Endzeit
Timothy McVeigh
sollte sich anlässlich seiner Hinrichtung kurz fassen: Was immer der
Oklahoma-City-Attentäter der Menschheit noch zu sagen hat, muss sich dem Protokoll der
Hinrichtung fügen. Da McVeigh die mediale Verbreitung seiner Tötung angeblich
begrüßte, wird er sicher Verständnis dafür haben, dass auch seine letzten Worte in das
enge Zeitkorsett der Veranstaltung eingebunden werden. Auch bei weniger spektakulären
Toden etwa im Altenheim wird der Wunsch, für den Abtransport der Leiche zu
sorgen, durchaus unmittelbar nach dem Hinscheiden an die Hinterbliebenen herangetragen.
Vielleicht lässt sich daraus der Kurz-Schluss ziehen, dass nicht nur Arbeits- und
Freizeitwelten, sondern auch existenzielle Angelegenheiten dem harten Zeitregiment der
Gesellschaft unterworfen sind.
Zur Illusion der Freizeit
Freizeit? Auch
Freizeit kann sich zur Fron verwandeln, wenn aufwändige Touren durch die Fremde zu
Tor-touren werden. Aus mehr oder minder gemächlichen Kavaliersreisen mutierten
kick-geladene Animationen für Menschen, die allemal bereit sind, Tempo mit Erleben,
schnellen Rhythmus mit sinnvoller Urlaubsgestaltung zu verwechseln. Gefährliche Rhythmen,
die nicht kompatibel mit biologischen Mustern von Aktivität und Entspannung sind, prägen
wesentliche Bereiche der Rekreation: In Diskotheken wurde mit dem Aufkommen von rave,
verstärkt durch Drogen wie ecstasy, die ihren Programmzweck schon im Namen tragen, das
Erlebnistempo verschärft. Der natürliche Wechsel von vita activa und
vita contemplativa will unter diesem Druck einer entfesselten Bewegung nicht
mehr gelingen. Live hard, die young hatten sich schon die Hippies auf die
Fahnen geschrieben, aber die Finalisierung eines Lebensgefühls, das sich im
bedingungslosen Tempo findet, vollzieht sich erst jetzt.
Erfahrungsverluste
Wer nach den Gründen
für die gesellschaftliche Beschleunigung fragt, gerät schnell in einen Zirkel aus
philosophischen, soziologischen, kulturellen und nicht zuletzt technologischen Gründen.
Eine Lebenszeit ist
angeblich kurz bemessen, also muss sie Erlebnisorientierten, nach Selbstverwirklichung
Hungernden zufolge ausgefüllt werden. Es ist dabei bedeutungslos, dass die physikalische
Zeit gleich schnell vergeht, das subjektive Zeitempfinden triumphiert über objektive
Zeitmessungen. Die Dialektik der permanenten Anreicherung des persönlichen Erlebens ist
schmerzlich bekannt: Wer keine Pausen zulässt, jede Verarbeitung von Erfahrungen schon zu
Gunsten der nächsten Erregungen aufgibt, wird schließlich wenig erfahren.
Chronotope
So wird der
nicht ganz neue Ruf nach Zeitinseln im Meer der Hektik laut. Zeit gilt als plastisches
Material. In der Selbstadministration von Eigenzeit begegnet der Mensch der
fortschreitenden Kolonisierung durch Fremdzeiten. Die Systemimperative von Verwaltungen
und zahlreichen gesellschaftlichen Agenturen mögen in sich, in ihrer Selbstreproduktion
und Rationalisierung gesellschaftlicher Felder zu rechtfertigen sein. In ihrer Gesamtheit
werden sie nicht zu humanen Rationalisierungen, die das Leben erleichtern, sondern zu
Zeitdruckinstrumenten, die nicht auf ihre Kompatibilität mit individuellen Interessen
geeicht sind. Den Preis für die Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Aufgaben zahlt
das Individuum, das schon dem Namen nach, die zahllosen Einflüsse der Systeme ohne
wirksame Komplexitätsreduktionsinstanzen zu besitzen, verarbeiten muss. Kollektive und
individuelle Problembewältigung werden nicht in einer Superadministration auf
Verträglichkeit hin untersucht und gleichgeschaltet.
In den
Fremdzeitanmutungen wird die wertvollste Eigenschaft des Gedächtnisses, zu vergessen,
permanent provoziert. In einer Kultur unbestechlicher Speicher gibt es kaum ein Entrinnen
gegen das Zwangsgedächtnis von imperialen Verwaltungen und nicht weniger mächtigen
Informationsmedien. Selbst die kürzeste Reise durch urbane Räume erzwingt
Aufmerksamkeiten für den Bewusstseinsmüll hypertropher Informationsgesellschaften.
Inzwischen werden Orientierungen, ob in real life oder in Cyberspace, mit
einem Informationsmehrwert angereichert, der uns in den Hades einer Ablenkungskultur
schickt. Klagte Adolf Loos über das Verbrechen des Ornaments, das noch jede unschuldige
Kaffeetasse zur ästhetischen Vergewaltigung des Verbrauchers werden ließ, ranken sich
heute Informationsornamente über jede Freifläche des öffentlichen Raums. Wer bereit
ist, seinen Online-Monitor zur digitalen Litfasssäule zu pervertieren, muss mit der
harten Währung Aufmerksamkeit erkaufen, was doch der Freeware-Mentalität des
Netzes nach kostenlos sein soll.
Das Bewusstsein, das
auf Grund evolutionärer Notwendigkeiten, keine echte Ausblendungsfunktion besitzt, wird
zum Schlachtfeld von aufdringlichen Eigenzeitkolonisatoren. Das Paradox der Affen, die
nichts Böses hören, sehen oder sagen, könnte nur aufgelöst werden, wenn bereits das
vorab gefiltert wäre, was erst entschieden werden muss. Menschen besitzen keinen
biologischen Spam-Filter, der a priori weiß, was seinem Anwender gut tut. So wird der
Dauerdurchzug unstrukturierter Informationen zur Dauerbefindlichkeit des Selbst.
Ob nun das Lob der
Faulheit oder der Verein zur Verzögerung der Zeit propagiert werden, es gilt die
Zeitherrschaft über die eigene Lebenszeit wieder zu gewinnen, zumindest aber gegen die
Fremdzeitanmutungen der medial hochgerüsteten Zeitherrscher auszubauen. Eine
Lebenszeit, die sich nur in dem Maße den unzähligen Takt- und Rhythmusgebern unterwirft,
so weit es unabdingbar erscheint, daneben aber den Zeitläuften ein Schnippchen schlagen
will.
Aber ist dieser
Widerstand mehr als eine vergebliche Anstrengung, eine Illusion über die objektiven
Zeitherrschaften schnellläufiger Gesellschaften, eine Quadratur der allfälligen
Informationszirkel? Gegenüber den technologisch intrikaten Beschleunigungsfallen könnte
der individuelle Widerstand eine Chimäre sein, die dem aus dem Zentrum der Zeitherrschaft
hinausgeschleuderten Menschen einen letzten Rest des Glaubens an Selbstbestimmung
belässt. Oberstes Zeitgesetz der Gesellschaft ist die Synchronisation von individuellen
Zeiten und objektiven: Lebensarbeitszeit, Betriebszeiten, Fristen der Verwaltungen und
Justiz, Fahrpläne etc.
Maschinenzeiten
Solche Zeitmuster
werden durch technologische Machbarkeiten grundiert. Mit der Beschleunigung von
Maschinenzeiten werden auch die gesellschaftlichen und individuellen Zeiten akzeleriert
oder zwangsentscheunigt. Eine postwendende Antwort rekurriert nicht mehr auf das
Kutschentempo, sondern die tendenzielle Instantanetiät etwa elektronischer Briefkontakte
bietet sich als neue Norm kommunikativer Geschwindigkeiten unter Abwesenden an. Der
Unterschied zwischen An- und Abwesenden, der zuvor geradewegs eine Schicksalsmacht sein
konnte, mitunter über den Bestand von Weltreichen entscheiden konnte, wird im
Echtzeitideal nivelliert.
Die ubiquitäre
Verfügbarkeit hat ihren Preis: Verzögerungen werden nicht mehr durch die
Gemächlichkeiten der Fernübertragungen entschuldbar. Wettbewerbsnachteile,
Partizipationsverluste gegenüber gesellschaftlichen Ereignissen sind die Strafe für
Eigenzeitbeharrung, die zur Ohnmacht gegenüber Maschinenzeiten wird. Wer sich solche
Zeitverluste leistet, den bestraft das technologisch determinierte Leben. Im Krieg, dem
Paradigma der Herrschaft über eigene und fremde Zeiten, werden Zeitverzögerungen zur
existenziellen Angelegenheit, die menschliche Verarbeitungszeiten tendenziell nicht mehr
zulassen können.
Entscheidend sind
aber letztlich nicht die objektiven Maschinenzeiten, sondern ihre Wirkung in sozialen
Ensembles: Wer etwa mit Überschallgeschwindigkeit von Kontinent zu Kontinent jettet, hat
nur dann um im Bild der schlechten Metapher zu bleiben Zeit gewonnen, wenn
er sie nicht später wieder an den Abfertigungsstellen, an Gepäckförderbändern
zurückzahlen muss.
Zeitgewinn und
Zeitverlust sind qualitative Kriterien. Die erlebte Zeit gegen tote Zeiten. Zeitökologie
gegen blanke Zeitökonomie will die Herrschaft von Maschinenzeiten eskamotieren. Die
ereignislose Zeit, das Warten auf das Resultat der jeweiligen Zeitmaschine soll sich
auflösen, verflüchtigt werden. Auch die Maschine kann sich nicht dem Zeitdruck
entziehen, auch sie wird zum alten Eisen, wenn sie ihre evolutionären Folgemodelle an
sich vorbeiziehen lässt. Davon kündet etwa der eiserne Gustav, der mit der Kutsche gegen
die Eisenbahn protestiert. Doch der Protest endet nicht als Wettlauf wie sollte der
auch gewonnen werden? sondern in der heroischen Vergeblichkeit eines Auslaufmodells
gegen seine Nachfolger.
Wir lieben auch die
Maschinenstürmer, die von der Vergeblichkeit ihres Kampfes wissen, aber ihren Heroismus
vor die Zwangslogik einer voranstürmenden Zeit setzen. Vielleicht ist das die
Solidarität der Auslaufmodelle, die entweder mit Entschleunigungsherrschaft schön
geredet wird oder aber der letztgültigen Vergeblichkeit menschlichen Strebens nach
Zeitherrschaft ästhetischen Eigenwert beimisst. Schon die Zenon´sche Schildkröte wurde
ja nicht in das Rennen geschickt, weil sie Achilles je hätte aus dem Feld schlagen
können, sondern weil sich das mathematische Paradox so schön über die Logik der
Geschwindigkeit hinweg setzte.
Aber auch jenseits
dieser unabdingbaren Beschleunigungen haben die Zeitmuster der Zivilgesellschaft einen
paramilitärischen Status erreicht. Wer sich fremdem Tempo nicht stellt, wird von der Zeit
überrollt. So gibt es zwar inzwischen Internet- und Emailverweigerer, posttechnologische
Eremiten, aber die Verweigerung hat den Preis, sich eines gesellschaftlichen
Kommunikationsstandards und erweiterter Handlungsspielräume zu begeben.
Widerstand gegen
Maschinenzeiten ist ein selbstgefälliges Ideal, das nur in privilegierten
gesellschaftlichen Stellungen ohne Sanktionen gewährt wird. Wer sich Zeitverluste kaufen
kann, bestätigt das vordergründige Wissen, dass Geld gespeicherte Zeit ist. Jenseits der
Privilegierung selbstbestimmter Zeiten werden die Eigenzeiträume immer weiter reduziert.
Maschinenzeiten haben eine evolutionäre Form, die der fast gemütlichen Evolution
des Menschen zu spotten scheint.
Nun liegt in der
Technologie die verführerische Verheißung, menschliche Angelegenheiten humaner zu
gestalten. Die Technologie soll smart sein, sie soll überflüssige
Handlungszeiten aus einer Lebenszeit ausschneiden und somit das Leben qualitativ
anreichern. Niemand will mehr im Schweiße seines Angesichts arbeiten, wenn er diese
Arbeiten an klaglose Maschinen, Apparate und Gadgets delegieren kann. Nun mag Hegels
Knecht aber in Gestalt eines überquellenden Email-Accounts als Herr auftreten, so mögen
die Informationsreichtümer, die unzähligen Handlungsoptionen die Kapazität von
Handelnden schnell überschreiten.
So bieten die
Maschinenzeiten gegen ihren eigenen Beschleunigungsterror zugleich das fragile Remedium,
das schneller zu verarbeiten, was sie an Mehrarbeit auslösen. Tempo gegen Tempo.
Der Computer ist nichts anderes als die technologische Verheißung, den von ihm
ausgelösten Tempospiralen entgegenzuwirken. Diese Leistung wird aber zugleich
unterminiert, wenn die freigesetzte Zeit wieder neue Handlungsmöglichkeiten bietet.
Historisch lässt
sich beobachten, dass sich solche Zeitherrschaftsformen durchgesetzt haben, die der
Effektuierung der eigenen Welterschließung dienen. Mögen die Klagen
überanstrengter Unzeitgenossen vehement gewesen sein, mögen einzelne schützende
Chronotope gefunden haben, die sie nicht mehr verlassen haben etwa Diogenes in der
Tonne, Walden in der Waldeinsamkeit, Oblomow in seiner Matratzenfestung. Fertigungs-,
Kommunikations-, Transportzeiten wurden in der gesellschaftlichen Produktion so
verbindlich, dass sich der Widerstand etwa der Ruf nach Humanisierung der
Arbeitsplätze zwar frühzeitig regte, aber der Grundmodus der Beschleunigung
dadurch nicht beeinflusst wurde. Auch die sog. Slobbies slower but better working
people sind keine echte Erfindung der Gegenwart, die sich gegen eine Tempo
provozierende Zukunft wehrt. Schon die Massenproduktion des berühmten Ford Model T
basierte auf Zeitschemata, die neben der Steigerung von Stückzahlen auch der Genauigkeit
der Fließbandproduktion verpflichtet waren. Die Zwangssymbiosen von Mensch und Maschine
nahmen Rücksicht auf den schwächeren Teil, wenn es der Qualität der Produktion
diente.
Remedien zwischen Selbstverlangsamung und
Zwangsentschleunigung
Das schließt zu der
Kernfrage auf: Lassen sich Eigenzeiten, menschliche Zeiten jenseits einer rasenden
Maschinenevolution fixieren? Dagegen spricht die Verkoppelung des Menschen mit der
Technologie, die heute allenfalls zarte Ausblicke auf das Kommende gibt. Embedded
Systems, also in die alltägliche Dingwelt eingebettete Chips wollen das Verhältnis
zu den Dingen informativ und kommunikativ aufladen. Die Objekte beginnen zu reden, beraten
und warnen uns. Die Fantasien einer bioinvasiven Medizin machen gar den Körper selbst zum
Handlungsort von Frühwarnsystemen, die jede Krankheit schon in statu nascendi
erkennen.
Tendenziell sind
technologisch generierte Zeichen nicht erst zu interpretieren, sondern ihre Sprache und
unsere werden gleich geschaltet. Auch wenn folgenschwere Irrtümer vermieden werden
der Wasserhahn meldet sich, wenn er nicht geschlossen wird führt die informative
Imprägnierung der Umwelt zu ständigen Reiz-Reaktions-Szenarien, die nun ihrerseits zwar
wieder eingebettet werden können in technologische Supervisionssysteme. Aber an wem
bleibt die Letztentscheidung und Programmierung über immer neue Funktionssysteme, die
alles ganz einfach machen, hängen? Wer verausgabt seine Eigenzeit, um Eigenzeit zu
gewinnen? Diese Dialektik wird besonders deutlich, wenn Medien ihre Remedien gleich mit
bringen: Die Instrumentalisierung der Instrumente durch Instrumente verwandelt Menschen in
permanent provozierte Systemadministratoren.
Die gängige Formel
zur Besänftigung des Beschleunigungsterrors lautet: Vervielfachung der Lebensbezüge
durch Vereinfachung, das elektronische Schlaraffenland besorgt, was der Mensch nicht mehr
steuern muss. Das ist auch die soziologische Formel der Systemtheorie:
Komplexitätsverarbeitung durch Problemzerlegung. Sichere Prospekte auf die Zukunft gibt
es aber auch für die Systemtheorie nicht und die bekannten Futurologien sind zumeist
uneingestandene Magie. Bleibt der Mensch relativer Nutznießer der Koevolution mit einer
Technologie, die aus dem instrumentellen Stadium heraustreten könnte, um etwa wie
Moravec oder Kurzweil behaupten zu Handlungsträgern der Evolution werden? Selbst
diese mehr oder minder kühnen Ausblicke auf eine Geschichte, die dem Menschen den letzten
Stoß versetzt, die anthropozentrische Anmaßung endgültig liquiert, beinhaltet keine
Aussagen zu Fragen menschlicher Zeitherrschaft.
Zeitfallen
Besinnen kann man
sich auf die Gegenwart: Wer die Dialektik von Zeitfallen erkennt, verstärkt seine
Zeitherrschaft. In einer amerikanischen Studie wurde gezeigt, dass der Email-Betrieb über
30 % unnützer Postsendungen erhält. Die Zeitverluste sind erheblich. Adressaten widmen
sich nicht nur den aufdringlichem Spam-Mail, auch sog. Friendly fire, der Müll der
Mailinglisten etwa, wird gelesen. Hier mutiert ein avanciertes Kommunikationsmedium zur
Zeitfalle. Ähnliche Studien zum Internetgebrauch ließen sich entsprechend formulieren.
Das Internet ist in seiner gegenwärtigen Praxis ein Medium der Aufmerksamkeitsfänger,
anders formuliert: Ablenkungsstrategien beherrschen das Netz der Netze. Der urbane Raum
mit seinen vielfältigen Ablenkungen, Neonreklamen, Verkehrszeichen erschien zuerst als
der Aufstand der Zeichen, die alle begehrlich auf uns zugreifen. Das mutet gegenüber dem
Aufenthalt in der virtuellen Welt fast dezent an. Ein unbedachter Klick katapultiert uns
in unvorhersehbare Szenarien. Jede Gradlinigkeit der Bewegung wird hier unendlich
provoziert. Zeitverluste sind die Folge.
Eine Studie besagt,
dass der journalistische Gebrauch des Mediums zurückhaltend bis unbeholfen sei. Auch das
wird sich verändern, tendenziell verwandeln sich alle Daueruser zu autodidaktischen
Infobrokern. Jeder Haushalt wird zum Informationsimperium.
Aber das beschreibt
nur die Sonnenseite eines Mediums, das sich als größter und freizügigster Infopool
eingeführt hat. Zugleich ist es das Medium permanenter Verführung in einem Land, das mit
dem Reich Karl V. gemeinsam hat, dass die Sonne nie untergeht. Surfjunkies und virtuelle
Bewohner tendieren dazu, rhythmische Muster, Tag- und Nachtwechsel aufzugeben.
Instantaneität, Totalverfügbarkeit und Reizfluten widersprechen natürlichen Rhythmen.
Die vorprogrammierte Bioware kann man nicht am Portal gegen allgegenwärtige
Online-Software eintauschen.
Warum Eigenzeittechniken so schwer zu
verwirklichen sind
Vordergründig kann
man souveränes Zeitmanagement erlernen. Nicht zuletzt die Philosophie der Lebenskunst hat
sich diesem Programm verpflichtet. Die Herrschaft der Zeitmaschinen Computer
und Internet soll angeblich bereits durch die Verweigerung der Stromzufuhr
schon zu regeln sein. Wer solchen voluntaristischen Fantasien folgt, eine scheinbar
rationale Handlungstheorie für des Menschen Himmelreich hält, verwechselt
Handlungsmöglichkeiten mit Systemimperativen, die ihren eigentlichen Betriebsstoff nicht
in der Elektrizität finden, sondern in ihrer Eigenlogik, die fatal kurzgeschlossen ist
mit der menschlichen Psyche, dem evolutionären Hunger, dem Herrschaftswillen von
Menschen. In diesem Betrieb rund um die Neugier des Menschen werden Zeitgewinne und
verluste untrennbar verabreicht. Hoffnung auf die Entzerrung medialer Doppeleffekte
bestünde nur in einem avancierten Verhaltensrepertoire, das von der ungehemmten
Weltoffenheit zu einem restriktiven Gebrauch kommt.
Aber der rationale
Umgang mit neuen Medien steht selbst unter Zeitgesetzen. So standen etwa für den Umgang
mit der Taschenuhr mehr als 500 Jahre zur Verfügung, in denen die Effekte einer kollektiv
kontrollierten Zeit in eine Lebenspraxis eingebunden werden konnten. Vor- und Nachteile
einer objektivierten Kollektivzeit konnten schrittweise erlernt werden, weil das
Zeitherrschaftsinstrument Uhr noch in eine komplexe Technologie eingebunden
war. Es schälten sich Handlungsmuster heraus, die sich auf mehr oder weniger bekannte
Zeitabläufe stützen konnten. Die Irritation des Menschen in seiner natürlichen Umgebung
beginnt in dem Moment, als Wasserdampf, Kohleenergie, Elektrizität, Radiowellen der
Mechanik auf die Sprünge helfen. Die neuen Zeitgewinne entzogen sich der Wahrnehmung der
Beschleunigungsprozesse zumindest in der Weise, dass zwar die Resultate unbestreitbar
waren, aber die Maschine ein immer undurchsichtigeres Innenleben entwickelte.
So befürchtete man
im 19. Jahrhundert, dass Eisenbahnfahren die Menschen verrückt machen könne, während
wir heute den sachten Panoramawechsel von Regionalbahnen in eben diesem vormaligen Tempo
eher mit Gemütlichkeit gleich setzen würde. Gerade dieses Jahrhundert produzierte mit
den Maschinen auch eine Ästhetik, die den humanen Sinn, die Schönheit der Maschinen
wider ihre Unheimlichkeit beschwörte. Aber diese Fassaden wurden schnell abgerissen.
Form follows function wurde vordergründig zur ästhetischen Parole. Der
Vorrang der Funktion vor der Form ließ die Funktion tendenziell unsichtbar werden.
Das Auto, die
persönliche Zeitherrschaftsmaschine schlechthin, beinhaltet ambivalente Erfahrungswelten:
Geschwindigkeitsrausch und relaxtes Sightseeinginstrument gleichermaßen ist es wider
seinen Namen kein Automat, sondern ein Instrument, das Freiräume für menschliche
Zeitsouveränität birgt. Sein Fahrplan wird nicht kollektiviert, muss nicht kompatibel zu
Fremdzeiten geschaltet werden. Aber die leeren Autobahnen mit ihren privilegierten
Fortbewegungsräumen verschwanden und der Stau als Chaosphänomen einer Zeit
im ubiquitären Zugriff vergesellschaftete auch das Auto gegen die frühen Träume der
Zeitherrschaft. Auch über den Wolken ist die Freiheit inzwischen nicht mehr
grenzenlos...Technologisch beschleunigte Fortbewegung, die über hundert Jahre erprobt
werden konnte, bis sie im urbanen Raum, auf Autobahnen stecken blieb. Diese
erfahrungsgesättigte Phänomenologie des rechten Umgangs mit der Zeit kann sich im
Zugriff immer neuer Beschleunigungsschübe und ihrer technologischen Auslöser nicht recht
halten.
In den Zeitspiralen des Cyberspace
Die medialen
Geschwindigkeiten im Internet blenden die Bewegung selbst aus. Die Bewegung von A nach B
soll verzögerungsfrei ausgeführt werden. Die Erfahrung der Bewegung fällt weg, zuletzt
ist der Weg das Ziel. Es gibt unterwegs nicht wahrzunehmen, wir sind immer
schon da, der instantane Igel, der sich nicht bewegt, um jeden Wettlauf mit dem Hasen zu
gewinnen, wird zum Prototypen einer nicht mehr wahrnehmbaren Geschwindigkeit.
Annäherungsweise erlebt man diese Täuschung über das Tempo bereits in den wohl
temperierten, die Umwelt abfedernden Räumen von Hochgeschwindigkeitszügen und Rennautos.
Die Philosophie des Stoßdämpfers nivelliert die Differenz von Umwelt und
Geschwindigskeitssystem. Geschwindigkeitserfahrungen werden so weit abgedämpft, dass der
Unterschied zwischen Stasis und Bewegung trennschwach wird. Erst die physiologische
Revolte etwa des jet-lag setzt die menschliche Geschwindigkeitswahrnehmung
wieder kurzzeitig in ihr Recht als Krisis der Inkompatibilität von Mensch und
Maschine.
Tempolimits gibt es
mithin auch in der Beschleunigung selbst, weil die Wahrnehmung getäuscht werden kann.
Aber in diesen tempolosen Räumen der Jets, Transrapids und anderer Höllenmaschinen nicht
erfahrener Bewegung werden andere Zeiträume entworfen, die wieder nach Ausfüllung,
Gestaltung, Veränderung rufen. Flugzeug oder Eisenbahn mutieren zu Arbeitsplätzen, in
denen die still stehende, d.h. - mit Virilio gesprochen: rasende Zeit - wieder angeeignet
werden soll. Lap-Top und Handy besiegen die vermeintlich leeren Zwischenzeiten.
Zeitbomben
Langeweile,
Müßigkeit, Ereignislosigkeit werden zugeschüttet mit Informationen. Informationen sind
paradigmatisch Zeitbomben: Sie bündeln die Ereignisse, ja schneiden die Zeitläufte zu
permanenten Ereignissen zusammen. In der Information kulminiert das Ereignis zum zeitlosen
Existenzial, das nicht mehr durch Entwicklungen, Verzögerungen, Irrungen und Wirrungen
definiert werden soll. Permanente Information, das Ereignis als Lebenszweck verändert die
Zeiterfahrung als Durchgangsstadium. Das ganze Leben besteht aus Warten meinte
meine Großmutter, aber heute gilt, dass das ganze Leben aus Ereignissen
besteht. Wenn aber alles nur noch Ereignis sein darf, um wahr genommen zu werden,
kollabieren aber schließlich die Ereignisse auch, werden paradoxalerweise
ereignislos. Die nächste Katastrophe, das nächste Massaker etc. mutieren zu
Befindlichkeiten, denen kein anderer Wert mehr zu attestieren ist, als eben der, dass
diese Ereignisse zeitlos sind die Wiederkehr des Immergleichen.
Wird das Ereignis
emotional enteignet, brennt es in den endlosen Wiederholungsschleifen zur
Bedeutungslosigkeit aus, werden outburn-Effekte, quälende Langeweile, mithin alle die
Zustände wieder wahrscheinlich, die doch gerade durch die ereignisorientierte
Anreicherung des Lebens vermieden werden sollten. In der Ereignissucht obsiegt zuletzt das
Nichtereignis, die zeichenlose, unbedeutende und nicht bedeutbare Zeit. Die Zeit als
Nichtereignis wird nicht zum Desiderat des Erfahrungs- und Erlebnishungers, sondern
usurpiert wieder die menschliche Kondition, in der man auf nichts wartet, nichts erfährt,
sondern verharrt. Das Warten auf Godot kann nicht länger als absurde
Zwangsexistenz markiert werden, sondern das Nichts, das die Zeit grundiert, wird wieder
unvermittelt ins Recht gesetzt. Auch die Technologie- und Apparatekulturen sind auf das
Verschwinden gerichtet: Smart Systems, die Einbettung der Technologie in die Dingwelt
zielen auf Verschwinden, die Zeit soll von den gegenwärtigen Schwierigkeiten einer
aufdringlichen Technik abgesehen wieder vom Ereignis frei gesetzt werden. Der
Mensch wird durch Technik frei von Technik, letztendlich aber von der Zeit als
historischem Raum, als Ereigniskette. Die Welt arbeitet auf das Nichts zu, auf ihr
Verschwinden, die Auflösung von Widerständen, den Verlust von Dialektiken, die in immer
währendem Kampf begriffen schienen. Die Apokalypse besteht darin, dass sie nicht
stattfindet.
Epilog
Leo, iss nicht
so lahm! Leo, vier Jahre alt: Ich hab´doch keinen Propeller im Mund!
Eigenzeit will erkämpft werden ... gegen Eltern und Windmühlenräder.
Goedart
Palm
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