Aber so unwürdig wie
kritikwürdig nicht nur dieser, sondern praktisch jeder Knast der
demokratischen Gesellschaften auch ist: Diese suizidalen Sumpflandschaften
bürgerlicher Freiheitsrechte und Menschenwürde beschreiben längst noch
keine flächendeckende gesellschaftliche Wirklichkeit, sondern zunächst
eben Exzesse einer vielleicht vorübergehenden Staatsparanoia. Aber gilt
dann nicht gerade: "Wehret den Anfängen!"
Kassandrische Seher wie
Reg Whitaker
The End of Privacy: How Total Surveillance Is Becoming a Reality
- nehmen jedenfalls schon das orwellianische Ende einer gläsernen
Kontrollgesellschaft vorweg - ähnlich wie weiland der Seher
Günther Anders, der angesichts der atomaren Bedrohungen seinen Zeitgenossen
"Apokalypseblindheit" attestierte. Indes: Die Apokalypse blieb
aus.
Newspeak
von Container-Persönlichkeiten
Aber wenn der poetisch
talentierte Don Rumsfeld vom
alten Europa
spricht, ist das von der Diffamierung des "Altdenk" doch gar
nicht so weit entfernt. Rumsfeld ist "secretary of defense". Im
Blick auf den schneidigen Angriffskrieg im Irak ist das doch geradezu die
klassische Weise des "Newspeak", die Fakten einer hämischen
Sprachregelung, dem performativen Dauerwiderspruch eines kriegslüsternen
Staates zu opfern. Arundhati Roy hatte dem selbsternannten
Zivilisationsretter Bush II.
vorgeworfen
, eben diese Unsprache zu wählen, die sich in Orwells "Krieg ist
Frieden" manifestiert.
Aber unsere staatliche
"Newspeak", die ja auch im bundesrepublikanischen
Reformoptimismus-Geschwafel ihre bislang eher zarten Knospen treibt,
bestimmt längst nicht die alltäglichen Sprachcodes der Menschen. Orwells
Prinzipien des Neusprache
stoßen sich vor allem an der Unbotmäßigkeit der Sprache selbst, die
bestimmte Perversionen nicht mitmacht, so sehr es auch "politisch
korrekten" Präskriptoren angelegen sein mag. Orwell, der seit 1922 fünf
Jahre lang als Polizeioffizier der britischen Krone Herrschaftserfahrungen
vor Ort sammeln durfte, misstraute der Widerstandsfähigkeit der Sprache.
Doch ist die Sprache nicht regelmäßig intelligenter, emanzipierter, gar
anarchischer als ihre Sprecher und Verhunzer?
"Neusprache"
erscheint heutzutage weniger als staatliche Verordnung denn als eine
gesellschaftlich verbreitete Sprachpygmäenpraxis, die im kognitiven
Elendsviertel von Pisa, Giga und "irgendwo" Gaga haust. Wenn
etwa Jugendliche das Wort "krass" als konkurrenzloses
Dauerattribut ihrer krassen Weltbeschreibung benötigen, ist das nicht nur
"krass". Das ist der Ausweis der Armseligkeit einer Sprache, der
jegliche Komplexität abhanden gekommen ist.
Doch weder können dafür
allein staatliche Agenturen verantwortlich gemacht werden, noch bezeichnet
das den kollektiven Standard vor dem endgültigen Sündenfall in die
Sprachlosigkeit. Vor allem lässt sich die staatliche Dämlichkeit etwa in
der Schulpolitik noch lange nicht mit dem "Dolus malus" des
perfiden Big Brother verwechseln. Sind es nicht eher jene Leute, die
"Nichts als die Wahrheit" verkünden, die gefährlichen
Generalvereinfacher, einschaltquotenheischenden Dummschwätzer und
Container-Persönlichkeiten (Panoptismus als Unterhaltung), die Gesellschaften etwas schlechter machen und leider gerade nicht auf
die überfällige Zensur des Big Brother stoßen?
Und selbst wer die berüchtigte
Kulturindustrie aus ihrem ideologischen Massengrab reanimieren will,
verhilft damit noch nicht der "Denkpoli" (Gedankenpolizei)
Orwells zur Wiedergeburt. Weder mit Wahrheitsdrogen und schon gar nicht
mit Parteiprogrammen und -plakaten wäre es je gelungen, Gedanken
dauerhaft so zu domestizieren, dass Menschen rückstandslos verblöden.
Nun kann man, wie es
einige Adepten des orwellianischen Gesellschaftsbildes tun, George Orwell
gegen den Strich seiner eigenen holzschnittartigen Karikaturen bürsten.
Die Gedankenpolizei wäre nicht länger eine Agentur fieser Überwacher,
sondern die Beschreibung eines Prinzips, die verlogenen Demokratien
eignet. Sind die Basisideologie des gerechten Tauschs, das ungerechte
Abstraktum "Geld", der menschenverachtende Markt der
Weltwirtschaft nicht die neuen Agenten einer subtiler arbeitenden
Gedankenpolizei, als sie Orwell beschrieb? Agent Smith ist ein Programm (Matrix Refused
! Vulgo: Bestimmt das schnöde Sein das mehr oder minder unglückliche
Bewusstsein?
Doch gerade wer solche spätmarxistischen
Fragen noch stellen kann, widerstreitet sich selbst, weil sich das Denken
eben nicht so einmachen lässt, dass 2 + 2 schließlich 5 ist. Gegenüber
Orwells "Newspeak"- und Logikfolter-Vision gilt für die Sprache
- nicht anders als für das Leben, wie es der Biologe im Jurassic Park
feststellt -, dass sie sich schließlich doch ihren Weg bahnt.
Was ist etwa von der
sozialistischen Witzsprache der DDR übrig geblieben? Selbst die Nazis,
die Gustave le Bons "Psychologie der Massen" gut rezipiert
hatten und die Klaviatur moderner Propagandatechnologien riefenstahlhart
einzusetzen wussten, vermochten nicht, den Flüsterwitz und die politisch
unkorrekte, also korrekte Bezeichnung gegenüber ihre Sprachregelungen
endgültig zu unterdrücken. Unbeschadet des Wissens:
"Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt
verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist
die Giftwirkung doch da."
Von
Doppeldenk zu Doublebind
Der Umstand, dass George
Orwells plakative Antiutopie so immergrün erscheint, sollte uns etwas
stutzig machen. Vielleicht ist dieser Kampf gegen die Herrschaftsideologie
selbst die etwas zu wohlfeile Ideologie eines ehrenwerten, aber
eindimensionalen Freiheitsmythos geworden.
Orwells Warnungen, wenn
sie nur hinreichend allgemein bleiben, laufen doch selbst Gefahr, in die
vereinfachenden Strickmuster von Gesellschaftstheorien zu verfallen, die
alles und daher meistens nicht viel erklären. Das berüchtigte "Doppeldenk"-Prinzip
etwa eignet sich letztlich nicht als reales Modell einer perfiden
staatlichen Indoktrination. Menschen, die dauerhaft in eine solche "Doublebind"-Situation
gerieten, ohne zwei sich ausschließenden Aussagen etwa metakommunikativ
überprüfen zu können, würden schließlich eben doch nur verrückt.
Solche hirnzerrütteten Staatskreaturen und Parteiroboter kann selbst eine
veritable Diktatur dauerhaft nicht erfolgreich ausbeuten. Es sei denn, sie
wäre heimlich wie der real virtuelle Sozialismus an ihrem Untergang
interessiert.
Orwells Vision bleibt eine
plakative Metapher, die in dem Versuch, die totale Manipulation des
Menschen konkretistisch zu schildern, leicht darüber hinwegtäuscht, dass
die Gefahren für die Freiheit viel subtiler, aber wohl auch fragiler
angelegt sind. In demokratischen Gesellschaften werden Unfreiheiten
geschickter verpackt, als es die vormaligen Lügenmeister des real nicht
existierenden Sozialismus vermochten.
Zwar lässt sich der
Antagonismus von Staat und Bürger, der dem Orwellschen
Repressionsszenario zugrunde legt, nicht schlechterdings leugnen. Seitdem
aber Staat und Gesellschaft in unabsehbare Bewegung geraten sind, folgen
die Frontlinien in Gesellschaften längst nicht mehr nur diesem
Mechanismus. Die Soziologie, übrigens nicht nur die Systemtheorie, hat
die Perspektive des Subjekts (= Unterworfenen) ohnehin immer stärker
angezweifelt oder gar völlig aufgegeben, um überhaupt erst plausible (Selbst)Beschreibungen
von modernen Gesellschaften möglich zu machen. Die Antinomie
"Freiheit versus Manipulation" greift dagegen zu kurz, um damit
alle gesellschaftlichen Prozesse auszudeuten.
Total
information hysteria
Gesellschaften und ihre
Staaten bergen viele Probleme, die anderen Paradigmen folgen als der
Abwehr staatlicher Eingriffe in die Privatsphäre. "Erlebnis-,
Wissens- oder Risikogesellschaften", die mit unzähligen, oft unlösbar
erscheinenden Problemen der Zukunftsplanung etwa in der Gentechnologie
oder im IT-Bereich geschlagen sind, lassen sich nicht simplizistisch mit
der Elle staatlicher Überwachungsgelüste begreifen. Längst hat sich der
staatliche Überwachungsoptimismus nicht zu einem illuminierten System der
Total information awareness
(s.a.
Totale Überwachung) verschworen, das es nach der Informationsparanoia von modernen Hexenjägern
werden soll.
Was nicht ist, kann ja
noch werden? Eher wohl nicht. In jeder allgegenwärtigen
Informationsherrschaft stecken Dialektiken, die trotz expandierender
Datenspeicher nicht aufgelöst werden können. Daten müssen erst zu
Wissen umgewandelt werden und noch ist die Technologie nicht in der Lage,
auch die repressive Totalauswertung dieser Daten zu gewährleisten.
"With terrorism you
do not have the luxury of sometimes waiting to figure out if the guy is
truly a terrorist", erklärte jüngst der amerikanische Staatsanwalt
Eric M. Straus der New York Times gegenüber dem Vorwurf, dass auf Grund
falscher Hinweise der amerikanischen Öffentlichkeit unschuldige Bürger
verdächtigt und inhaftiert wurden. Das ist zwar schlimm, aber zeigt
zugleich, welche Eseleien, die schließlich immer noch geeignet sind, Köpfe
von Politikern rollen zu lassen, in dem Orwell-Fantasma "Total
information awareness" stecken.
Mindestens ebenso läuft
einer staatlichen Überwachungsherrschaft der Zuwachs an individuellen
Herrschaftsmitteln zuwider, seitdem sich die vormals einseitigen
Sender-Empfänger-Verhältnisse in verzwickte, wuchernde und häufig
unbotmäßige Kommunikationsknoten verändert haben. Noch gibt es eine
politische Netzkultur, die sich gegen Zentralisierung und Schnüffelpraktiken
wehrt. Und selbst wenn die staatlichen Überwachungsmöglichkeiten noch
besser werden, verändern sich - Fluch einer dialektischen Technik! - im
Zweifel auch die Möglichkeiten, sich dem erfolgreich zu entziehen.
Diese zahlreichen
Schwächen des "Big Brother" mögen die Visionen Orwells nicht
völlig antiquiert erscheinen lassen. Orwell legte den Finger in eine
Wunde des pervertierten Staates, ohne damit aber zugleich den
literarischen Vorentwurf einer kompletten Gesellschaftstheorie oder
künftiger Gesellschaften zu liefern. Solange es Leser von Telepolis gibt,
vor allem die Dauerposter, deren Meinungskaskaden, Postings und Riposten
jedem "Agent Smith" die Überwachung mächtig sauer machen,
solange besteht doch noch ein wenig Hoffnung...
Goedart
Palm
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und Mediendämmerung - Zum
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Zum
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Zur "Digitalen
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Goedart Palm im Gespräch mit
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im Meinungsmeer und den aufgeklärten Homunkulus: Rufe
im lauten Ozean
„Ich habe den Eindruck, dass
Menschen häufig mit technischen Möglichkeiten dastehen, die in ihren
Händen nur leere und inhaltslose Instrumente sind.“
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