Der
Denker zwischen Saturn und Mickey Maus
„´Will
ich in mein Stüblein gehn, / Will mein Müslein essen: / Steht ein
bucklicht Männlein da, / Hat’s schon halber ’gessen.« So
stand das Männlein oft. Allein, ich habe es nie gesehn. Es sah nur
immer mich.”
Walter
Bendix Schönflies Benjamin (* 15. Juli 1892 in Berlin - † 26.
September 1940 in Portbou) wird seit Jahrzehnten als Grenzgänger eines
transgressiven Denkens bewundert, der auf vielen intellektuellen Märkten
zu finden ist, um dort seine ewige Aktualität zu behaupten. Maßgeblich
für diesen ungebrochenem, aber nicht weniger verdächtigen Kultstatus
ist ein Werk, das mit höchstem Anspruch auftrat, auch heute noch
experimentell und innovativ erscheint und so zahlreiche philosophische,
theologische und mediale Strömungen verarbeitete, dass sich der Autor
weitgehend seiner kategorialen Verortung im Bildungspantheon entziehen
konnte. Auch wenn gegenwärtige Leser den Verdacht erheben mögen, dass
der Autor an dieser oft enigmatischen Einzigartigkeit keinen geringen
strategischen Anteil hatte, also sein Werk nicht zuletzt stilistisch prätentiös
zu inszenieren wusste, so sind doch Benjamins kühne Motiv-Verschränkungen
aus zahlreichen relevanten Denkgebieten so vielschichtig, dass diese
Kritik zu kurz greift. Im Zentrum seiner Schriften, das mediale und
messianische, romantische und marxistische Figuren bis hin zur Mickey
Maus mit höchst unterschiedlichen Intensitäten kurzschloss, steht das
unabschließbare und unabgeschlossene Passagen-Werk, das eben seinem
beherrschenden Motiv darin treu ist, in einer flanierenden und zugleich
grenzüberschreitenden Weise Passagen durch die geistigen Landschaften
der irritierenden Großstadtmoderne zu schneiden, wie sie nie zuvor
durchschritten wurden. Dieses Werk ist detailversessen bis zu dem Punkt,
der ihm hier wie anderenorts Theodor W. Adornos harsche Kritik
einbrachte, dieser Fixierung auf die Phänomene dialektisch nicht
gewachsen zu sein. Adorno war zwar der größere Kenner der
hegelianischen Geschichtsphilosophie, aber Benjamin gerade im Blick auf
spätere Anverwandlungen Adornos einiger zentraler Begrifflichkeiten
Benjamins der anregendere Denker. Benjamins Programmsatz zu seiner
Recherche könnte dieser sein: „Der Chronist, welcher die Ereignisse
hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der
Wahrheit Rechnung, dass nichts was sich jemals ereignet hat, für die
Geschichte verloren zu geben ist.“ Dieser hohe Anspruch geht über
Prousts Suche nach der verlorenen Zeit, die Benjamin faszinierte,
insoweit hinaus, als der Denker diese Phänomene in einem Kontext zu
ordnen versuchte, der weder vor den zahllosen Phänomenen noch vor einer
geschichtsphilosophisch offenen, ja waghalsigen Deutung zurückschreckte.
Jean-Michel Palmier strebte in seiner nun in Deutsch vorgelegten
Biografie an, Walter Benjamin in diesen zahlreichen Bedeutungssedimenten
zu erfassen und die oft nur als Andeutungen vorhandenen Elemente in
ihrer Wechselbezüglichkeit und ihrem produktiven
Fortschreibungsanspruch aufzuzeigen. Der Tod griff nicht anders als bei
seinem Untersuchungsgegenstand auch in sein Werk ein. Palmier starb 1998
vor der Fertigstellung seines Werks, das im Blick auf mehr als 1300
Seiten indes kaum Fragment genannt werden kann.
Rolf
Wiggershaus resümiert diese Biografie so: „Trotz aller Bewunderung
hinterlässt Palmiers Buch ein zwiespältiges Gefühl. Der Autor führt
mit sicherer Hand durch ein Labyrinth - aber nicht mehr hinaus. Bei
aller Angemessenheit im einzelnen hat die Monumentalität des Ganzen
angesichts der einen Person, um die bzw. um deren Werk es geht, etwas
Unmäßiges.“ Gewiss, jedoch ist es das Signum des Autors Walter
Benjamin sich der eindeutigen Zuordnung seines Denkens so zu entziehen,
dass die „Passage“ sich schon immer als topografische Nahverwandte
des Labyrinths präsentierte. Die Passage als Ort der
geschichtsphilosophischen Meditation lag nahe, doch deren Brisanz geht
über die Nachfolgefunktion der fürstlichen Wunderkammer weit hinaus,
weil hier der Boulevard zum Interieur und die zahllosen Produkte zum
unabsehbaren Kosmos der Moderne werden. Benjamin erkennt hier bereits
den später oft beschworenen Strukturwandel der Öffentlichkeit, der
heute nahtlos in der Internetkultur von „websites“ und „blogs“
beschrieben werden könnte, die dieses Außen und Innen, Öffentlich und
Privat konvertieren und so diese vormals geordneten Sphären in eine
selbst uns noch höchst verstörende Bewegung schicken.
Bei
Benjamin gelten Denkbewegungen und Details mehr als das Ergebnis, das
nicht darin bestehen kann, sich einen ideologisch gefestigten Zugang zur
Geschichte zu schaffen. Vieles wurde von Walter Benjamin „angedacht“
und – schon im Blick auf die höchst wechselvollen und schließlich
katastrophalen Lebensumstände - nicht so entfaltet, wie es ihm selbst
angelegen gewesen ist. Insofern hat Jean-Michel Palmier mehr als einen
unvollendeten Versuch zurückgelassen, es ist ein notwendiges Werk der
Aufklärung über die trotz vieler Interpretationen weiterhin
provozierende Verschlungenheit der Benjaminschen Motive.
Zwischen
Krisis und Kritik
„Die
Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die
homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.“
Wir laden unsere Zeit mit Geschichte auf, um darin eine politische
Wahrheit zu finden, die erfolgreich zu sein verspricht. Die messianische
Geschichte ist also alles andere als ein Vertröstungsdiskurs. Es geht
um die Rettung und Kritik dessen, was anders immer verloren wäre. Gegen
die kontinuierliche Katastrophe, gegen die Verstümmelung und
Deprivation des Lebens verbündet sich die Sensibilität des Gegenwärtigen
mit messianischen, romantischen und metaphysischen Bildern, also
Hoffnungen auf die Urbarmachung einer heterogen aufblitzenden Historie.
Die romantische Forderung Schlegels nach der Rettung der Tradition erfüllt
sich hier einerseits in der Reflektion auf die ökonomischen
Werkbedingungen, die andererseits wiederum die Rezeptionsbedingungen
anleiten, den Kritiker also nicht lediglich auf den Sammler aller
historischen Lesarten reduzieren, sondern als Interpreten einsetzen, der
von seinem jeweiligen historischen Standpunkt aus auf das Material der
Geschichte zugreift. „Zum Bilde der ´Rettung´ gehört der feste,
scheinbar brutale Zugriff.“ Diese Rettung kann nur gelingen, wenn der
Kritiker seine Position politisiert, d.h. subversiv das träge dahinfließende
Kontinuum der Zeit aufbricht, um in Bildern und Fragmenten plötzlich
erscheinende Wahrheiten gegen eine falsche Totalität aufzubieten.
„Die
Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ´Ausnahmezustand´,
in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der
Geschichte kommen, der dem entspricht.“ Geschichte ist also zuvörderst
Katastrophengeschichte. Walter Benjamin ist dabei im Gegensatz zu Ernst
Bloch melancholisch bis pessimistisch, ohne deshalb das Projekt „Erlösung“
aufzugeben. Von daher liegt es für Biografen nahe, Benjamins thematisch
oft eigenwilligen Zugriff auf die Geschichte als eine Konvertierung
dieser inneren Zustände zu objektiven Gestalten der Erfahrung zu
deuten. Wie anders erklärt sich, dass seine nicht angenommene und zunächst
auch publizistisch erfolglose Habilitationsschrift „Ursprung des
deutschen Trauerspiels“ fernab von aktuellen Diskursen ihr Thema im
Barock sucht und festhält: „Ist doch die Einsicht in die Vergänglichkeit
der Dinge und jene Sorge, sie ins Ewige zu retten, im Allegorischen eins
der stärksten Motive.“ Das Werk steht vor der Person Walter
Benjamins, der seine stilistische Brillanz einmal damit erklärte, auf
das Wort „ich“ zu verzichten. So wie er Goethe bescheinigte, sich im
Alter als „Kanzlist des eigenen Innern“ zu verlautbaren, war
Benjamin in seinen Selbstaussagen abstrakt und reserviert genug, um für
Biografen schwer genug Rückschlüsse auf seine Befindlichkeiten
herauszulesen. Er galt bei Freunden und Bekannten als schüchtern und
selbstsicher zugleich, vor allem aber als traurig bis hin zu suizidalen
Fantasien.
Erst
der erlösten Menschheit fällt nach Benjamin ihre Vergangenheit vollauf
zu, wenn sie in einer Welt umfassender Instantaneität aufgehoben wird.
„Die messianische Welt ist die Welt allseitiger und integraler
Aktualität. Erst in ihr gibt es Universalgeschichte. Was sich heute so
bezeichnet, kann immer nur eine Sorte von Esperanto sein. Es kann ihr
nichts entsprechen, eh die Verwirrung, die vom Turmbau zu Babel herrührt,
geschlichtet ist.“ Es geht also um Erlösung der Geschichte und der
menschlichen Kondition gleichermaßen: „Marx hat in der Vorstellung
der klassenlosen Gesellschaft die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert.
Und das war gut so.“ Gegenüber der marxistisch schneidigen
Entwicklungsdynamik in ihrer Gewissheit eines vom Sein bestimmten
Bewusstseins, reagiert Benjamin mit dem eigenwilligen, nicht marxistisch
geerdeten Begriff „Dialektik im Stillstand“ selbst dialektisch. Die
Zeit steht still, das Jetzt tritt aus ihr heraus. Die schlechte
Geschichte, der mythisch aufgeladene Fortschrittsprozess werden
angehalten, um das Jetzt als erfüllte Zeitform zu erlösen und zugleich
die Vergangenheit erinnernd zu bewahren und somit zu retten. Walter
Benjamin fasst diesen Vorgang als dialektisches Bild auf, als ein Bild,
das Vergangenheit und Gegenwart zu einer Konstruktion zusammenschließt.
Dass es dazu kommt, beantwortet sich nicht in einem vorinstallierten
Hoffungsprinzip, doch wenigstens gilt: „Die Vergangenheit führt einen
heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird.“
Benjamins exegetisches Hilfspersonal in seiner Geschichtsbetrachtung,
von Jean-Michel Palmier an die prominenteste Stelle gesetzt, sind der
Engel der Geschichte, das bucklicht Männlein und der Lumpensammler. Es
sind dialektische Figuren, die auf der exklusiven Achse von Jetzt und
Vergangenheit vom Bewahren und Vergessen, Retten und Verlieren künden.
Der Engel der Geschichte folgt dieser historischen Logik: „Er möchte
wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.
Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln
verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen
kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken
kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was
wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ Ein so prekärer
messianische Rettungsdiskurs gegenüber der Geschichte, der an jede
melancholische Disposition rührt, ist indes vielleicht nicht die
einzige Methode, den Nutzen der Historie für das zu rettende Leben zu
erweisen. Ein solcher Anspruch der Erlösung liegt wie eine schwere
Hypothek auf diesem Geschichtsbild, während ein je ambivalenter
Fortschritt gegenüber dem Benjaminschen Verständnis heißen könnte,
auf kleine humane Fortifikationen gegenüber den Zumutungen dieser Welt
zu bauen, ohne sich wie zu oft in totalisierenden oder
eschatologischen Zumutungen zu verlieren. Hilft hier die Mickey Maus,
die Benjamin zufolge „den Traum der heutigen Menschen“ verkörpert,
weil sie als vollkommene Einheit von „Natur und Technik, Primitivität
und Komfort“ tabula rasa macht und sich lachend über die technischen
Wunder erhebt.
Zur
Auratisierung der Medienwissenschaft
Bleibt
„Walter Benjamin und die Medienwissenschaft“ weiterhin ein
produktives Kapitel oder sind die Ahnungen zur Fundamentalrevision künstlerischer
Produktivität und Rezeptivität durch immer neue technische Überbietungen
längst obsolet geworden? „Weder die Materie, noch der Raum, noch die
Zeit sind seit zwanzig Jahren, was sie seit jeher gewesen sind. Man muss
sich darauf gefasst machen, dass so große Neuerungen die gesamte
Technik der Künste verändern, dadurch die Invention selbst
beeinflussen und schließlich vielleicht dazu gelangen werden, den
Begriff der Kunst selbst auf die zauberhafteste Art zu verändern.“
Diese paradigmatische Feststellung Paul
Valérys demonstriert nicht nur die der technischen Neuverortung
geschuldete Dynamik, sondern verweist zugleich auf den ältesten
Zusammenhang zwischen Kunst und Magie, der über eine avancierte Technik
zu einer neuen Bedeutung geführt wird.
Theodor
W. Adorno beklagte Walter Benjamins vordergründige Fixierung auf die
Technik, weil doch ein kritischer aufgefasster Begriff der Aura allein
angemessen wäre, sich gegen die Ideologie der Kulturindustrie zu
stellen, demgegenüber das Formgesetz vornehmlich die Kraft habe, sich
kritisch gegen die „Aufklärung als Massenbetrug" zu
wenden. „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit von 1935 wurde gleichwohl oder eben deshalb zur
bekanntesten und wirkungsmächtigsten Schrift Walter Benjamins –
„der kanonische Text schlechthin“ (Inge Münz-Koenen). Die
„Aura“ ist mehr als ein Kontextualisierungsverlust des Kunstwerks.
Die Entauratisierung in der technischen Reproduktion rührt an dessen
Echtheit. Benjamin hielt das für ein epochales Signum, das weit über
die Kunst hinausweist. Mit Marshall McLuhan hat er die Auffassung
gemeinsam, dass die Sinneswahrnehmung des Menschen sich verändert und
es folglich keine rein technischen Veränderungen zu beschreiben gibt,
sondern immer um unabsehbare Wandlungen der „aisthesis“ geht. Aura
prägt die Sinneswahrnehmung, die Benjamin ausdrücklich an der
Naturwahrnehmung demonstriert: die „Aura“ eines Zweiges atmen.
Dieses unmittelbare Welterleben, das sowohl in der Phänomenologie wie
in Heideggers Ontologie eine prominente Rolle spielt, löst sich in der
Welt der Apparaturen auf: „Der apparatfreie Aspekt der Realität ist
hier zu ihrem künstlichsten geworden und der Anblick der unmittelbaren
Wirklichkeit zur blauen Blume im Land der Technik.“ Sicher war diese
zeittypische Klage auch für Benjamin nicht ohne eigenen sinnlichen
Anlass verfasst worden, da er nicht nur über Sammler schrieb, sondern
auch selbst leidenschaftlich bibliophile Bücher, Spielzeug und
Postkarten sammelte. Als Kenner der Frühromantik war ihm das
exemplarische Zitat von Novalis geläufig: „Jeder geliebte Gegenstand
ist Mittelpunkt des Paradieses.“ Für Benjamin waren das
keine peripheren Marotten, wenn der Sammler tief in die Dinge
eindringt, „nicht nur im dürren Anundfürsich“, sondern wenn die
Dinge „zusammenklingen“.
Reproduzierbarkeit
heißt Verfall dieser originären Sinnlichkeit, Verlust von
unmittelbarer Wirklichkeit und ihren (bisher) nicht reproduzierbaren
Erfahrungsmöglichkeiten. Das Einmalige verliert seinen Status. Der
Gegenstand wird gleichsam herausgeschält aus seinem authentischen
Erfahrungszusammenhang. Die Vermassung der Wahrnehmung durch die
wahrnehmenden Massen wird zur folgenreichen Entfernung vom Erleben des
originalen, traditionsgeprägten Kunstwerks und seiner bürgerlichen
Rezipienten. Folgenreich bleibt seine Beschreibung der Choc-Wirkung des
Films, der keine Assoziationsräume zwischen den Bildern in
ausreichendem Maße eröffnet, sondern vor der Entstehung des Gedankens
das Bewusstsein mit Bildern zuschüttet. Andererseits gewährt der Film
eine „Vertiefung der Apperzeption“, geht also präziser, tiefer und
intensiver mit seiner Wirklichkeit um, als es etwa die Malerei vermag.
Doch in welchem Verhältnis stehen Film und Politik, Massenkunst und
Gesellschaft zueinander? Georg Lukács,
dem Benjamin in mancherlei Hinsicht verbunden war, beschrieb den Film
als „Produkt des Kapitalismus“ mit der Folge, „dass die ganze
Filmproduktion den kapitalistischen Interessen bedingungslos
untergeordnet ist“, ohne den Effekt der Massenrezeption zu verkennen.
Walter Benjamin hat, fundamental anders als Adorno, den Film als
Massenkunst verteidigt: „Zu keinem, wenn auch noch so utopischen
Zeitpunkte, wird man die Massen für eine höhere Kunst sondern immer
nur für eine gewinnen, die ihnen näher ist.“ Film als Zerstreuung für
die Massen plädiert aber nun nicht für die Kulturindustrie, sondern
wird auf die „Apperzeption“ zurückbezogen. Bestimmte Aufgaben könnten
nur in der Zerstreuung geleistet werden, was Benjamin als Chance
erkennt, mit dem Film Massen über veränderte Wahrnehmungsformen zu
mobilisieren.
Cyberspace,
Simulacrum, Virtualität sind heute zu so selbstverständlichen wie
unreflektierten Begrifflichkeiten geworden, die Benjamins Kritik weit über
das hinaus tragen, was zuvor als technische Reproduzierbarkeit in
Fabriken, Warenhäusern oder Filmpalästen paradigmatisch wurde.
Andererseits liegt hier auch die crux des Ansatzes, der wesentlich vom
Verfall von Erfahrungsweisen handelt, ohne die hinzutretenden Momente
einer neuen, technisch zu generierenden Erfahrung immer schon
hinreichend erkennen zu können. Gerade die technisch avancierte
Virtualität will Erfahrungen aufschließen, die in ihrer ästhetischen
Direktheit nicht hinter dem kontextgebundenen Originärerleben zurückstehen
wollen. Wir erleben, dass nach der Demontage alter Authentizitäten neue
Erfahrungs- und Erlebnisweisen wiederum deutlich machen, dass es immer
um Vermittlung geht, was auch für Benjamins Beispiele des echten
Naturerlebens gilt, die eben nur durch Sinne bzw. Sinnesorgane
medialisiert, also apparativ wirksam werden. Füllt die Technik nicht
diese Lücke, die sie schlägt, mit immer neuen technischen Möglichkeiten
wieder? Der Benjaminsche Diskurs könnte dann selbst im Angesicht einer
übermächtigen Technik antiquiert werden, was indes nicht ein bloßer
Makel ist, sondern zum Stigma von später Theorie schlechthin wird: Die
technisch generierten Phänomene gewähren keine notwendigen Eingewöhnungszeiten
mehr, sondern vor ihrer gestischen Inbesitznahme durch Menschen
verwandeln sich nicht nur ihr Gesicht, sondern Funktion und Anschlussmöglichkeiten.
Mediale Aneignung steht unter diesem Veränderungsdruck, der jedenfalls
drastisch vor Augen führt, dass die frühen Einschätzungen des Films
durch Benjamin einer avancierten Medienwissenschaft allenfalls noch
Anregungen bieten können, die vor allem darin bestehen, die
polyvalenten Wirkungen eines Mediums nicht im vorschnellen
Theoriediskurs einzuschmelzen. Selbst Theodor W. Adorno hat später
einmal eingestanden, das Verdikt gegen die Kulturindustrie im Blick auf
weitere Entwicklungen zu fundamentalistisch vorgetragen zu haben. Der
eher tastende, offene Duktus des Benjaminschen Denkens, wie ihn
Jean-Michel Palmier angemessen rekonstruiert, besitzt weiterhin die größere
historische Strahlkraft als die blendende Rede vom
„Verblendungszusammenhang“ der selbst heute als Ausblendung von
kulturellen Effekten zu lesen ist.
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