Against the day
- Version 1.0 (Dezember 2006) - Goedart Palm
Erste
Reise in Thomas Pynchons real-imaginäre Spiegelwelt
"In Wirklichkeit ist sie (die Mathematik) aber eine Wissenschaft,
die die größte Phantasie verlangt." (Sofja Kowalewskaja,
Briefwechsel)
Literatur ist seit James Joyce ein Kosmos geheim verbundener Orte, schräger
Typen, alltäglicher Epiphanien, vor allem aber seltsam kontrafaktischer
Beziehungen, die schon der Vater der Surrealisten, der Comte de Lautréamont,
für das Wesen der Literatur schlechthin hielt. Das Paradigma des späten
Romans ist der numinose Beziehungsrausch, der in seinen lichten Momenten
das Wissen der Welt über sich selbst so aufscheinen lässt, wie es
idealistische Identitätsphilosophien im göttlichen
Weltreflexionsprogramm schon immer erkennen wollten. Thomas Pynchon, der
große Unbekannte der amerikanischen Literatur, der Mann mit der medialen
Maske, betreibt dieses Spiel so exzessiv wie kaum einer zuvor. Gegenüber
den mimetischen Sprachspielen des „Dubliners“ ist Pynchons Magie der
weiter reichende Versuch, in einem nicht beiläufigen Sinne harte
Naturwissenschaften und Mathematik literarisch produktiv werden zu lassen,
bis sich die Mikroverhältnisse der Quantenmechanik in die Makrowelt der
Literatur transformieren – oder eben gerade umgekehrt.
Pynchons
neues Mega-Opus “Against the day“ provoziert
wie immer die (nun netztechnisch aufgerüsteten) Spekulationen und sich überstürzenden
Adhoc-Exegesen, um was es denn diesmal eigentlich geht. Wie soll Pynchons
Viele-Welten-Literatur nichttrivial beschrieben werden, wenn ihrem
enzyklopädischen Konstruktionsprinzip nach kaum anzugeben ist, wovon es
nicht handelt? Lesen wir eine
Lichterzählung manichäischer Antipoden, die indes metaphyisch und
physikalisch gewitzter ist, als sie das offizielle amerikanische
Kreuzzugsmodell seit 2001 als realpolitische Fabel konstruiert? So erläutert
der Autor den Antisemitismus nicht als ideologisches Phänomen, sondern
energiepolitisch: Es handelt sich nicht lediglich um irrationale
Vorurteile, mentale Verirrungen, sondern
um eine gewaltige dunkle, aber konkrete Kraft, die den Motor politischer
Einflußnahmen und Karrieren betreibt. (ATD 808)[1]
Oder geht es in Pynchons Gegenwelt um höhere Mathematik wie Physik in der
Weise, dass ihre unanschauliche, nicht greifbare Wahrheit zum Formprinzip
des seit je über den Gattungen schwebenden Romans entfesselt wird? Denn
wenn Pynchon erzählt, präsentiert er textuelle Schaltungen, deren
Schaltbilder elektrischen mehr als epischen gleichen, was ihm vermutlich
auch die aufmerksame Lektüre Friedrich Kittlers einbrachte. Oder
verbinden sich Zeitreisen, parallele Universen und Pulp-Fiction zur
literarischen Wirklichkeit der dunklen, längst nicht ausgeloteten Materie
unserer allseits sedierten Smartworld, die auf ihre Entdeckung wartet? Den
Titel “Against the day“ wählte
bereits Michael
Cronin, der 1998 eine alternative bzw. virtuelle Geschichte des Zweiten
Weltkriegs veröffentlichte und damit einem Leitmotiv folgte, das auch für
Pynchons imaginäre Spiegelkonstruktion verbindlich ist. “Counterfactuals”,
jene Abweichungen von der uns geläufigen Welt und Geschichte, sind auch
das auf vielen Erzählebenen entfaltete Thema von „Against the
day“: "Do
not imagine, that in coming aboard Inconvenience
you have escaped into any realm of the counterfactual..." (ATD
9). Nein, es bleibt an Bord des fiktiven Luftschiffes „Inconvenience“
der fünf schicksalswilligen Aeronauten, der „chums of chance“,
unbequem, weil hier keine leichten Passagen in das frei schwebend
Phantastische zu erwarten sind. Wir stoßen in real-imaginäre
Wirklichkeiten vor, die uns die Rekonstruktion dieser ideologisch
angeschlagenen Welt, die unsere sein soll und doch wieder nicht, ihr aber
durch geheime Spiegel verbunden ist, keineswegs erleichtern. In einer Verwöhngesellschaft,
deren kategorischem Imperativ zufolge alles, auch das Wissen, konvenieren
soll, verlässt sich Pynchon also auf literarische Zumutungen, die ihm
selbst lesewillige Chefkritiker nicht so leicht verzeihen. "Now
single up all lines!" lautet das Eingangskommando des
literanautischen Aufbruchs und erste Leser behaupten, dass dieses
Alterswerk alle Motivstränge im einem groß angelegten Versuch nun neu
durchspielt, um unsere Welt in ihren Gegenwelten und imaginären Varianten
zu spiegeln.
Um
welche Welt geht es genau? Den freiwilligen Angaben des Autors zufolge
ist es die nichteuklidische Welt von Bernard Riemann[2],
David Hilbert und Hermann Minkowski. Wir betreten den imaginären Raum
Riemanns, auf dessen realen Spuren sich Thomas Pynchon angeblich sogar
eigens in Göttingen zur Recherche bewegte. „Riemannien“
wurde phänomenologisch als ein Land beschrieben, dessen Topografie zwei
jeweils verschiedene Ansichten eröffnet.[3]
Die vierdimensionalen Landschaften werden mathematisch als Graphen
der Riemannschen Zeta-Funktion behandelt. Darstellungstechnisch wird die
Landschaft in einen "Realteil" und einen "Imaginärteil"
geschieden. Berge und Täler dieser komplexen Landschaft verkehren sich,
je nachdem, ob eine reale oder imaginäre Sicht der Dinge gewählt wird.
Anders formuliert: Nach der Zeta-Funktion besitzen alle nichttrivialen
Nullstellen der Funktion den Realteil ½. Mathematisch sind die
„Nullstellen“, die etwas über die Primzahlenverteilungen aussagen,
die aufregendste Orte, weil sie sowohl im Real- wie im Imaginärteil auf Höhe
„Normalnull“ liegen. Damit wurde 1859 eines der bedeutendsten Probleme
der neuen Mathematik formuliert, das Anfang des 20. Jahrhundes der
deutsche Mathematiker David Hilbert in seine berühmte Liste der 23 (!)
bis dahin ungelösten Probleme der Mathematik aufnahm. Seitdem reißen die
Versuche, die Vermutung Riemanns zu lösen, nicht ab und vielleicht ist
„Against the day“ der weitere Lösungsversuch eines „Zetamaniacs“,
in diesem Land auch literarisch erfolgreiche Expeditionen zu wagen.
Hoffnung, das Problem zu lösen, verbindet sich heute mit der Theorie des
"Quantenchaos", also der Verknüpfung von Quantenmechanik und
Chaostheorie, die für Pynchon verklammernde Leitmotive seines gesamten
Werkes sind. Das unfassbar Reale und das idealisch Imaginäre spielen seit
der Psychoanalyse in der Fassung Jacques
Lacans eine eminent wichtige Rolle. Und ist den Hegel je etwas anderes
gewesen als ein real-imaginärer Spieler mit der Wortmünze „ist“?
Also das treibt uns an, ohne hier auf festen Boden zu rechnen: Wo liegt
das „Rückgrat von Wirklichkeit“? (ATD 604, im Original deutsch).
„Wirklichkeit oder Imagination“ ist eine kaum auszulotende Frage, so
lange man interner Beobachter und nicht Gott ist. In Pynchons verrückenden
Vektorrechnungen beginnen wir in einer realen Welt, die sich in einer
imaginären Referenzwelt fortsetzt, um schließlich in der sogenannten
Wirklichkeit als neue Person aufzutauchen. Zwischen realen und imaginären
Ereignissen herrscht in den Nachtzügen von „Against the day“ so reger
Verkehr, dass das imaginäre Objekt bzw. seine Beobachter nicht leicht zu
lokalisieren sind. Wir brauchen auch hier eine Sphärologie[4],
die uns die Bi- und Dislokationen, den Verlust der Bodenhaftung und
real-imaginäre Raum-Zeit-Achsen erklärt und pragmatische Neubesinnungen
eröffnet, wenn sich Zeit und Raum in einer vierdimensionalen Physik neu
verfugen. Hier geht es indes nicht lediglich um eine technisch orientierte
Metaphysik, sondern um sehr konkrete Veränderungen unseres „In-der-Welt-Seins“.
„Webb Traverse” heißt
der zu rächende Anarchist, der die
Travestie einer virtuellen Öffentlichkeit signiert, die nun in einer
privatistisch-öffentlichen, mithin konstitutiv schizoiden Netzsphäre eng
in ihrem kommunikativen Autismus zusammenrücken soll. Professor Renfrew
in Cambridge spiegelt sich – rückwärts buchstabiert - in Professor
Werfner in Göttingen, der als Protagonist eines Spaltexperiments ein und
doch nicht derselbe, mit sich selbst verfeindete Teil einer Riemannschen
Sphäre ist.[5]
Thomas
Pynchon verbindet in „Against the day“ zahllose Figuren (mit immer -
bis zum Kalauer bereiten – sich selbst auslegenden Namen), Orte und
Ereignisse zu einem verspiegelten System, das von geheimen Gesetzen
zusammengehalten wird, die den paranoid geschulten Leser provozieren, sich
in den ubiquitären Beziehungswahn zu stürzen. Ist Ostende deshalb als
Turnierort für Schach beliebt, weil Belgien in internationalen Konflikten
das erste Bauernopfer, wenn auch kein
echtes Gambit ist? (ATD 543) Solche grotesk luziden Erkenntnisse des
Weltkonstruktionsuntergrunds verwandeln literarisch die „Riemannsche
Mannigfaltigkeit“ bzw. den „Riemannschen
Raum“, der eine gekrümmte Fläche bezeichnet, die unseren
physikalischen Alltagsregeln nicht länger folgt, in spekulative Welten,
die nicht regellos sind, aber ihre Gesetze nur hermeneutisch und
hermenautisch gewitzten Mitreisenden verraten. In dieser Welt muss die kürzeste
Strecke zwischen zwei Punkten keine Gerade sein, so wenig die Winkelsumme
im Dreieck 180° beträgt. Literaturmathematisch
kann also der von Krafft-Ebing beschriebene Hut-Fetischismus, der
Mayonaise-Kult und Richelieus Import der spanischen Fliege nach Frankreich
eine explosive Erkenntnis darüber bergen, welchen vektoriellen Regeln
politische Konflikte folgen. Oswald Spengler wurde Opfer satirischer
Angriffe, weil seine kulturmorphologische Verknüpfungsmetaphysik einigen
Zeitgenossen so kontingent bis tendenziell pathologisch erschien und er
das als Wissenschaft praktizierte, was Pynchon zum literarischen Spiel der
Anspielungen, zum Bedeutungssystem der Deutungen macht. Aber welche Rolle
spielt dieser Textsortenunterschied schon bei Universalpoeten
respektive Universalhistorikern? "Es gibt zitronengelbe
Falter, es gibt zitronengelbe Chinesen; in gewissem Sinn kann man also
sagen: Falter ist der mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese. Falter
wie Chinese sind bekannt als Sinnbilder der Wollust. Zum erstenmal wird
hier der Gedanke gefasst an die noch nie beachtete Übereinstimmung des
großen Alters der Lepidopterenfauna und der chinesischen Kultur. Dass der
Falter Flügel hat und der Chinese keine, ist nur ein Oberflächenphänomen.
Hätte ein Zoologe je auch nur das Geringste von den letzten und tiefsten
Gedanken der Technik verstanden, müsste nicht erst Ich die Bedeutung der
Tatsache erschließen, dass die Falter nicht das Schießpulver erfunden
haben; eben weil das schon die Chinesen taten. Die selbstmörderische
Vorliebe gewisser Nachtfalterarten für brennendes Licht ist ein dem
Tatverstand schwer zugänglich zu machendes Relikt dieses morphologischen
Zusammenhangs mit dem Chinesentum." (Robert Musil, Essay:
Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des
Abendlandes entronnen sind). „That damn Chinese feeling again“
(ATD 307) bzw. „A Chinese sort of situation, nicht wahr?“ (ATD
519) kommentiert Pynchon dieses eigene Urdilemma verknüpfungswütiger
Textschaltungen, die auf sich selbst angewandt, die Gattungsgrenzen
sprengen und nur durch Komik erträglich bleiben.

But
it's everything that matters," erläutert Chick Counterfly, einer der
fünf Schicksalsgenossen, diesen aeronautisch durchmessenen
Bedeutungsrahmen, der kein Weltmoment unschuldig unverbunden entkommen lässt.
Es geht um alle Welterschließungsweisen, auch wenn sie aus kruden Quellen
sprudeln, wie jene Heftchen-Stories der „Chums of Chance“ mit ihren
sprechenden Hund „Pugnax“, deren Abenteuer zu ironischen Referenzen
einer Fiktion in der Fiktion werden. Auch der Geschichtenraum von
Pynchonesien ist ähnlich offen wie weiland die Filmräume Michelangelo
Antonionis, dessen widerstrebende Kamera sich längst nicht narrativ vom
„plot“ terrorisieren ließ. Auf für uns imaginären Achsen erleben
die „Chums of Chance“, diese Serapionsbrüder einer verspäteten
Moderne respektive frühvirtuellen Zeit, andere Geschichten, die nicht
weniger real als die erzählten sind. In der metaphorisch konstruierten
„Töpler Influence Machine”
werden vermeintlich disparate Materialien kombiniert, um eine literarische
Elektrizität zu spenden, die dann Pynchons unwahrscheinliche
Gesellschaften auflädt: Geheimzirkel, dämonische Horden, skurrile
Einzelne, die jenseits von Staat und Gesellschaft anarchisch autistische
Existenzen führen. Diesmal lümmeln sich auch Zeitreisende aus diesem
oder jenem Universum durch die Texte, die mehr oder weniger irritiert
reagieren, wenn plötzlich Großereignisse wie Weltkriege „irgendwie“
fehlen. Viele Figuren Pynchons sind kognitive Stunt-Kommentatoren, die
offensichtlich - auch oder gerade als Existenzen im Reich der schwarzen
Materie – viel Fernsehen gucken, nachhaltig im Internet surfen und wie
„idiots savants“ alles notieren. So global, gewaltig, komplex und
wissend Pynchons verschlungene Welt auch konstruiert ist, die Abwesenheit
von Gesellschaft macht sie zu einer so nomadischen wie monadischen Sphäre,
die den biografischen Erfahrungen dieses nichtexistenten Autors eignen
mag. „Against the day“ entfaltet keine empathiefähigen Protagonisten,
keine psychologisch ausdifferenzierten Persönlichkeiten, sondern
ungewisse Entitäten, Triebschicksale, Stichwortgeber, von der
Toilettenwand herunter gesprungene Graffiti-Männchen, die nun in allen
Zungen Babylons reden wollen. Die multilinguale „Ars combinatoria“
wird auch diesmal wieder exzessiv in der Pornografie inszeniert - einer
bizarren Hardcore-Mechanik, die Figuren mitunter ähnlich zusammenführt,
wie es der Marquis de Sade vorführte, der sich zeitlebens redlich abmühte,
den vergleichsweise einfachen Geschlechtsakt zur Architektur der Lust und
grotesken Verschaltung der Leiber zu transformieren, um die Schöpfung
durch den Verrat an sich selbst zu provozieren.
Die
Schöpfung, die wir bei Thomas Pynchon erleben, ist eine so kontingente
wie notwendige Welt, die zuletzt reklamieren will, die beste aller möglichen
Welten zu sein, wenngleich Hoffnung („toward grace“ ATD 1085) besteht.
Fundamentalistische Sprüche des erzbösen Kapitalisten Scarsdale Vibe,
die das Paradox der christlichen Feindes- wie Nächstenliebe aufwerfen,
dass man die Bösen töten soll, wenn die Kinder des Herrn gefährdet sind
(ATD 333), lesen sich vor unseren alltäglichen TV-Hintergrund als
Kommentare zu den neokonservativen Ausritten in den nicht
demokratiebereiten Orient oder zu den zündelnden Zornigen im Banlieue.
„A Modern Christian´s Guide in Moral Perplexities“ macht uns im
Angedenken von 9/11 klar, dass Religion in ihren Antinomien gewalttätig
ist, wie es der anarchistische „Reverend Moss Gatlin“ schon mit seinem
Namen belegt – nach dem ersten von Richard
Jordan Gatling entwickelten Maschinengewehr[6].
Zuvor hatte Pynchon in Gravity`s Rainbow nicht ausgeschlossen, dass die
Vereinigten Staaten von Amerika zu den „kosmischen Formen von grobem
Unfug“ gehören könnten.[7]
Der Reverend fragt diesmal
im Stil unserer rotbalkigen Boulevard-Aufklärung nach dem Schrecken, der
endlich wieder eine leicht nachvollziehbare Freund-Feind-Kennung im Stile
Carl Schmitts bereit hält: "How can anyone set off a bomb that will
take innocent lives?" Pynchon erinnert sich an den Witz in Stanley
Kubricks “Full Metal Jacket”: "Long fuse" – Lange Lunte (ATD
87). Gewaltbereite Anarcho-Individualisten, explosive Stirnerianer und mit
und ohne Drogen angetörnte Freaks diverser Bauart sind die wilden Kerle
eines Autors, der wie Friedrich Nietzsche virtuelle Souffleure für seine
selbst gewählte Einsamkeit des literarischen Selbstgesprächs erfindet.
Vielleicht gefällt sich Pynchon in narzisstischer Abwesenheit vor dem
Spiegel der Medien, weil es, ob man nun Honoré
de Balzac, Roland Barthes oder den Aborigines folgt, dabei bleibt,
dass die fotografische Abbildung der Tod ist – was zu jener grotesken
Geschichte führte, dass der Autor CNN ein kurzes Interview gewährte, um
heimlich geschossene Fotos des Meisters nicht veröffentlicht zu sehen.
Thomas Pynchon ist also ein weiteres Gespenst der Geschichte, das von Marx
und Engels über die Marx-Brothers bis hin zu Jacques Derrida und Peter
Sloterdijk nicht auszutreiben ist. Ist der Schrecken der Gespenster ihre
Botschaft aus der Zukunft, dass wir tot sein werden, fragt Pynchon. Sind
sie mithin unsere vektoriellen Schattenexistenzen, mit denen wir uns
selbst verfolgen? „Unsere eigenen Gestalten hafteten darinnen wie
schwarze, hohle Gespenster, die keine Tiefe haben“, kommentierte
Adalbert Stifter tief ergriffen die „Sonnenfinsterniß am 8. July
1842“, die vom „Tod des Lichtes“ (Hans Sedlmayr) handelt. Licht,
Schatten und Dunkelheit sind auch die intrikat entfalteten Themen in „Against
the day“. Wir reisen „clairvoyant“ von „Der Finsterzwerg“ (ATD
594) zu „ambiguous lamplight and masked fantasy“ (ATD 891) bis hin zur
hysterischen Blindheit derer, die die „Inconvenience“ nicht mehr sehen
können, die inzwischen groß wie ein kleine Stadt geworden ist (ATD
1084). Wenn man den „Kampf ums Dasein“ (ATD 533, im Original deutsch)
verliert, phantasiert man bloß noch, um zu existieren und wird damit zum
Gespenst der Geschichte. Bei Pynchon werden solche Phänomene über ihren
metaphorischen Charakter hinaus als genuine Wirklichkeit behandelt, wenn
er etwa en passant den Physiologen Charles
Bonnet (1720-1793) erwähnt, der das nach ihm benanntes CBS-Syndrom so
beschrieb: Sehbehinderte sehen lebendige und komplexe Bilder, die ihnen
als durch und durch real erscheinen. CBS tritt nicht als
psychopathologisches Phänomen auf, sondern als eine organische
funktionelle Behinderung, deren Phänomenologie darin besteht, dass der
Kranke bizarre Bildwelten mit Geistern, Elfen, Cartoonfiguren, magischen
Landschaften etc. wahrnimmt. Pynchons Gastauftritte in drei
Episoden der Simpsons (Diatribe of a Mad Housewife, All's Fair in Oven
War, Moe'N'a Lisa) machen ihn selbst zu einem cartoonesken CBS-Symptom und
gewähren Mikro-Einblicke in ein selbst entworfenes Gespensterleben, das
vielleicht den Fantasien des Romans zur „wirklichen“ Queen Victoria
strukturell folgt. „Vic“ altert dort nicht wie ihr „ghostly stand
in“ der Realgeschichte, sie wird gefangen gehalten von einem Herrscher
der Unterwelt, immun gegen die Zeit und in ewiger Jugend (ATD 231) - so
wie Pynchon in seinem alten Navy-Foto fixiert bleibt, das ihn als ewiges
Gespenst der Literaturgeschichte zeigt.
Mit
„Against the day“ kehrt Thomas Pynchon zur komplexen Erzählarchitektur
von „V“ und „Gravity´s Rainbow“ zurück und hat „Vineland“
bzw. die Mason-Dixon-Linie wieder verlassen. Es bleibt allerdings eine
editorische Zumutung für den Leser, dass diverse Begrifflichkeiten nicht
übersetzt werden, denn Pynchons kabbalistischer Hell-Dunkel-Diskurs
gestaltet sich so polyglott, dass reine Übersetzungen ohnehin zu kurz
greifen. Ohne ein ausführliches Glossar fehlt es aber dem Original an
ausreichenden Bordmitteln, um die Fahrt auf der „Inconvenience“ von
einigen Irrungen und Wirrungen zu befreien. Allein die Vielzahl deutscher
„Slang“-Begriffe („Fettwanst“, „Heiliger Bimbam“, „Klapsmühle“,
„Tatzelwurm“) sind Lesern aus dem angloamerikanischen Sprachraum kaum
geläufig. Auch für den Editor wären Übersetzungen hilfreich gewesen,
denn die Verwendung der deutschen Sprache - die Pynchon zwar durchaus
originell praktiziert („Kuchenteigs-Verderbtheit“, ATD 47), aber
vielleicht nicht in allen ihren diabolischen Untergründen gut genug kennt
- erscheint mitunter fehlerhaft („Zu befehl, Herr Hauptheitzer“,
„Dampf mehr“, ATD 517, „Auf wiedersehen“, ATD 592). Die alte
Frage, ob Kryptologie das genuine Medium der Hermeneutik ist, ließe sich
zumindest im Horizont des editorisch gut betreuten Lesers entschärfen. Oh
Herr, gib´ uns unseren täglichen Hyperlink heute![8]
Nicht
erst seit dem „Bargfelder Boten“, der sich ausschließlich der Entschlüsselung
von Arno Schmidts späten Romanen widmete, weiß man um die Fährnisse
unbewaffneter Lektüre. Während im alteuropäischen Murano[9]
die Geheimnisse der Spiegel- und Glasmacher fanatisch gehütet wurden und
Arbeiter wie Gefangene gehalten werden, gelingt es Niccolò dei Zombini
(ATD 569) nach Amerika, in das Land der Praktiker und Pragmatiker, zu
fliehen. Doch Pynchon tritt die Rückreise an, weil das alte Spiel von
Kodierung und Dekodierung, das etwa bei E.A.Poe zur Obsession wurde, der Königsweg
der Welterschließung bleibt. Es ist keine auktoriale Marotte, die Welt
bleibt ein Vexierspiel und immer neue Lichtschübe werden uns nicht darüber
täuschen. Wie können wir dann wissen? Die Inschrift auf dem Grab von
David Hilbert lautet: „Wir müssen wissen, und wir werden wissen.“
Vor einem Studium höherer Mathematik könnte es allerdings relativ
sinnlos sein, dieses intrikate Wissen Hilberts oder die vierdimensionale
Minkowski-Welt in Thomas Pynchons neuem Roman in allen Facetten aufzuspüren,
wie es eine größere Anzahl von Rezensionen erweist, die sich bereits an
der Komplexität des Werks zuschanden gelesen haben. „Zu viele Töne“
oder „zu viele Wörter“ bleibt die Sprache der schlecht kaschierten
Ignoranz kulturbeflissener Feuilletons. Solche Lektüren verkennen, dass
Pynchon nie weniger verhandelt als die ganze Welt und vielleicht sogar
noch mehr…
Für
die im Roman kurz aufscheinende Mathematikerin Sofja Kowalewskaja
(1850-1891), die in Göttingen mit einer Arbeit über partielle
Differentialgleichungen promovierte und die erste Mathematikprofessorin im
Europa des 19.Jahrhunderts wurde wurde, schien es unmöglich,
"Mathematiker zu sein, ohne die Seele eines Dichters zu haben".
Nach dem Tod ihrer Schwester schrieb sie: „Alles im Leben erscheint mir
so verblasst und uninteressant. In solchen Augenblicken taugt die
Mathematik besser; man freut sich, dass eine Welt so ganz außerhalb unser
selbst existiert.“ Pynchon folgt sogar der Theorie vieler Welten bzw.
Universen (ATD 594), die dicht beieinander liegen und doch so diskret
getrennt sind, wie er es am Beispiel eines Hotelbetriebs skizziert, der an
Friedrich Wilhelm Murnaus Film „Der Letzte Mann“ von 1924 erinnert:
Wir sind alle „chums of chance“, die vom Schicksal von oben nach unten
und zurück gewürfelt werden. „Against the day“ wird dabei zur
Schnittstelle zwischen „God´s unseen world“ und der wirklichen Wirklichkeit, die nur mit
einer Physik zu begreifen ist, in der die Zeit real und der Raum
imaginär ist. Ohnehin ist das die wichtigste Idee im Roman, der nicht ein
weiteres Experimentalfeld für Scifi-Zeitreisen sein will, sondern den
bereiten Leser irritiert, dass der Raum – eingedenk der Definition des
Augustinus[10]
- mindestens so unfassbar wie die Zeit ist. Wenn wir uns nicht mehr als
selbstverständlichste Wahrnehmungserfahrung intuitiv auf Raum und Gegenstände
verlassen können, könnte die Zeit zu unserer Verbündeten werden, ein
angemesseneres Wirklichkeitsverhältnis zu finden. In einer sehr schönen
Idee fragt Pynchon, ob es denn, wenn es doch den neutralen Boden als
politischen Begriff gibt, auch eine neutrale Zeit geben könnte, etwa eine
Stunde, in der man ewig unangefochten verharren kann.
Elfriede
Jelinek, Pynchon-Übersetzerin: „Es
ist ein Witz, dass er den Nobelpreis nicht hat, und ich habe ihn. Ich
halte Pynchon für einen der bedeutendsten lebenden Schriftsteller, weit
vor Philip Roth übrigens. Ich kann doch den Nobelpreis nicht kriegen,
wenn Pynchon ihn nicht hat! Das ist gegen die Naturgesetze...“
Pynchons Held „Traverse“ bekommt irgendwann den Rat, diese
farcenhafte Existenz aufzugeben und sich wieder der wirklichen Welt
zuzuwenden. Vielleicht hält sich ja der Autor selbst daran und taucht
rechtzeitig zur Verleihung des Literatur-Nobelpreises auf. Ob in der
realen oder imaginären Welt, das ist nur eine Frage der Beobachtung oder
eben der Riemannschen Mannigfaltigkeit und die ist nun in diesem Roman so
mächtig entwickelt, dass kein Weg mehr zurückführt. Allein das macht
diesen Großentwurf wichtiger als die vielen lesbaren Bücher, die so
durchschaubar um die Gunst der Leser buhlen und deshalb so durchschaubar
geschrieben werden. Schon hat man Pynchon aus diesem Ressentiment heraus
vorgeworfen, sich selbst zu parodieren, also ob es bei diesem oder
irgendeinem anderen bedeutenden Autor je einen signifikanten Unterschied
zwischen der Wahrheit und ihrer Parodie gegeben hätte? Auf Seite 666 von
„Against the day“ taucht nicht das erwartete Tier der Offenbarung des
Johannes auf, sondern der müffelnde „toy spaniel“ Mouffette, der von
seiner Herrin für libidinöse Zwecke abgerichtet wurde und vielleicht
auch deshalb, zumindest aus menschlicher Perspektive, zum Sarkasmus neigt.
Mit anderen Worten: Pynchon is back!
Goedart Palm
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