oder
Peter Sloterdijks Liebe zur Geometrie
Platons Akademie soll der Inschrift über dem
Portal nach nur für Geometer betretbar gewesen sein. Geometer sind Intelligenzen, die aus
dem Reich der Toten kommen und verschüttete Erinnerungen an den Aufenthalt in einer
perfekten Psychosphäre besitzen. Peter Sloterdijk, genial-kynischer Kritiker der
zynischen Vernunft, paläopsychischer Zauberbaumtheoretiker und Spürnase eurotaoistischer
Anverwandlungen der Spätmoderne hat nun sein neues fulminantes Großprojekt einer
psychophilosophischen Menschheitsgeschichte gestartet. Ausgangspunkt sind die
Dezentralisierungsspiralen, die den Menschen aus seiner geborgenen Schalenexistenz
geschleudert und die wärmenden Mäntel des alten Himmelsgewölbes weggerissen haben -
eingedenk Pascals: Das ewige Schweigen der unendlichen Räume versetzt mich in
Schrecken". So entstehen immer neue, mit imperialer Technik verbündete Versuche,
einen globalen Wärmeschutz gegen den einbrechenden Frost des Kosmos zu
reinstallieren.
Technik, Wohlfahrt, Weltmarkt und globale Medien verbinden sich zur Immunverfassung des
Menschheitskörpers.
Wo sind wir nun, wenn wir in der Welt sind?
Sloterdijk verortet Psychosphären, interpersonale Blasen, duale Räume, interfaziale
Begegnungen. Nur im Verständnis der komplexen Äquilibristik unserer frühesten
Raumbeziehungen werden unsere späteren Seelenlandschaften und heillosen Sümpfe
nachvollziehbar. Das Subjekt endet nicht an seiner Außenhaut, sondern ist unendlich mit
dieser Welt verstrickt. Liebesgeschichten sind danach Formgeschichten, menschliche
Solidarisierung ist Sphärenbildung. Aber nicht nur Menschen kranken an Nähedefiziten,
auch die philosophischen Verortungen der Seele leiden an Mangelerscheinungen, weil sie
verschüttet haben, was zuvor Ahnungen, Visionen, Anamnesen, mithin fragile
Erkenntnisgegenstände des Miteinander waren.
Sloterdijk markiert im Seitenblick auf
Wittgensteins Sprachspielpurismus die Grenzen des Übertragungsvermögens als die Grenzen
der Welt. Einer Zeit, in der Wüsten wachsen, wird der Aufenthalt des Menschen in der
Welt, seine Seinsverfassung zur dräuenden Angelegenheit. Längst ist klar, dass
auch die
fundamentalontologische Daseinsanalytik kein abgeschlossenes Projekt der Moderne ist.
Sloterdijk will Heideggers subthematisch in Sein und Zeit" eingeklemmtes
Projekt Sein und Raum" aus seiner Verschüttung bergen. Hatte doch Heidegger
ein hysterisch-heroisches Existenzialsubjekt thematisiert, das seine tieferen Momente
intimer Einbettung und Solidaritäten nicht wahrnimmt. Es bleibt schwierig zu sagen, was
unserer Existenz mangelt, wenn Bezeichnungen fehlen und seelische Zustände rekapituliert
werden, die dem Logos vorgeordnet sind. Immer wieder besteht die Gefahr, essentiellen
Einsamkeitssuggestionen zu erliegen. Urbarmachung multipolarer Seelenlandschaften,
seelischer Interpenetrationen heißt zugleich Urbarmachung untergründiger Diskurse, die
den herrschenden Emanzipations- und Subjektgeschichten zuwiderlaufen. Sloterdijk mahnt das
anticartesianische Bewusstsein einer Körperpolitik an, die transzendentales und
empirisches Subjekt wieder auf seine älteste Zuständen zurückführt. Was die
konstruktivistische Gehirnforschung inzwischen auf der Suche nach Geist und
Bewusstsein
reklamiert, wird nun auch philosophisch ratifiziert: Res cogitans und res extensa müssen
sich wieder begegnen, weil anders Denken und Dasein ortlos, ja mehr, weltlos bleiben.
Sloterdijks Grabungen in ontogenetischen Urzuständen fördert Sphären zutage und er
justiert hier nach, was in den Übertragungsverlusten der Aufklärung transzendiert werden
sollte und doch als Störpotential des emanzipierten Subjekts quälend blieb.
Psychodynamisch gilt ihm der neuzeitliche Individualismus als plazentaler Nihilismus, will
sagen: Die Selbstbeherrschungsgeschichte abendländischer Freiheit schreibt sich als
Beziehungsverlust seines polaren Angewiesenseins auf den Anderen. dass das Andere der
Vernunft in der reinen Vernunft keine Heimat fand, so wenig wie das sperrige Ich in der
runden Vernunft, ist nicht erst seit Sloterdijk bekannt. Aber Sloterdijk verläßt den
inneren Zirkel philosophischer Explorationen und setzt bei pränatalen Zuständen ein, die
inzwischen selbst in der psychologischen Weichspülerliteratur als Konstituentien der
Subjektwerdung markiert, aber nicht begriffen wurden. Sphären I" ist ein
philosophisch aufgerüsteter tiefenpsychologischer Rettungsversuch des Individuums aus dem
unbewussten Wissen seiner Teilung und des Verlustes faszinogener Ansichten des Anderen.
Öffentliche Kräftefelder, Gewißheiten eines begleiteten Raums, nicht selbstverlorene
Heroen einer beschnittenen Individualität sind neu zu entdecken: Urbegleiter, Genien,
Engel und Erzengel, - eine existenzielle Topographie des Subjekts und seiner Begleiter
entsteht, Örter, die wir vergessen hatten.
Der Preis für diese Verluste ist hoch: Orpheus
kann nicht länger die Spannung seiner Sphärenmelodie entfalten, nachdem Eurydike auf dem
plazentalen Müllhaufen entsorgt wurde. Uns sind die seelischen Katastrophen des Subjekts
nur zu geläufig: Etwa die Zustände der Melancholiker, die zu Häretikern des Glaubens an
ihren guten Stern werden, oder den epidemischen Siegeszug der Depressionen als
spätmoderne seelische Orientierungslosigkeit. Die feinen Schwingungen, die Leben gelingen
lassen, können nicht länger einer Psychoanalyse überantwortet bleiben, da deren
Rekonstruktionen der Familienbande zwar unendliche Analysen ausgelöst haben, aber keine
Heilsgeschichte, die das Subjekt seiner Heimat zuführen könnte. Schon der
Anti-Ödipus" markierte die ungleich komplexere Seelenlandschaft
deterritorialisierter Wunschmaschinen", die keinen Platz in der
eindimensionalen Triangularität des ödipalen Subjekts, in der Besucherritze zwischen
Mama und Papa fanden. Tiefenpsychologie ist lange vor Freud schon Erkenntnisgegenstand der
Seelenhöhlenforscher gewesen. Sloterdijk lässt den intrauterinen Sphärenzauber wieder
erklingen, der den Fötus auf spätere Örter und ihre Beziehungen zueinander vorbereitet.
Er schildert etwa die Macht des Ohres, die der nasciturus in der mütterlichen Urhöhle
besitzt und die den Mythos des auditiven Ausgeliefertseins der verkoppelten Körper
bestreitet. Interessant wird es zu erfahren sein, wieso gerade eine Techno-Generation die
Unterwerfung des Ohres unter den Terror des übertäubenden Beats sucht. Sonosphärische
Differenzierungen werden aber nicht nur in diesen aufdringlichen Klangwelten der Kids von
Crack und Loveparade zugeschüttet, der urbane Raum pervertierte längst zum
audiovisuellen Overkillszenario, in dem die Ausgestaltung von Nähe, Intimität und
Begleitung als fragiler Konstitutionsbedingung des Menschen nicht mehr gelingen will.
Das autonome Subjekt der Aufklärung soll aus der
seelischen Monokultur in den Dualraum des Miteinanders überführt werden. Erst an diesem
Ort kann Subjektivität entstehen. Die Herrschaft des Cogito ergo sum" im
Selbstzweifel wird mit dem älteren Cogitor ergo sum", den Konfigurationen des
Selbst aus dem Geist des Gegenübers, konfrontiert. Sloterdijk bricht den
selbstgefälligen Autonomiediskurs auf, mahnt an, die zerrissenen Hälften des
Individuums" wieder zu spüren. Das heißt zuletzt Zurück zur
Natur", weil seit Rousseau Menschen zu Anwendungsfällen der Sozialpsychologie und
Erziehungsobjekten wurden, die eine von Foucault beschriebene Disziplinierungsgeschichte
begründeten und etwa bei Schreber einen grotesken Höhepunkt in körperfeindlichen
Korrektionsinstrumenten fanden. Das Subjekt steckt auch nach seiner naturalen
Rückbesinnung in Einzelhaft, wenn es vergißt, sich selbst als Seelenkörper durch den
Anderen zu ergänzen. Das Subjekt hat nie in unmittelbarer Natürlichkeit gelebt, sondern
in künstlichen Treibhäusern.
Das affektiv-infektuöse Miteinander früher
Raumerfahrung wich der Illusion der Subjektautonomie. Und das heißt in der modernen
Befindlichkeit nichts anderes, als manischen Kollektiven, Massenhysterien und -psychosen
oder erstickenden Übermüttern ausgeliefert zu sein, weil mit der Plazentavernichtung der
seelennotwendige Mitraum annulliert wurde. Interpersonale Räume wurden ihrer
symbiotischen, erotischen, mimetischen Energien beraubt und postmodernes Ausgebranntsein
kündet von den Irrungen und Wirrungen des vergeblich nach seinem Ko-Subjekt suchenden
Menschen.
Kein Wunder, dass
raumpolitische Versuche
einsetzen mit imaginär-institutionellen Mitteln phantastische Mutterleiber für
infantilisierte Massenpopulationen nachzubauen. Die Entzauberung ist der Spätmoderne die
selbstverständliche conditio inhumana. Die Vermessenheit des Menschen, sich selbst als
mündiges Subjekt zu vermessen, auf das Reißbrett einer ortlosen Autokonstruktion zu
legen, von Autopoiesis auf Autonomie zu schließen, das wäre als Sündenfall der Neuzeit
zu bezeichnen. Nur so wird es wider alle Sphärenklänge möglich, den Einzigen - etwa bei
Stirner - als sein weltloses Alleineigentum zu behandeln. Mit der Abnabelung beginnt der
Erinnerungsverlust. Den paradoxalen Einverleibungsversuch Erkenne dich selbst"
gilt es gegen die Anamnese Ergänze dich selbst" einzutauschen. Von Platons
Höhle bis zur psychoanalytischen Couch, die nur ein Aufpolsterungsmodus einer ungleich
reicheren Seelenlandschaft war, werden Topographien des Runden, Kugelförmigen
rekonstruiert. Das Subjekt wird in dem komplexen Zusammenhang innerer Zustände,
Beziehungen zu anderen und sich selbst neu vermessen.
Weiterhin wird den Leser in den folgenden Bänden
interessieren, ob der Riss zwischen den Subjekten, die Entsorgung der plazentalen
Ergänzung trotz der Auskunft Heideggers, dass jeder der Andere und keiner er selbst ist,
auf Remedien stößt. Kants Frage, was wir hoffen dürfen, wandelt sich Sloterdijk zufolge
zu der Frage, wo sind wir, wenn wir im Ungeheuren sind. Die Reise führt jedenfalls nicht
mehr mit Augustinus in das Innere, sondern in eine ekstatische Vorläufigkeit des
Äußeren. Immerhin aber bleibt zu erinnern, dass mit der Geschichte einer ursprünglichen
Entzweiung eine wie auch immer unvollkommene Erschließung der Welt verbunden war.
Vielleicht ist ja die Geschichte des vergesellschafteten Menschen, in der Herrschaft und
Humanität immer wieder neue Konstellationen beziehen, nur zum Preis einer endgültigen
Enteigung des pränatalen Paradieses und seiner Amnesie zu haben.
Eine abschließende Beurteilung, ob der Versuch,
Möglichkeiten und Grenzen des geometrischen Sphärenhumanismus auszuloten, gelingt, wird
erst im hermeneutischen Zirkel der auf drei Bände angelegten Untersuchungen möglich
sein. Immerhin zeichnet sich ab, dass Sloterdijk mit dem Ehrgeiz des platonischen
Geometers Seelenräume neu vermisst, die im Diskurs der Moderne chronisch unterbelichtet
geblieben sind und gegenwärtig in Globalisierungskriegen, telematischem
Beschleunigungsterror und ästhetizistisch-kontingenten Lifestyle-Ideologien weiter
demontiert werden. Der mimetische Sprachwitz Sloterdijks gegenüber seinem Gegenstand
allein ist aber bereits jetzt hinreichender Lektüregrund und verdient die Anerkennung,
dass im deutschen Sprachraum zur Zeit vermutlich kein anregenderes psychophilosophisches
Sprachspiel existiert.
Goedart Palm
Peter Sloterdijk, Sphären I, Blasen, Suhrkamp Verlag,
Frankfurt/M 1998, ISBN 351841022-9
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