicher Literaturinitiativen zusammenfasst. Die Mailing-Liste Netzliteratur, die sich im
guten wiDebattierklubaotischen Sinne zu einem literarischen Debattierclub entwickelt hat,
ist die herausragendste Informationsquelle für Netzliteraten. Wer Informationen aus
erster Hand über Literatur im Netz, Wettbewerbe, Veröffentlichungschancen etc. sucht,
schließt hier in ganz anderer Weise zur Welt der Literatur auf, als das in klassischen
Literaturzirkeln je möglich wäre. Die Netzliteratur-Mailingliste ist ein mehr oder
weniger intimer, aber eben öffentlicher Stammtisch, der auch immer wieder Projekte
einleitet und Einblick in die Arbeitsweisen von Online-Literaten gibt. Wer
Internet-Literaturpreise gewinnen will, ist nicht falsch beraten, sich auf dieser Liste zu
tummeln. Viele preisgekrönte Urheber der hier besprochenen Projekte lassen sich auf
dieser Liste finden. Präzeptor dieser Liste ist inzwischen Oliver Gassner, dem man
meinen Erfahrungen nach zu schließen, auch nachts um drei Uhr noch ein email schicken
kann und mit postwendender Antwort rechnen darf.
Der Anschluss an solche Netzinitiativen erfolgt
problemlos durch eine Email-Anmeldung und gibt den Mitgliedern auch Einblick in die
Archive, in denen die Diskurse der vergangenen literarischen Jahre gesammelt werden. Auch
das ist einzigartig, weil die "Gedankenküchen" eben nicht entsorgt werden. Ein
spezifischer Service sind auch Newsletter wer sich weiter über Literatur
aufklären möchte, insbesondere über die wuchernden Theorien zum Thema Hypertext. kann
etwa den von http://www.dichtung-digital.de/
wählen. Hier finden sich die engagiertesten Beiträge, die zum nicht geringsten Teil von
Mitgliedern der Mailing-Liste Netzliteratur stammen.
Ferner: inkspot -
Writer`s Resources on the Internet - IG-Medien
(München) - schule für dichtung (sfd) - Arbeitsgemeinschaft literarischer Gesellschaften e.V. -
Deutsches Literaturinstitut Leipzig.
Klassische Autoren mögen beklagen, dass jeder
Publikation eine Reihe von Schritten vorgeschaltet ist, bevor sie ihr Publikum erreichen
kann. Letztlich sind unternehmerische Entscheidungen der Verlage, Produktionszeiten der
Verlage und Drucker, die Distribution verzögernde Momente der Textpublizität.
In Zeiten flüchtender Aufmerksamkeit, in der die Morgennachricht am
abend schon überholt ist, wird die instantane Reaktion zum Online-Gebot der Stunde, wenn
nicht der Minute. Durch die Selbstveröffentlichung verändert sich diese lange Kette
einer Publikation. So verkürzen die literarischen Initiativen des Netzes die Anlaufzeiten
auf radikale Weise. Ich selbst habe auf eigene Textangebote bereits erlebt, dass sie eine
Stunde später formatiert im Netz standen.
Es gibt inzwischen im Übrigen
Autorenpublikationssysteme, die einzelnen Autoren ein Veröffentlichungsrecht per password
einräumen, um erstens die Personalressourcen der Redaktion, so sie denn überhaupt
vorhanden sind, zu schonen und zweitens aktuelle Reaktionen zu ermöglichen. Der Autor
bewegt sich technisch in einem vorfabrizierten Kontext, nutzt etwa ein template, das Form
und Design festlegt, um lediglich noch seinen Text oder seine Bilder in den jeweiligen
Textkorpus zu integrieren, und somit Texte fast instantan online zu stellen. Beispiel
wäre das umtriebige ZYN! Satiremagazin, das einzelnen
Autoren Kolumnen einräumt, die eigenverantwortlich betreut werden und nicht länger vom
mastermind des Chefredakteurs oder Herausgebers beherrscht werden. Entsprechend produktiv
bis chaotisch präsentieren sich solche Magazine, die aber etwa im Fall von zyn mit ca.
30.000 pageviews im Monat eine enorme Breitenwirkung haben. Die neue Autorensouveränität
reicht aber noch erheblich weiter. Autoren mit eigenen Homepages bzw. websites werden im
Netz zu Selbstvermittlern, Designern und Distributoren ihrer Arbeit. Nicht länger ist der
Autor auf Herausgeber, Drucker, Promotoren oder Literaturagenten oder etwa lästige dead
lines verwiesen. Ab jetzt leistet er das alles in Personalunion und befreit seine Texte
vom Schubladendasein. Vormalige Qualitätsfilter, heilsame Zensuren und Kritiken etc.
finden indes nicht oder nurmehr in geringem Umfang statt, sodass in diesen Textmeeren die
Selektivität des Lesers, das Ringen der Autoren um Aufmerksamkeit zum zentralen Problem
wird. Vgl.: Heinrich Gartentor - ein
Interventionist im Internet.
Technische Randbemerkung wenn gewünscht:
Homepages können heute bereits kostenlos bei vielen Providern eingerichtet werden, in
einigen Fällen mit unbegrenztem Speicher und ohne störende Bannerwerbung oder sog.
Pop-ups (Guter Provider: http://www.crosswinds.net).
Auch der Transfer von der eigenen Festplatte auf die Server ist einfach: Entweder per
FTP-Software oder gleich online durch entsprechende Programmiereinrichtungen der Provider.
Beispiel des Vortragenden: Virtuelle
Textbaustelle. Statistiken, Gästebücher, Foren, Suchmaschinen können ebenfalls
kostenlos eingerichtet werden und vermitteln dem Urheber einen Überblick über die
Nutzung und Akzeptanz seiner Seite. Wer gut besuchte Seiten präsentiert, hat zudem die
Möglichkeit, über Bannerwerbung eine Einkommensquelle zu schaffen.
Die mit diesen einfachen Selbstpublikationsmöglichkeiten
verbundene Unübersichtlichkeit zu beheben machen sich solche Literaturinitiativen
anheischig, die Literaturtips mit Rankings, Kritiken, Rezensionen präsentieren, um
Navigations- und Orientierungshilfen zu geben. Vgl. etwa die berühmteste Liste: Ollis kommentierte Links zur Literatur,
weiterhin: Berliner Zimmer, Deutschsprachige Literaturmagazine im
Internet - Die Seite für Autoren - Deutsche Literaturseiten im
Internet Megalinksammlung zu
deutschen Online-Texten (Homepage Helmut Schulze). Das letzte Beispiel macht aber
sofort klar, dass solche Riesensammlungen schließlich doch wieder Orientierungsprobleme
aufwerfen.
Zugleich finden sich auch viele Promotiongelegenheiten
für unbekannte Autoren und ungezählte einfache Möglichkeiten, eigene literarische Werke
zu veröffentlichen: Autorenecke, Literaturcafé, Textgalerie. Nun ist mitunter die Einfachheit des
Zugangs ein Stigma und etwa die Autorenecke produziert ein Ambiente, in dem sich nicht
jeder wohl fühlen mag, weil zwischen Literaturangebot, Textabladestelle und Archiv kaum
mehr signifikante Unterschiede bestehen.
In der Struktur des Internets liegt es begründet, dass
auch der konventionelle Weg vom Autor zum Leser sich beschleunigt. Immer wieder wird
berichtet, dass die Suche nach der Veröffentlichung im Internet reale Chancen hat:
Michael Fischer etwa fand für seinen Kriminalroman Skorpion! einen Verlag, als die download-Quote
zum Indiz der Akzeptanz, sprich der Vermarktbarkeit, wurde.
III. Wettbewerbe
Wer im Internet Literaturpreise gewinnen will, kann beim
Uschtrin-Verlag gut sortierte Auslobungsübersichten finden. Der renommierteste Preis war
seinerzeit der Wettbewerb "Pegasus",
den die Wochenzeitung "Die Zeit" in Zusammenarbeit mit anderen Firmen jährlich
veranstaltete. Beim Wettbewerb 1998 präsentierten sich mehr als 250 Beiträge. Sieger war
der Beitrag: "Die Aaleskorte
der Ölig". Vor wenige Tagen ist übrigens die Bewerbungsfrist für den
arte-Wettbewerb zu Ende gegangen und vielleicht finden sich hier ja neue Perlen der
digitalen Literatur.
IV. Zur erträglichen Leichtigkeit der Beziehung
zwischen Publikum und Werk
Bei etablierten Schriftstellern hält sich das Interesse
am Netz in Grenzen. NULL - "ein Ort für
gute Texte im Netz" war eine literarische Initiative des Dumont-Verlags unter der
Federführung von Thomas Hettche, die konventionelle Texte von Autoren präsentierte, aber
dem Medium keine eigene Dynamik abgewinnen wollte und vielleicht auch deshalb nicht
fortgeführt wurde. Zwar haben die meisten Verlage inzwischen einen Internet-Auftritt
(Vgl. etwa die Verlagsprogramme von Hanser,
Rowohlt und dtv), aber es sind nur wenige, die tatsächlich das
Medium selbst als literarisches Forum behandeln.
Dieser Befund von Desinteresse, aber wohl auch auch
Berührungsangst gilt auch für bekanntere Autoren. Mehr oder weniger arrivierte Autoren
wie Burkhard Schröder, Roger Graf und Emil
Zopfi werden in ihrer Internetpräsenz immerhin zu Autoren zum Anfassen. Insofern
entsteht eine neue Intimität im Umgang mit den Literaten, die vormaligen Lesern zumeist
verschlossen war. Die gegenwärtige bekannteste Nutzung des Internets als literarisches
Forum demonstriert Stephen King, der ein Werk exklusiv in das Netz gestellt hat.
Das Projekt ampool
zeigt schließlich, dass jüngere, halbarrivierte Autoren zwar im Netz präsent sind, aber
die Verleitung zu rhapsodischen, idiosynkratischen Texten, Gedankenschnipseln,
literarischem Allerlei wird hier besonders deutlich. Man schreibt halt, was sonst
vielleicht dem inneren Monolog der Literatenseele vorbehalten bliebe oder der Gnade des
Vergessens übergeben würde. Wie findet der Leser aber die Texte, die ihn interessieren?
Folgende Links für den aufgeweckten "Nachleser": Bibliotheken, Bücher, Berichte - Karlsruher Virtueller Katalog, KVK - SUBITO der Dokumentenlieferdienst der deutschen
Bibliotheken - Bibliotheken
im Internet - Düsseldorfer
Virtuelle Bibliothek - Bibliotheken,
Bücher, Berichte - BiN Bücher im Netz
- Buchinfo - OlliOliver Gassner Links zur Literatur - BookWire
Die Site "Querlesen" http://www.querlesen.de/index2.html bietet
dem Leser einen interessanten, sicher erweiterbaren Ansatz, seine Vorlieben mitzuteilen,
um dann entsprechende Lektüren anzuempfehlen. Der Leser wählt hier Kategorien in einem
binären Schema "Literarische Inhalte" und "Erzählweisen", etwa:
"Außen- und Innenansichten des Lebens und der Menschen" mit "Narrative
Verführung". Das verdinglicht zwar Literatur, presst sie ins Schema, aber wer wäre
nicht dankbar, wenn er schon sein Interesse in diesen Kategorien wieder findet, um auf
diese Weise seinen Querschnitt von Welt- oder Internetliteratur zu finden.
V. Die Zukunft der Netzliteratur
1. Ob die Netzliteratur eine Zukunft hat, mag eine müßige Frage
sein, wenn schon ihre Gegenwart so fragil bis flüchtig ist. Welche Bedeutung hat
Literatur in vernetzen Gesellschaften überhaupt noch?
Fraglich sind mit der elektronischen Archivierung nicht nur
wirtschaftliche Einbußen klassischer Verlage verbunden, sondern auch unabsehbare
Strukturveränderungen zu erwarten, die nur in einer Gesamtschau der medialen
Veränderungen einer Gesellschaft beantwortet werden könnten. Aber wer könnte das schon
leisten? Das Internet ist sowohl Massenmedium als auch Einzelmedium und wechselt zwischen
diesen Zuständen auf Grund seiner besonderen Technologie permanent. Deshalb ist nicht nur
eine Literaturtheorie des Netzes, sondern auch übergreifend eine Medientheorie des Netzes
immer in der Spannung zwischen diesen Zuständen zu ermitteln.
Menschen werden in Zukunft durch eine Veränderung der Computer, der
Netze, der elektronisch, also virtuell vorhandenen Angebote in immer leichterer Weise
nicht nur auf kulturelle, sondern auf nahezu alle Ressourcen zugreifen können, die bisher
eher privilegiert in real Life verfügbar waren.
2. Die Aussagen zu dem angeblichen Verhältnis von Print- und
Digitalliteratur haben schon deshalb beschränkteste Haltbarkeit, weil sich die Frage
nicht auf die vordergründige Differenz bescheidet, dass das klassische Buch eine
sinnliche Qualität besitzt, die digitale Texte nie haben werden.
Zwar mögen das Rocketbuch und vergleichbare Produkte noch abschrecken,
weil die Konzentration auf den Monitor ein ernst zu nehmendes Hindernis für das
Lesevergnügen darstellt. Aber mit der Veränderung digitaler Produkte hin zu taktilen
Oberflächen, zu elektronischem Papier, schließlich zu einer Unsichtbarkeit des Interface
werden auch diese Differenzen vermutlich in irgendeiner Zukunft obsolet sein. Entscheidend
ist vor allem, dass inzwischen das elektronische Buch nicht mehr ein Residuum weniger
Verlage ist, sondern auch die Großen das Geschäft mit der literarische Zukunft darin
wittern.
3. Entscheidender ist aber, ob das Leseverhalten, das sich in der so
genannten Gutenberg-Galaxis noch als Königsweg der Welterschließung angeboten hat, in
den Zeiten einer völlig veränderten Konnektierung von Menschen und Sachverhalten
erhalten bleibt. Der Hypertext, ob nun als literarisches oder allgemeines Phänomen von
Netztexten, ist eben mehr als eine techno-stilistische Variante klassischer
Textproduktionen, sondern verändert auch unmittelbar die Rezeption. Jedes Buch tendiert
dazu, einen geschlossenen Kosmos seiner Weltsicht zu präsentieren. Lektüre, die sich
dagegen aus einem patchwork aus Wissen und Müll nährt, findet nicht leicht zu
klassischem Leseverhalten zurück.
4. So stößt die Vernetzungseuphorie an
menschliche Rezeptionsgewohnheiten und grenzen. Enzyklopädien, die in endlosen
Konnotationssystemen den Leser mit dem Eindruck des Fragmentarischen belasten, sind
zweifelhafte Unternehmungen. Niemand würde es auf Dauer aushalten, ständig in fremden
Bewusstseinen herumzuspazieren. Dem Cyberflaneur wird viel abverlangt, wenn er etwa in die
Enzyklopädie http://www.nic-
las.ch/enzyklopaedie/show.asp?area=develop&diff=wissen&displaymodus=long
einsteigt. Der alte Anspruch einer Enzyklopädie ist die Versammlung eines kollektiven
Wissens, eines Wissens, das sich eben nicht in dieser oder jener persönlichen
Welterschließung bescheidet, sondern der Welt eine objektive Gestalt und Deutung
verleiht. Enzyklopädien wie die vorliegende basieren nicht auf koordinierten
Autorenteams, sondern auf rhizomatischen, wildwuchernden Strukturen, die keine Schere mehr
akzeptieren. Hier werden im Sinne von Deleuze/Guattari zwar tausend und mehr Plateaus
gebaut, aber wer will sie noch betreten und wie soll all das ins reale oder virtuelle
Leben wachsen. Ähnlich präsentiert sich die "Imaginäre Bibliothek"
von Heiko Idensen und Matthias Kron. Zu ihrem Selbstverständnis sagen die Autoren:
"Die Konzepte für eine solche hypermedial-verknüpfte, diskontinuierliche
Ideenproduktion und Weitergabe kompilieren wir aus der Literatur, der Ars Combinatoria,
den historischen CUT-UPS eines Materialismus, der aus einer Montage von Einzelmomenten
übergreifende Konstruktionen entwickelt und den subkulturellen Ursprüngen der
"Computerkultur" in den 60er-Jahren der USA (z.B. "Computer LIB -Dream machines"
von Ted Nelson oder Learys Behauptung, die Computer seie60er-Jahre Drogenkultur der 60er
Jahre nicht denkbar!), die, verbunden mit Hyper-Text Programmen, zu Möglichkeiten
vielfältig vernetzter Schreib- und Leseoperationen führen."
Schön! Aber zwischen einer Ars Combinatoria und
Cut-up-Literaturen liegen literarische Welten, zwischen denen sich die Autoren entscheiden
müssen, wenn ihre Texte im Sinne von Roland Barthes schlüssig bleiben sollen. Schlüssig
nicht im Sinne einer Korrespondenz zur Welt, sondern in ihrer eigenen Struktur. Zum
ehesten handelt es sich bei diesen Kombinationen um Selbstverständigungstexte, die
vielleicht den Autoren helfen, sich selbst zu lesen, weniger aber Lesern, die ein fremdes
Konzentrat von Welt suchen.
5. Auch die Sprache selbst ist durch das Medium
längst in ihren Grundfesten so berührt, dass die Einflüsse auf die Literatur immer
massiver werden. Tech-Talk, englische Beimischungen, Verkürzelungen, Piktogramme fransen
die Sprache als ein kollektiv verbindliches Symbolsystem aus. Wer hat schon rezeptive
Lust, fremde Programmierungen als Literatur zu lesen, wenn er selbst die Struktur dieser
Sprache nicht kennt. Nicht wenige Sprachgebilde des Internets sind eigenartige
Kombinationen, die den Vorwurf eines schleichenden bzw. sektoralen Analphabetismus
begründen könnten. Allein der Kommunikationsstil der emails hat sich meilenweit von der
vormals selbstverständlichen Briefkultur verabschiedet und trennt in den vielen
verschiedenen Jargons die User in immer unübersichtlichere Szenen. Und selbst so relativ
prominente Initiativen wie Gvoon lassen die Existenz
eines Lektorats schmerzlich vermissen.
6. Wollte man aus der Vergangenheit literarischer
Funktionen auf ihre Zukunft schließen, ist zu erwarten, dass die besonderen
Erfahrungsgehalte der virtuellen Aufenthalte und Begegnungen im cyberspace zu
literarischen Themen werden. Längst kristallisieren sich in den Netzwelten eigene
Selbstentwürfe und Identitätserfahrungen jenseits der Ausgangswirklichkeit. Danach wäre
die Literatur im Netz nicht länger die Fortsetzung der Wirklichkeit mit digitalen
Mitteln, sondern eine autonome Wirklichkeit, nicht völlig verschieden von RL, aber doch
als Erfahrungswelt anderen Regeln und "Verkehrsformen" gehorchend.
7. Die höchste Tugend des Lesers ist in Zukunft, die Auswahl zu
treffen. Autoren können daraus nur den Schluss ziehen, ihr Textangebote so zu
konzentrieren, dass die flüchtende Aufmerksamkeit des Lesers gefesselt wird. Das mag man
kulturapokalyptisch beklagen, gar den Ausverkauf abendländischer Kultur darin erkennen,
oder als heilsamen Prozess der Besinnung auf das Wesentliche beschreiben. Fest scheint
aber zu stehen, dass dynamische Medien auch dynamische Rezeptionen auslösen und wer das
Kommunikationsverhalten von Netzbürgern beobachtet, wird die schnelle, rhapsodische,
instantane Reaktion häufiger kennen lernen als die alten Kontemplationszeiten, die vordem
der Hochkultur gewidmet wurden.
Maurice Blanchot meinte 1962 auf die Frage hin "Wohin geht die
Literatur" , dass die Literatur auf sich selber zugehe, auf ihr eigentliches Wesen,
das in ihrem Verschwinden besteht (M. Blanchot, Der Gesang der Sirenen, Berlin 1982,
französische Ausgabe 1962, S. 265 ff.). Lange vor dem Internet gesprochen mag hier der
Tatbestand geahnt worden sein, dass die Literatur sich im Großtext des Internets
auflöst, weil sie als vormaliger Königsweg der Welterschließung untauglich geworden
ist. Engagierte Positionen der Literatur, wie sie etwa in den Siebzigerjahren zwischen
Böll und Bitterfeld auftauchten, sind im Netz allenfalls Mangelware. Echte Kontroversen,
die etwa eine Gesellschaft über literarische Fragen hinaus polarisieren, gibt es nicht.
Allenfalls Marginalien, wie etwa die Frage, wie viel Erotik verträgt ein Text, mögen wie
im Fall des darob zerstrittenen literarischen Quartetts vorübergehend den Sturm im
Wasserglas auslösen. Das literarische Internet kann auch darüber hinwegsehen, für
digitale Produktionen gilt noch mehr als für Papier, dass sie geduldig sind.
Goedart Palm
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