(Editorischer
Hinweis:
Der folgende Text findet sich in einer überarbeiteten Fassung in
"Cybermedienwirklichkeit".)
Das Museum hofft auf seine Zukunft
Verkommt das dem fürstlichen Kuriositätenkabinett
(http://www.uni-koblenz.de/~graf/ekult.htm) entwachsene Museum selbst zur unzeitgemäßen
Kuriosität? Museen, die nicht als behäbige Auslaufmodelle bürgerlicher Kulturaneignung
untergehen wollen, bieten Spektakuläres, um auch ein mediengesättigtes Publikum wieder
mächtig in ihren Bann zu schlagen. Die verstaubte Vitrinenkultur, die Unberührbarkeit
von Exponaten in den Flüsterfluren der parareligiösen Musentempel, die ihres
Zusammenhangs beraubten Relikte locken das medienverwöhnte Publikum nicht mehr allzu
sehr.
Inzwischen entstehen daher museale Szenarien, die den Anspruch erheben, die
historischen Zusammenhänge nicht nur umfassend zu repräsentieren, sondern dem Besucher
auch interaktive Erlebniswelten zu bieten. In der Troia-Ausstellung (http://www.troia.de/)
in Bonn etwa werden die diversen, sich überlagernden "Troias" auf fast
enzyklopädisch ausgestatteten Multivisionswänden mit einer raffinierten software zum
klickfreudigen Altstadtbesuch veredelt. Auf die Idee des alle Sinne erfassenden
Environments setzt das "Imperial War Museum" in London. Dort kann sich der
Besucher im kuriosen "The Blitz" (http://www.iwm.org.uk/cabinet/blitz.htm)
einschließen - bzw. einschießen - lassen, um den authentischen Angriff deutscher Flieger
auf das London des Zweiten Weltkriegs im Kellerunterstand zu erleben. Schreie der
Verwundeten, Erschütterungen des Bodens, selbst Pulver und Dampf umfangen den
verspäteten Kriegsteilnehmer in diesem Versuch, eine sinnliche Komplettwelt
wiedererstehen zu lassen. Solche eindrucksvollen Umräume wollen das Leben - respektive
den Tod - zeigen und hier werden Virtualisierungen der entschwundenen Geschichte genauso
wichtig wie etwa in den filmischen Vergegenwärtigungen von Dinos und anderen
ausgestorbenen Populationen.
Virtuelle Rekonstruktionen haben immerhin den ausstellungstechnischen Vorteil,
dass Konservatoren nicht je nach historischem Erkenntnisstand die Nachschöpfung permanent
mit Plaste und Elaste nachkorrigieren müssen. Zugleich können Besucher, die auf den
nackten Boden der historischen Tatsachen zurückkehren wollen, die Traumbrille abnehmen,
um lediglich die Relikte zu sehen. Frank Hartman
(http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/konf/11609/1.html) hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass Werke im Zustand ihrer digitalen Vermittlung leicht veränderbar sind. Die Fixierung
des Originals, die auch in historischen Diskursen oftmals ein herausragender
Streitgegenstand war, kann mit den überquellenden Möglichkeiten virtueller Reanimierung
der historisch getarnten Fantasie vollends freien Lauf lassen. Der schon mit Gutenbergs
Erfindung immer anfechtbarere Status des Originals könnte in nicht allzu ferner Zukunft
zur nicht entscheidbaren Glaubensfrage werden. Aber wenn selbst die Historiker dazu
übergehen, virtuelle Geschichte zu schreiben, das Chaos der Geschichte mit vielleicht
nicht weniger wahrscheinlichen Alternativverläufen - "Was wäre, wenn Hitler den
Krieg gewonnen hätte?" etc. - chaotisch konfrontieren, muss das kein Mangel sein.
Ohnehin ist dieses Problem eng mit der ambivalenten Geschichte des Museums selbst
verkoppelt. Neben seiner Archivierungs-, Dokumentations- und Bildungsfunktion war es immer
auch das kollektive Traumhaus (Walter Benjamin), der gesellschaftliche Ort für
historische Projektionen, die von zeitgenössischen Wunschbildern beherrscht wurden und
weit über das historisch Gesicherte hinausgingen.
Eine andere Virtualisierungstechnologie verfolgt das Audiosystem
"LISTEN" (http://www.fit.fraunhofer.de/projekte/listen/index_en.xml), das über
den klassischen Walkmann-Begleiter im Museum weit hinausgeht. Während das inzwischen
landläufig bekannte Verfahren nur einen Klangraum schafft, wird der Besucher mit der
neuen Technik nicht länger an die Vorgaben eines Tapes gekettet, das lästig hin- und
hergespult werden muss, sondern er kann in den diversen Klangräumen nach Belieben
flanieren. Allein die Bewegungsrichtung des Benutzers entscheidet über seine
Klangeindrücke. Das audiovisuelle Ereignis hängt von der Kopfbewegung und Gehrichtung
des Besuchers ab. LISTEN verspricht dabei ein Merksystem, das die bereits an den Besucher
vermittelten Informationen speichert, um Wiederholungen zu vermeiden. Das System strebt
mit seiner kopfbezogenen Stereophonie multiple Klangeindrücke an, die nicht nur aus dem
Kopfhörer, sondern auch von verschiedenen externen Orten zu kommen scheinen. LISTEN
erweitert den realen Besuchsraum so zu einem akustischen Totalerlebnis, dessen erste
Bewährungsprobe Anfang diesen Jahres das Kunstmuseum Bonn (http://idw-online.de/public/pmid-43379/zeige_pm.html) erlebte.
Goedart Palm "in memoriam Robert
Delaunay" (Copyright 2009).
Virtual Showcase, LISTEN und avanciertere Technologien, die noch folgen werden,
versprechen Zeitreisen, die idealtypisch keine Vermittlungsmängel mehr haben sollen. Das
muffige Mausoleum der Relikte, in dem totes Zeug vor sich hin lümmelt und das die
Futuristen gerne eingeäschert hätten und nun selbst dort beerdigt sind, ist passé. Auch
die lebenden Künstler sollen wieder stärker in das Museum der Zukunft eingebunden
werden. Peter Weibel vom Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe (ZKM)
(http://www.zkm.de/ ) hat das Ziel, ein museologisches Leitmodell zu schaffen, dass nicht
allein der Rezeption gewidmet ist, sondern auch zum Partner bei der Kunstproduktion wird.
Bereits in der Romantik war in den hartnäckig umkämpften Museumskonzeptionen längst
nicht die Idee einer Öffnung des Musentempels für das breite Publikum, dessen Bildung
und Unterhaltung, vorrangig, sondern das Museum war ein (H)Ort der Privilegierten, ein
Arbeitsrefugium der Künstler, um ihre Kunst am und im Geist der Antike zu schulen.
Winckelmann durfte die antike Skulpturensammlung des Vatikans übrigens erst sehen,
nachdem er zum Katholizismus konvertiert war und die Königlichen Sammlungen Wiens wurden
1792 nur Besuchern "mit sauberen Schuhen" geöffnet (Vgl. Theodore Ziolkowski,
Das Amt der Poeten, Die deutsche Romantik und ihre Institutionen, 1992). Ab jetzt soll die
Geschichte dagegen wieder jeden hereinlassen, ja mehr, sie soll idealtypisch 1 : 1
entstehen. Werden wir uns im Paris von 1789 tummeln, die großen Weltausstellungen
nacherleben oder uns gar zu Christi Geburt als virtuelle Zaunkönige einfinden, um bis ins
kleinste Detail die Lücken unseres individuellen und kollektiven Gedächtnisses zu
schließen? Sicher wird die Authentizität zukünftiger Museen nicht in allen Referenzen
zu gewährleisten sind. Geschichtsrekonstruktion bleibt Indiziengeschichte, die von jeder
Zeit zudem in ihren je eigenen Fokus genommen wird. Grundsätzlich jedoch wird das Museum
der Zukunft den Unterschied zwischen der Geschichte und ihrer Repräsentation immer
weitreichender auflösen. In diese Cybernarien (http://www.cybernarium.de/), die schon
lange vor ihrer Realisierung in der chinesischen Fabel vom Maler erschienen, der in seinem
eigenen Bild verschwindet, wird sich der Rezipient in einen erlebnishungrigen
(http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/11688/1.html) Akteur verwandeln.
Das Museum ist danach nicht allein ein rezeptives Wirklichkeitsmodell, nicht nur
"augmented reality", sondern sucht eine neue interaktive Wirklichkeit, die mit
der Realgeschichte der Vergangenheit konkurriert und sie vielleicht morgen schon
überbietet. Ob aber das Museum als gesellschaftliche Institution gerade seinen höchsten
Anspruch überlebt, ist schon deshalb zweifelhaft, weil mit seiner Idee die
Abgeschiedenheit eines Orts in der Gesellschaft, eine Heterotopie
(http://www.ruhr-uni-bochum.de/www-public/niehaabp/Utopie/heteroto.htm ) oder Gegenwelt,
die man leibhaft aufsuchen kann, verbunden ist. Ob die neue virtuelle Prächtigkeit der
Museen, vom auratischen Musentempel zum enzyklopädischen Informationspalast, wirklich
mehr als eine kurze Blüte einer aussterbenden Präsentationsform ist, werden erst
arriviertere Virtualisierungstechnologien erweisen. Mit Online-Repräsentanzen
(http://www.dhm.de/links.html), mit Pop-up-Vitrinen für den Monitor
(http://www.dhm.de/lemo/), mit den sich verwischenden Grenzen zum E-Book oder zu
wuchernden Hyperlink-Enzyklopädien des Netzes werden die Kategorien medialer
Differenzierung schwächer. Die traditionellen Unterscheidungen zwischen Museum, Archiv,
Bibliothek und Vergnügungspark könnten in diesen multimedialen Kurzschlüssen
untergehen. Dann würde auch das Museum zu einer weiteren Partition der Festplatte,
überall und jederzeit zu errichten. Allein der Untergang der Museums-Cafés wäre dann
als unwiederbringlicher Kulturverlust zu beweinen...sollte es nicht auch dafür virtuelle
Lösungen geben.
Noch
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