6. Zukunft als
souveräne Zeittechnologie
a. Demiurgen der Zeit
Der verschlungene Weg von der Religion über die deutschen Meisterdenker zum Holocaust
steht paradigmatisch für Glaubens- und Wertverluste. Neue und alte Irrtümer bleiben die
Wegmarken geschichtlicher Bewegung. Vor diese apathischen Apokalypsen und stimmlosen
Abgesänge der Zukunft stellten sich die mächtigen Propheten der neuen Medien, die
Herrscher der Hypertechnologien und Informationsimperien. Ihre Aufbrucheuphorie kennt
keine Grenzen. Machbarkeit von Zukunft, schwerelose Existenzen ohne den Fluch der
Vergangenheit, Geschichtslosigkeit im Zukunftsglauben werden beschworen, sedimentieren
sich in Politik, Werbung und anderen profanen Frohbotschaften. Mit der Brüchigkeit alter
Zeitherrschaftsformen rückt Technologie aus der Rolle des menschlichen Instruments zum
stärksten Hoffnungsträger sozialer Wandlungen vor. Mögen wissenschaftliche Paradigmen
wechseln, Ikarus in immer neuer Gestalt den lebenserhaltenden Luftkorridor verlassen,
erhält sich doch die Ideologie einer ungebrochen evolutionären Technologie. Die
biologische Evolutionsgeschichte endet, sie wird abgelöst von einer künstlichen
Evolution der Maschinen, Apparate, Computer. Die uns prägende Differenzierung zwischen
Natur und Naturbeherrschung wird im vorübergehenden Paradox einer künstlichen Natur,
einer zweiten Natur eingeebnet. Zielpunkt dieser Geschichte wäre eine Technologie, die
omnipotent ist. Diese Technologie wäre weder menschen- noch geschichtsabhängig, würde
Zeit und Raum gleichermaßen vollkommen beherrschen, die Zeit würde reversibel, befreit
von ihren klassischen Modi. In dieser Vision ist Vergangenheit und Befreiung von ihr
gleich gültig. Und die neuen Zauberlehrlinge bringen die Deckungsmasse ihrer zeitlosen
Versprechungen gleich mit. Ihre Konstrukte, die Abakus, Pascals Rechenmaschine, Charles
Babbages "Analytical Engine", mechanische Schachspieler und alte
Lochkartenherrlichkeit weit hinter sich lassen, werden schlicht als Rechner präsentiert,
aber in ihrem Gepäck führen sie das Versprechen eines digital eingerichteten Paradieses
mit sich. Wer aus der Vergangenheit auf die Zukunft schließt, wird dem keinen ungeteilten
Glauben schenken. Hat sich die Zukunft der Katastrophen doch nie von den gegenwärtigen
Remeduren besänftigen lassen und haben die neuen Zauberlehrlinge ihre Störanfälligkeit
bereits zu Genüge unter Beweis gestellt. Selbst die simpel erscheinende Uhrumstellung auf
das neue Jahrtausend begründet millenaristische Ängste, weil Euroamerika fremde
Zeitordnungen wenig zur Kenntnis nimmt. Die boshafte Dialektik einer Geschichte, die neue
Erreger ersinnt, wenn alte geschlagen sind, Aids und Krebs gegen Pest und Cholera
eintauscht, mag den technologischen Zugriff auf ihre Zukunft nicht fürchten. Ja mehr:
Chaos, Entropie, Zerstörung sind stärkere Prinzipien als eine funktionale Vernunft, die
sich dem entgegen stemmt. Jede Beschreibung dieser Zukunft scheitert an unseren endlichen,
dem Tod geweihten Perspektiven. Unsere Stellung in der Geschichte bleibt gebunden an
Werden und Vergehen. Wurde der Traum vom Fliegen Wirklichkeit, so ist der Traum vom ewigen
Leben noch Desiderat. Waren früher die Religionen zuständig für die posthume Einlösung
dieses Wunsches, sind jetzt posthumane Technopropheten angetreten, dieses Ziel zu
verwirklichen.
b. Neue Körper braucht die Zeit
Inzwischen will die Wissenschaft im Diesseits das Leben gegen das Jenseits versichern.
Die "Extropians" gar fordern das ewige Leben. Der Tod gilt als
Schande, als die Umkehrung der menschlichen Ordnung - eine Klage, die schon das Gilgamesch-Epos
führt: "Als die Götter die Menschheit erschufen, teilten den Tod sie der Menschheit
zu, nahmen das Leben für sich in die Hand." Natur als Zeitbetrug am Menschen. Auch
wenn das Paradox, dass sich die Natur gegen die Natur wehrt, unübersehbar ist,
präsentieren sich die Extropians nicht als Mythenbrüter, sondern als
technikgläubige Rationalisten. Das vormals von Sozialutopisten reklamierte Ziel eines
irdischen Paradieses verwandelt sich ihnen zu einem überirdischen Paradies mit irdischer
Technik. Wie in allen Utopien so gibt es auch hier keine Katastrophen, Krankheiten oder
andere Unbill mehr. Der Mensch soll zum Menschen werden, weil er nicht länger (nur)
Mensch ist. Transhumanität buchstabiert sich als artifizielle Körperlichkeit, die nichts
weniger als ein biologisch fragile Konstruktion mehr sein will. Der Körper wird
medizinisch, elektronisch, digital und virtuell bis zur Nichterkennbarkeit aufgerüstet -
ewiges Leben wird zur Selbstverständlichkeit. Extropie ist die selbstgewisse Antwort auf
Entropie, jene Kategorie, die Chaos und Tod repräsentiert. Die Alcor Life Foundation
erhält die Körper, wenn die leider noch allgegenwärtige Entropie - etwa in Form
eines fallenden Ziegelsteins - dem Prinzip Hoffnung vor der Zeit ein Ende setzt.
Eingefroren in künstlichem Stickstoff lagern die Leichen langfristig bis zum Tag
der Wiederauferstehung, die nicht mehr von Gott, sondern göttlicher Technologie besorgt
wird. Invasive Nanotechnologie heißt der vorläufige Zauber der Zeitherrschaft.
Zwergroboter bevölkern den anfälligen Körper, reparieren ihn immer wieder, sodass nicht
einmal das Bildnis des Dorian Gray nötig ist, um ihn auf ewig jung und schön zu
halten. Auch wenn das wie Nivea-Werbung der Zukunft klingt, haben sich inzwischen namhafte
Wissenschaftler den Extropians angeschlossen. Der Roboterprophet Hans Moravec
hat die "Mind Children" der Zukunft schon beschrieben: Der Geist, jenes
flüchtige Wesen, wird in den Computer gespeist und hochgetaktet. Da das Gehirn
physikalischen Gesetzen gehorcht, können diese auf einem Rechner simuliert werden. Nicht
nur wird die Lebenszeit unendlich, sie wird auch unendlich leistungsfähiger. Vor dem
Datenkollaps schützt die Sicherungskopie den transhumanen Datenbankgeist.
Was bleibt vom "homo classicus"? Nach den Extropians werden die
biologischen Menschen zu musealen Wesen, die kein großes Interesse mehr auf sich ziehen.
Die Zukunft befreit sich von der Vergangenheit, von jenen Mängelwesen, zu denen wir
zählen. Der transhumane Typus verabschiedet sich von menschlichen Zwecken und Zielen. Mit
der Vision verknüpft sich die Polemik gegen entropische Politik, die mit alten Mitteln
neue Probleme lösen will. In diesem Konzept verschmelzen Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft zur Ewigkeit. Aber nicht nur das: Die Identität, Hort der Vernunft, wird zu einer
subjektlosen Kategorie. Die Wesen mit dem rasanten Speicher verarbeiten sich selbst zu
ständig neuen Konstruktionen. Diese "apocalypse light" reitet nicht länger im
Fluch Gottes über schwaches Fleisch, sondern schafft aus neuem Lehm paradisische
Existenzen. Aber auch dieser Vorschein von Hyperwesen, jenseits menschlicher
Gebrechlichkeit und Todesgewissheit, führt nur einen alten Mythos mit neuen Mitteln fort.
Mircea Eliade hat auf das archaische Bedürfnis hingewiesen, die profane Zeit zu
sakralisieren, um sich so in einen zeitlosen Urzustand zurückzubegeben. Archaische
Systeme seien Ausfälle gegen die historische Zeit, Vernichtungen, die gegen das Erinnern
gerichtet sind. Auch wenn Eliades These im Hinweis auf die ägyptische
Konservierungsbesessenheit kritisiert wurde, ist der zeittranszendierende Mythos der
ewigen Wiederkehr eine alte Zeitbeherrschungsfantasie. Chinesische Alchimisten wollten
natürliche Verfallsprozesse radikal verlangsamen, um Unsterblichkeit zu erreichen,
während ihre europäischen Kollegen den prosaischen Fürstentraum von der Verwandlung
unedler Metalle in Gold träumten. Das ewige Leben des Extropians ist ein noch
nicht Fleisch gewordener Widerspruch, weil Leben Werden ist und allein der Tod Ewigkeit
reklamieren mag. Dem Konzept des nachgeschöpften Golems fehlt die Fantasie für den
diabolischen Erfindungsungeist der Katastrophen. Indem diese Fortschrittsgläubigen ihre
Zukunft von jeder Vergangenheit befreien, verkümmert zugleich das Wissen um die
Fehlsamkeit jeder Schöpfung.
III. Vom Chronozentrismus zu neuer Zeitsouveranität
1. Aufdringliche Vergangenheit
Sollten wir uns also an die Gegenwart halten, die wir ja immer besitzen zu scheinen, um
aus den Irrungen und Wirrungen der Vergangenheit, aber auch den Prospekten einer
verführerischen Zukunft herauszutreten? Was ist Gegenwart? Johann Gustav Droysen
erkannte in jedem Punkt der Gegenwart seine ideelle Vergangenheit. Aufgabe des Historikers
sei es, sie wieder zu erwecken, sie aufleben zu lassen. Verkürzt: Jede Vergangenheit hat
eine Option auf die Zukunft - das, was in der Geschichte nicht erloschen ist, wartet auf
seine Wiedergeburt in der Gegenwart. In der Gegenwart werden ideell Zukunft und
Vergangenheit zu einem Kontinuum zusammengeschlossen. Der Blick zurück im Blick nach vorn
emanzipiert die Gegenwart von ihrem fatalistischen Zustand, nur ein berechenbares
Durchgangsstadium der Zeit zu sein. Darin finde der "endliche Geist" ein
Analogon der Ewigkeit. Aber gilt das auch für unsere Gegenwart? Uns gilt die Zukunft als
Gegenwartsaufgabe, die in ganz anderer Weise Vorstellungen, Hoffnungen und Wünsche
mobilisiert, als es der Rückblick in eine vorgeblich abgeschlossene Vergangenheit vermag.
Gegenwart schwimmt wie eine Insel im Meer dieser Zeit, aber die Aggressivität des Meeres
wächst, die Insel wird punktförmig, um irgendwann vielleicht ganz zu verschwinden. Wer
die Gegenwart gegen den Salzfraß der Zukunft retten will, fällt in Vergangenheiten
zurück, die nicht länger lebendiges Erfahrungsmaterial bereithalten, sondern Fossilien,
Souvenirs einer toten Zeit - aus- und abgelebt. Einstiges Erfahrungswissen verkümmert bei
schwindenden Halbwertszeiten zum Ballast. Aber das ist nicht die Wirklichkeit subjektiven
Zeitbewusstseins. Sigmund Freuds Vergleich des Unbewussten mit einer alten Stadt,
in der sich verschiedene Schichten historisch sedimentiert haben, bringt das Verhältnis
von vorauseilender Zeit und verfallendem Raum auf einen anderen Punkt: Räume besitzen
eine Zeitstruktur, sind mit geronnener Zeit aufgeladen. Ist Denkmalschutz die
Gebäudeversicherung gegen den Zahn der Zeit, zielt die Psychoanalyse auf die Urbarmachung
des Verdrängten. In der Psychoanalyse soll die Zukunft des Kranken von einer unbewussten
Vergangenheit befreit werden, um sie mit seiner Gegenwart zu versöhnen.
a. Zeitstürmer intra portas
Baron Haussmann verordnete Paris dagegen "demolition". Das alte Paris,
mit Ausnahme historischer Glanzpunkte, sollte nicht urbar gemacht werden, sondern der
Metropole der Metropolen weichen. Die Gegenwart Napoleon III. befreite sich im
Rundumschlag von einer Vergangenheit, die nicht mehr die Fassaden der Zukunft prägen
sollte. Plattenbauideologie, Wohnsilovorstadtwüsten und Betongärten hilfloser Humanität
riefen auch weiterhin nach Demoliteuren, um obsolete Historie in der Gnade des sozialen
Wohnungsbaus zu entsorgen. Stadtmörder und Architekturstürmer wandelten sich zu
Stadtsanierern. Mannigfaltige Kriterien wurden entwickelt, um konservierungswürdige
Geschichte und dem Fraß der Zeit vorgeworfene Vergangenheit zu trennen. Dieses Dualsystem
eines neuen Ökohistorismus, selbst der Geschichtlichkeit ausgesetzt, wurde nicht nur zum
Sprengstoff der Stadtplaner, sondern aller, die glaubten, diese Welt von ihren Kindern
geliehen zu haben. Im Streit um einen konsensfähigen Kanon der Erhaltungswürdigkeit wird
die Ungleichzeitigkeit der Zeitgenossen selbst zur Ideologie.
Lehrt uns die Geschichte noch etwas oder können ihre Archive getrost geleert werden?
Längst wissen wir nicht mehr, welchen kognitiven Mehrwert die Vergangenheit für die
Zukunft haben könnte. Schulwissen, das aus der Geschichte Erfahrung destillieren will,
verkümmert selbst zum Beleg überalterter Bildungskonzepte. Historisches Wissen,
regelmäßig für geschlossene Gesellschaften und überschaubare Örter brauchbar,
kapituliert vor globalen Problemen, die nicht auf eine vorgelebte Geschichte rekurrieren
können. In den Paradoxien der Neuzeit ist Geschichtswissen bescheiden geworden.
Vergangenheit wehrt sich inzwischen auf hedonistische Art gegen ihr Los, keine Zukunft zu
haben. Zurück, nicht allein zur Natur, sondern zur Geschichte, so lautet der
spätromantische Imperativ, der Arm in Arm mit dem Fortschrittsglauben daher schreitet.
Diese Vergangenheit wird von Zukunftsverantwortung befreit, sie gilt nur noch in ihrer
phänomenologischen Erlebnisform als bessere Zeit. Folgerichtig, aber folgenlos
ästhetisieren mächtige Erlebnisindustrien Geschichte als vergnügungsträchtigen
Abenteuerspielplatz. Geschichtsmuseen und Denkmäler sprießen - Reminiszenzen wider den
Zeitdruck der Zukunft: Disney World überbietet die Geschichtsklitterungen Ludwig
II. in taktilen Plastikwelten. Zeiten und Örter werden simultan inszeniert, aus dem
Gefüge der Zeiten herausgerissen, angereichert mit geschichtslosen Argonauten der
Comic-Word, weil erlebnisheischende Geschichtstouristen sieben und mehr Weltwunder zwar
berühren, aber nicht begreifen wollen. Zukunftsvernarrten Japanern gar ist ganz Europa
historischer Wallfahrtsort im Agfachromformat. Schwerelose Nostalgie wird im Zuge ihrer
technologischen Virtualisierbarkeit zur Glasur von Zukunftsgesellschaften.
b. Mnemosyne: "Revolutio" der Erinnerung
Erinnern heißt Vergessen - denn anders würde sich keine historische Gestalt aus der
Geschichte bilden. Zeitgenössische Berufshistoriker kennen das formlose Elend
hypertrophen Informationswachstums: Richtiges Vernichten wird wichtiger als die
Totalisierung der Reliktmengen. Wenn Geschichte das Leben des Gedächtnisses ist (Cicero),
muss das Gedächtnis immer wieder von Vergangenheit befreit werden, um eine lebendige
Vergangenheit für die Zukunft zu bewahren. Was ist Erinnerung? Der "Tigersprung in
die Vergangenheit" (Benjamin) gilt klassisch als zeittranszendierender Modus
und zeitunterworfener Mythos zugleich. Im Auge des Tigers bündeln sich Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft nicht als geschichtsphilosophisch diskrete Zustände, sondern werden
zu zeitübergreifenden Bildern verschmolzen. Zukünftigen - Trendforschern, Futurologen
und Cyberpunks - sind Erinnerungen dagegen Ballast. Sie entwerfen auf dem Reißbrett eine
Zukunft, die auf uns zurast, mit einem kurzen Zwischenaufenthalt in der Gegenwart, um in
der Vergangenheit dem Vergessen ausgeliefert zu werden.
In der Paradoxie spätmoderner Zeitherrschaft wird Vergangenheit aber gleichzeitig
gehindert zu vergehen, wenn ihr digitales "backup" jederzeit Vergegenwärtigung
ermöglicht. Schon im römischen Bild des Januskopfes, der gleichermaßen in Zukunft und
Vergangenheit blickt, lag eine bündige Metapher vor, in einem Bewusstsein alle Zeitmodi
zu verbinden. Elektronische und digitale Medien schließen aber weit imperialer die Zeiten
kurz. Retrospektion und Prospektion vermählen sich zu einem panoptischen Blick durch
Geschichten, in denen Aufzeichnungssystem und Zeitmanipulation eine untrennbare Verbindung
eingehen. Aus der Heteronomie einer unwandelbaren Vergangenheit emanzipiert sich die
relative Autonomie menschlicher Herrschaft über Erinnerungen. In der Herrschaft
technokannibalistischer Speicher entstehen gewaltige historische Reliktmengen, eine
ausufernde Genealogie vergangener Ereignisse - jederzeit und überall abrufbar. Weder
zyklische Radzeit noch lineare Stromzeit sind in dieser Gleichzeitigkeit existent, sondern
nur noch die Allgegenwart von Speicher und Schirm herrscht. Ob Reichsparteitag,
Fußballweltmeisterschaft oder Mauerfall, in neuen Medien werden Ereignisse zu patch-work
verarbeitet, der grellbunte Flickenteppich aus Geschichten könnte so oder anders gewirkt
sein. Weit auseinanderliegende Gedächtnistopografien werden überblendet und
prätendieren Zusammenhänge, die keine sind. In dieser wachsender Zeitsouveränität des
Erinnerns dehnt sich Paul Feyerabends antimethodische Regel "anything
goes", zum "anything goes always" aus.
Nicht nur in Speicher und Traum laufen die Zeiten ineinander, halten Tote und Lebende
Rücksprache, auch im Gedächtnis ist viel Platz für Ewigkeit. Zwar hat Nietzsche
dem Stolz die Kraft attestiert, das Gedächtnis zum Nachgeben zu bewegen. Widersprüche
zwischen unseren Erinnerungen und den Beweisstücken objektivierter Gedächtnisspeicher
provozieren aber die Schwäche dieses Stolzes. Spätestens seit dem Aufkommen der Schrift
synchronisieren sich privates und öffentliches Erinnern nicht reibungslos. Mit der Zeit
leben heißt zugleich, gegen andere Zeitbilder, andere Erinnerungsansprüche und fremde
Vergangenheiten zu leben. Die zeitgenössischen Anstrengungen, den Holocaust zu erinnern,
belegen den Kampf der Erinnerung gegen die verrinnende Zeit, die auch das vergessen
lässt, was nicht vergessen werden darf. Gleichwohl festigt sich in diesem Anspruch keine
einigende Erinnerungskultur, um dem Grauen zukunftsverbindliche Symbole zuzuordnen. Der
Streit um das Berliner Holocaust-Denkmal wurde selbst zum Denkmal dafür, dass ein Denkmal
nicht länger ausreichen mag, das Unfassbare symbolisch zu fassen. Steven Spielbergs
Shoah-Foundation sammelt dagegen alle noch verfügbaren Zeugnisse, nichts soll durch den
kalten Rost der Erinnerung dem Vergessen des Feuers anheim fallen, von der Gnade der
späten Geburt exkulpiert werden. Über 49.000 Augenzeugenberichte bilden gegenwärtig ein
elektronisches Archiv, das gleichsam die Arbeit jenes britischen Schuldeintreibers, des
"remembrancers" (Peter Burke), übernimmt: Das zu erinnern, was seine
Kunden gerne vergessen würden. Aber auch dieser Zugriff auf die Erinnerung befreit nicht
von der Frage nach der angemessenen ars memorativa, der Erinnerungskunst, um die Zukunft
von der Vergangenheit zu befreien, ohne die Fakten in den elektronischen Akten zu
beerdigen.
2. Flüchtende Gegenwart
Erinnerungskunst war vordem selbstverständliche Alltagspraxis. Der Renaissance diente
das Nachbild der römischen Geschichte als Vorbild und Planungsanleitung der Zukunft. Das
vergangene Bild der "Gegenwart" konturierte sich zu einem Zeitraum konstanter
Lebensbedingungen. Jene vergangene Gegenwart erstreckte sich vom Jetzt bis zu einer
eineinhalb Jahrtausende zurückliegenden Vergangenheit. Selbstverständlich war, dass die
Vergangenheit sich als Lehrmeisterin der Zukunft gerierte. Voraufklärerischer Zeit war
danach Aufklärung kein Ausgang zu einer besseren Zukunft, sondern ein Rückschritt, um
den Fortschritt zu beflügeln. Mit dieser pragmatischen Fiktion einer ausgedehnten
Gegenwart, die auf der Ungenauigkeit, aber vor allem Unnötigkeit menschlicher
Veränderungswahrnehmung basierte, erwuchs dem subjektiven Zeitbewusstsein ein
Zeitherrschaftsglaube, der in der Beschleunigungsspirale der Geschichte sukzessive
zerstört wurde. Ist die gegenwärtige Gegenwart dazu verurteilt, zur Schwundstufe ihrer
Vergangenheit zu werden? Mit wachsender Innovation zieht sich der Zeitraum einer konstant
bestimmbaren Welt zusammen. Das Vertrauen in die Gegenwart fiel in die Zeitfalle; die
Gegenwart selber eskamotierte sich, weil sie immer nur unvollkommen besitzt, was in den
Zukunftsprognosen schon als zukünftige Wirklichkeit besessen wird. In den Verlockungen
der Zukunft kann Gegenwart nur noch als überflüssiges Durchgangsstadium verstanden
werden. "Verweile Augenblick, du bist so schön" wagt keiner mehr zu sagen, weil
alle Zukunft in den Trivialprophetien tausend Mal schöner ist als die Gegenwart je sein
kann. Wer in der Gegenwart verharrt, gilt euphorischen Zukunftsvisionen schon als
Vergangener: Zukunft als zeitlose Mode der Gegenwart - eingedenk Daniel Burrus´ paradoxer
Lakonie "Die Zukunft wird nie wieder sein, was sie einmal war."
Geschichtsschwund und Zukunftsinvasion, die nach Hermann Lübbe Gegenwart
schrumpfen lassen, gelten der Cyberkultur aber längst nicht mehr als ultimative
Zeitdiagnose. Die vormalige Trennung der Zeiten, schon in historischen Zeitkonzepten so
durchbrochen, dass es weniger ein Grundsatz als eine pragmatische Hilfskonstruktion war,
kollabiert modernen Temponauten vollständig. Nicht nur die Körper, auch die Zeitmodi
sollen virtuell werden. Virtualität wurde nicht zuletzt auf Grund der spielerischen
Erscheinungen in cyberspace als eine Art postmodernes Illusionstheater mit anderen,
nämlich digitalen Mitteln begrüßt. Auch der Zeit wurde folgenreich von McTaggart
bescheinigt, eine Illusion zu sein: "Ich glaube, dass die Zeit irreal ist." Kein
Wunder, dass der Kurzschluss von Virtualität und Zeitlichkeit die Gegenwart in den status
irrealis versetzt. Virtualität ist aber mehr als die Fortsetzung der Wirklichkeit mit
illusionären Mitteln. Wir begegnen dem neuen Modus der Überzeitlichkeit. Zeit wird
plastisches Material. War zuvor der Film der mediale Vorschein auf eine Neuordnung der
Zeitstruktur, purzeln in der virtuellen Totalkonstruktion von Welt und Welten die
tradierten Zeitmodi vollends durcheinander, sind Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft grobe
Klötze gegenüber simultanen Räumen, die jede Zeit speichern und produzieren -
jederzeit...Wenn alles so oder anders gestaltet werden kann, schrumpft aber nicht nur die
vormalige Zeitsicherheitszone "Gegenwart" als Differenz von Vergangenheit und
Zukunft. Auch der Mensch, dessen (Körper)Identität von zyklischen Zeiterfahrungen
abhängig ist, verliert im Strudel manipulierbarer Zeiten seine Haltegriffe. Mit der
Geburt des "Eurotaoismus" aus dem Geist spätmoderner Geschichtsbeschleunigung
beginnt die Suche nach Bewusstseinsformen, die nicht länger nach heute und morgen fragen,
sondern sich eine zeittranszendente Gegenwart sichern wollen. Aber diese
Selbstvergegenwärtigung der Erleuchtung will Späteuropäern selten gelingen. Während
Buddhismus, Taoismus und ihre trivialen Spielarten im "Newage" den Menschen vom
Zeitjoch befreien wollen, stehen westliche Mentalitäten in der Tradition, die Zeit
auszuschöpfen, sie zu strukturieren und rationalisieren, um die Welt zum Besseren zu
wenden. So rät der Dalai Lama in seiner millenaristischen Ethik für das dritte
Jahrtausend orientierungshungrigen Westlern vom Weg zur Erleuchtung im "Hier und
Jetzt" ab. Aber selbst diese klassische Polarität zwischen Okzident und Orient, die
gestern noch galt, sagt einer bewusstseinsschwachen Zerstreuungskultur heute nicht mehr
viel, die Erleben als instantane Lust sucht, ohne länger nach Selbst und Welt zu fragen.
Das geschichtslose Erlebnis kennt weder Zeitmodi noch "sartori". Für die Kinder
von MTV, Love-Parade und Crack hat die Herrschaft der reinen Instantanität begonnen:
Ekstase statt Erleuchtung heißt die Zauberformel juveniler Zeitherrschaft.
3. Zukunftsberauschte Gegenwart
"In einer Welt ohne Zukunft ist jeder Abschied eines Freundes ein Tod, jedes
Lachen das letzte Lachen. In einer Welt ohne Zukunft liegt jenseits der Gegenwart das
Nichts, und die Menschen klammern sich an sie, als hingen sie an einer Klippe" (Alan
Lightman). Diese von der Zukunft befreite Gegenwart bleibt uns erspart, ja ist nicht
einmal vorstellbar, da unsere Zeitmodi nur im verschlungenen Wechselspiel unserer Existenz
Sinn geben. Unsere Zukunft öffnet ihre Tore weit und das Neue lockt mit Glanz.
Die Wertschätzung des Neuen lässt sich zwar retrospektiv datieren, aber seine
Erscheinung sperrt sich gegen kausale Rekonstruktion, es taucht plötzlich und folgenreich
auf. Evolutionstheoretiker sprechen von Emergenzen - Erscheinungen in der Zeit ohne
lineare Provenienz. Kreativität und Genialität werden zu Begrifflichkeiten, die
verdecken helfen, was im Zeitpunkt seiner Erscheinung nicht erklärbar ist. Setzte man in
der Renaissance auf die Priorität des Alten, entlasten die Strukuren moderner
Staatlichkeit die Beharrung auf Vergangenheit. Das Entstehen von Territorialstaaten führt
zu höherer Beständigkeit des Gemeinwesens. Bessere Anschlussmöglichkeiten von
Kommunikation stärken die Individualität gegenüber der Gesellschaft. Emanzipation bei
gleichzeitiger Vergesellschaftung des Individuums werden zu relativen Sicherheitsgaranten
gegenüber den Untiefen des Fortschritts. Die barbusig aggressive Freiheit auf den
Barrikaden revoltiert schließlich gegen die Vergangenheit, weil die Zukunft so gewiss
wird, wie es die Vergangenheit den Altvorderen war. In diesem Siegeszug des Neuen, dessen
vorläufigen Höhepunkt wir in einem Heute, das schon morgen sein will, erleben,
verändert sich auch das Verhältnis der Zeiten zueinander. Ist Vergangenheit je nach
Deutungsmuster und Beobachter Konstruktion, muss es die Zukunft erst recht sein. Neuheit,
ehedem beargwöhnt und einem nacheilenden Verständnis unterworfen, um es als das Alte
ausweisen zu können, wird zur Obsession. Zukunftswerkstätten wie die "Expo
2000" beschwören, was früher göttlicher Funke war. Das Neue tritt mit Macht in die
Geschichte ein, um aber sogleich zu kollabieren, es wird redundant und provoziert den
Wunsch nach "neuem Neuen". Die Gegenwart wird in dieser Beschleunigungsspirale
instabil, permanent entstehen neue Zukunftsszenarien, die uns in das Wechselbad von
Hoffnungen und Ängsten werfen. Der Zukunftsdiskurs der Gegenwart steuert in chronische
Aporien. Welchem Glauben an die Geschichte folgt man? Gentechnologie - Machwerk des
Teufels oder Segen für die Menschheit? Informations-technologie - Ende humaner Zustände
durch Datenherrscher oder ultimative Einlösung aller Kommunikationsfantasien? Politische
Programme versagen sich zwar die Ankündigung des Paradieses, aber zumindest ist morgen
alles besser als heute, weil die träge Vergangenheit und die Gegenwart als ewiger status
nascendi entmachtet werden. Das paradoxe Fatum der so schicksalslosen Gegenwart besteht in
ihrer Schwäche, die selbstgeschaffenen Herausforderungen aus dieser quälenden
Spannungslage zu befreien.
4. Ich-Zeit-Souveränität: Le temps cest moi
a. Kultur der Langsamkeit
Im technologischen Umbruch der Zeitmodi und der Innovationssucht erleben wir heute den
vorläufigen Höhepunkt eines Chronozentrismus, der klassische Zeitregimenter weit hinter
sich lässt, ja mehr, aufsaugt. Fremd- und Eigenzeit werden verwischt, globale
Entfernungen verwandeln sich in digitale Sekunden, audiovisuelle Medienfeuerwerfer
bombardieren stammesgeschichtlich träge Sensoren, genetisch gebrechliche Zeitwesen
weichen vorgeblich unsterblichen Hyperwesen...und unser müder Körper hinkt hinterher. Im
Jetlag revoltiert er gegen den "Betrug" der Fortbewegung des unbewegt Reisenden
- Goethe konnte sich noch den Luxus des Parnass-Bewohners leisten, über
Wahrnehmungsverluste beim Kutschentempo zu klagen. Heute hinterlassen Reizüberflutungen
eine gepeinigte Psyche - "burned out" lange vor dem biologischen Ende.
Behaupteten traditionelle Lebenswelten eine Kontinuität der Örter, basierten auf
einer Raumerfahrung der Verbundenheit (André Levi-Gourhan), erschließen sich
nicht nur spätmodernen Cybernomaden Zeiträume als diskontinuierliches Erfahrungsfeld -
dabei "er-fahren" wir nicht mehr in gemächlicher Kontemplation vorbeiziehender
Örter unsere Identität, sondern allenfalls retrospektiv will es uns gelingen, Sprünge
in der Zeit zu einem unvollständigen Mosaik persönlicher Geschichte zu wirken. Eine
vorbehaltlose Kritik der Beschleunigung läuft indes Gefahr, sich naiv gegen einen
evolutionären Wandel der Zeit zu verwahren. Kritik der Zeit in der Zeit kann nur heißen,
gegenwärtige Zeitparadigmen auf Veränderlichkeit hin zu überprüfen, Zeitsouveränität
gegen Zeitläufte zu gewinnen. Jedes Bewusstsein arbeitet mit Zeitschleusen, in denen
subjektfremde Zeiten in subjektive Zeitgestalten umgeformt werden müssen. Ständig listen
wir fremden Zeitrhythmen kostbare Eigenzeit ab, versuchen zu synchronisieren, was wir als
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wahrnehmen. Wie weit reicht unsere
Zeitsouveränität?
Noch gibt es keine Antizeitguerilla, keine Anarchisten fröhlicher Anachronie - trotz
der österreichischen Gesellschaft zur Verzögerung der Zeit. Noch steht eine Kultur der
Langsamkeit aus, die sich gegen vorauseilende Zukunft und nacheilende Vergangheit wehrt.
Zwar revoltiert Momo gegen die Zeitdiebe, der Polarforscher Franklin
entdeckt die Langsamkeit, aber das sind literarische Fantasien, denen noch keine
selbstgewisse Gegenkultur des Müßiggangs entsprungen ist. Auch der Flaneur Baudelaire,
der sich den Schritt von einer Schildkröte vorgeben ließ, blieb Episode, ästhetischer
spleen. Mag er auch Zenons widerlegtem Paradox von "Achilles und der
Schildkröte" metaphorisch vertraut haben, war das doch harmlos gegen Georg
Büchners uneingelöster Primärfantasie der Zeitvernichtung. Der hat schon vor
dem modernen Zeitjoch Leonce die Zeit ex-terminieren lassen: "Wir lassen alle
Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monden nur nach der
Blumenuhr, nur nach Blüte und Frucht. Und dann umstellen wir das Ländchen mit
Brennspiegeln, dass es keinen Winter mehr gibt, und wir uns im Sommer bis Ischia und Capri
hinaufdestillieren, und das ganze Jahr zwischen Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und
Lorbeer stecken." Valerio: "Und ich werde Staatsminister, und es wird ein
Dekret erlassen, dass, wer sich Schwielen in die Hände schafft, unter Kuratel gestellt
wird; dass, wer sich krank arbeitet, kriminalistisch strafbar ist; dass jeder, der sich
rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt und der
menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird; und dann legen wir uns in den
Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen,
klassische Leiber und eine commode Religion." Gegen die aufdringliche Zukunft
kämpfte auch Gontscharows Faulenzer Oblomow, der seinem Schöpfer keinen
klassischen Leib abverlangte, sondern seine Fleisch gewordene Gemächlichkeit dem
zivilisatorischen Zeitdruck entgegenhielt. Thoureaus Ökofreak Walden
verweigerte sich den Zeitläuften im Rückwärtsgang zum einfachen Leben. Viele Aussteiger
folgten, um ganz entspannt im "Hier und Jetzt" dem Zivilisationstempo in
Landkommunen und Ashrams zu entkommen. Im wieder erwachten "carpe diem"
pflückten Blumenkinder, Hippies, Freaks den Augenblick wie eine immerreife Frucht am Baum
der Zeit: Live strong, die young. Der buddhistischen Erfahrung totaler Gegenwart wurde mit
psychedelischen Mitteln auf die Sprünge geholfen, bis sich erwies, dass diese
Gegenwärtigkeit des Erlebens die Wirklichkeit auf der Strecke ließ. Dreißig Jahre
später verklärt sich dieser Kult des Jetzt der Gegenwart als Nostalgie...ein
Lebensgefühl, das indes die Techno-Generation nicht mehr atmet, weil sie den
gesellschaftlichen Beschleunigungsrausch mit noch höherem Tempo zu überholen, d.h. zu
übertäuben versucht. Deutlich wird, dass es keinen Königsweg subjektiver Zeitherrschaft
gibt, sondern nur verschiedene Reaktionen, Rückläufe, Revolten und Revolutionen zu
verlorenen Ursprüngen. Zumindest die alten Justierungen von Reaktion und Progression sind
nicht länger tauglich, Gesellschaften politisch zu markieren. Denn wer zurückschreitet,
mag seine Zeitsouveränität für die Zukunft gewinnen, während eilige Mitläufer
auf der Überholspur der Gegenwart fremder Zeitherrschaft erliegen.
b. Zeitsouveränität als Lebenskunst
"Wie lebt man also?" lautet zuletzt die kategorische Frage, auf die kein
eilfertiger Imperativ "Gehen sie mit der Zeit!" mehr kategorisch antworten
wollte. Philosophie der Zeitsouveränität kann nur an die besseren Restposten
abendländischer Zeittechniken anknüpfen, um das fruchtbar werden zu lassen, was nach den
Erschütterungen von Eigenzeit und ihren Zyklen übrig geblieben ist. In diesem
Eigenzeitbeharrungsvermögen gegenüber einer rasenden Gegenwart, die immer schon Zukunft
sein will, werden alte Lebenskonzepte wiederbelebbar, die sich schon je einer simplen
Fortschrittslogik widersetzten und dem späteuropäischen Bewusstsein zwar keine
Zeittranszendenz gewähren, aber eine relative Zeitsouveränität, die das Leben lebbar
macht. Alte Strategien der Identität gegen die bedrohliche Zeit - Muße, Maß,
Gelassenheit, aber auch Ironie und Eigensinn - können wieder entdeckt werden. Gegen die
in einer Lebenszeit uneinlösbare "promesse de bonheur" werden Zeittechniken
unabdingbar, mit Leid und Leidenschaften, Zufall und Kontingenz, Alter, Krankheit und Tod
umzugehen. Vergessen wir nicht "purpurne Stunden" (Oscar Wilde), ewige
Augenblicke und dionysische Lüste, die untrennbar den Fährnissen der Existenz verbunden
bleiben. Zeitsouveränität bescheidet sich darin nicht in der Selbstvergessenheit der
Gegenwartsflucht, sondern vermittelt die Zeiten von Individuum und Gesellschaft zu einem
(mikro)politischen Entwurf des Selbst aus dem Geist anderer Zeitmaße. Vielleicht
erscheint dann auf der Bühne des menschlichen Katastrophentheaters ein neues Subjekt
olympischer Gelassenheit - mit sich trotz seiner Widersprüche identisch, ein
Wahrnehmungsfeld gesellschaftlicher Zeiten, ohne auf subjektive Präsenz zu verzichten. So
wird man erst wieder relativ zeitautonom, wenn man begreift, dass sich jede Lebenszeit an
den Heteronomien fremder Zeitherrschaft stößt. Der spätaufgeklärte Lebensstil kann auf
die diffuse Verzeitlichung der Verhältnisse nur mit verstärkter Selbstreferenz
antworten. Nicht zuvörderst auf den hypertrophen Bildschirmen der "Welt da
draußen", sondern auf den inneren Monitoren werden Zeitbilder geformt. Wer mit
zyklischer Zeitdisziplin auf eine Gegenwart reagieren kann, die heute schon von morgen
sein will und übermorgen bereits antiquiert ist, befreit seine Zukunft für morgen - und
mag das Übermorgen ruhen lassen. Mit anderen Worten: "du hast wenig Zeit, also nutze
sie, ohne ihr hinterherzulaufen." Dabei gibt es keinen schlichten Gegensatz zwischen
medialer Beschleunigungssucht und subjektiver Gegenwärtigkeit. Erst in der Erkenntnis
medialer Zeitstrukturen, in der beobachteten Pluralisierung der Zeitbegriffe lassen sich
subjektive Eigenzeitmodelle inszenieren, die sich nicht den Vorwurf von Weltvergessenheit
einhandeln. Zeiträson, Zeitdruck von unten auf die rasende Weltgesellschaft werden
gegenüber den Provokationen einer aus den Fugen der klassischen Zeitmodi geratenen Welt
notwendig. Das Subjekt muss also zeigen, ob es den Anfechtungen seiner Lebenszeit
überlegen ist und auch mit Zeitläuften fertig wird, die seine raumzeitlichen Bindungen
unendlich provozieren - der Körperpolitik Boltzmanns folgend: "Ich befinde
mich nicht in Bewegung; ob ich stillstehe oder ob ich gehe, mein Leib ist das
Zentrum..."
IV. Epilog
Nicht wäre also die Vergangenheit von der Zukunft zu befreien, sondern die
Vergangenheit als Teil der Gegenwart, die die Zukunft bewahrt, zu verstehen. Noch weniger
ist die Zukunft von der Vergangenheit zu befreien, weil wir uns die Vergangenheit zu teuer
erkauft haben, um sie ungeschehen sein zu lassen. Plädieren wir für eine zeitoffene
Gegenwart, die sich gleichermaßen Zukunft wie Vergangenheit solidarisch verbunden weiß -
bis dass der Tod uns von der Zeit scheidet. Wir, Zeitherrscher und Zeitknechte, noch weit
entfernt davon, Alpha und Omega zu sein, besitzen Zukunft und Vergangenheit nur in kurzer
Gegenwart. Mögen wir erinnern, dass wir unsere Zeit sind. Handeln wird auf menschliches
Tempo zurückgeschraubt, wenn sich die Zeiten in der Gegenwart zu einem Wissen und
Gewissen verschränken, dass wir jetzt leben - in unserer Vergangenheit und für eine
kurze Zukunft. Wir sind weder die Heiligen der letzten Tage noch die Götter der Zukunft.
Möge Ludwig Wittgenstein nicht für unsere Zeit gesagt haben: "Eine Zeit
missversteht die andere; und eine kleine Zeit missversteht alle anderen in ihrer eigenen
hässlichen Weise." Mögen wir indes eine kleine Zeit sein, die sich den Luxus
leistet, die Leimruten der großen Versprechungen gegen eine gewitztere Wahrnehmung der
Gegenwart einzutauschen. Sollte es einen jüngsten Tag geben, werden wir mehr
erfahren...wenn die Zeit sich dann selbst erkennt, taucht sie aus der Zeit auf - dann ist
ihr Ende gekommen. Diesen locus solus intemporalis gibt es noch nicht, unsere Eingriffe in
die vergangene und zukünftige Geschichte bleiben Geschichte.
Goedart Palm |