Sollte
man die „Zeitschrift für Ideengeschichte - Idee“ in jene Kiste von
Publikationen verräumen, die die informationsüberlastete Menschheit
nicht auch noch benötigt? Das
ehrgeizige Projekt der drei großen deutschen Forschungsbibliotheken und
Archive in Marbach, Weimar und Wolfenbüttel kommt aus dem Archiv und
zielt auf „die intellektuelle Öffentlichkeit“. Die ist nun
bekanntlich das, wenn nicht gewaltig große, so doch heiß umkämpfte
Zuwendungsobjekt einiger Veröffentlichungen, die oftmals nicht ernst
nehmen, was der im vorliegenden Heft 1 unter anderen präsentierte Odo
Marquard der Philosophie als Grundsatzprogramm mit auf den Weg gibt: „Je
endlicher für die Menschen ihre Zeit ist, desto musikpflichtiger wird die
Philosophie.“ Wenn also Philosophie schon Lebenszeitdiebstahl ist, darf
man bestes, nämliches musikalisches Zeitmanagement für den Leser
verlangen, sonst stößt die Weisheitsliebe auf Idiosynkrasien der Lektüre,
die denen der Moderne im Übrigen nicht nachstehen. Gerade Ideen sind in
Mediengesellschaften so promisk bis inflationär, dass hier jedes Quäntchen
Aufmerksamkeit wohlinvestiert sein will. Eine Ideengeschichte unter diesen
Auspizien muss sich der stoffgläubigen Ideensammlung entschlagen, um zunächst
einmal die Spreu vom Weizen zu trennen. Doch wie geht das überhaupt? Jüngst
erst hat Peter Watson eine fette Ideengeschichte abgeliefert, die
sich mit drei Fundamentalnavigatoren „Seele“, „Europa“ und
„Experiment“ in einem Terrain orientieren will, das zahlreiche
Systematisierungsversuche schon hat scheitern lassen. Hier liegen
methodische und lebenspraktische Aufgaben für Ideensucher und –rekonstrukteure
wie Landminen herum, die sich nicht im Rückzug auf das Archiv entschärfen
lassen. Ideen lassen sich nur
bedingt kartografieren, ihre wertvolleren Stücke muss man denken. Ideen
kamen bisher, so wie es der heilige Geist will, über einen oder eben
nicht, was längst nicht mit der unscharfen Volkshochschul-Vokabel
„Kreativität“ erschlossen wurde. Schon Novalis ahnte, dass es sich
hier um erlernbare, programmierbare Künste handeln könnte: „Die
Kunst Bücher zu schreiben ist noch nicht erfunden. Sie ist aber auf dem
Punkt erfunden zu werden. Fragmente dieser Art sind literarische Sämereien.
Es mag freilich manches taube Körnchen darunter sein: indessen, wenn nur
einiges aufgeht!“[1]Novalis
hat das allerdings nicht
mehr erlebt. Sind Ideen bis heute ein eher zufälliger Griff in
Wundertüten ohne Aufschrift, könnten vielleicht morgen höllisch bzw.
digital hochgerüstete Algorithmen der heuristischen Zufallsgeschichte
guter und weniger guter Ideen ein Ende bereiten.
Bis
dahin geht die menschliche Goldsuche weiter: „Die Ideengeschichte ist
ein reiches, aber zugleich auch relativ unpräzises Forschungsgebiet, dem
die Fachleute der exakteren Wissenschaften mit verständlichem Argwohn
begegnen, aber dafür bietet sie viel Überraschendes und Lohnendes.“[2]Isaiah Berlin „sammelte“ ein Leben lang jene Ideen und
Ideengeschichten, die in den Kontexten der Einzelwissenschaften ein
bescheidenes Dasein fristeten oder erst gar nicht auftauchten.
Inzwischen gibt es zwar Lehrstühle
für Politische Theorie und Ideengeschichte und eine Flut von
Publikationen. Doch das Wesen der Idee, wenn es denn eines gibt, viel
spricht dagegen, ist weiter so unklar, wie es Aristoteles kategorial
exemplifizierte: „Auch in Bezug auf die betreffende Idee muss man prüfen,
ob die aufgestellte Definition zu ihr passt; denn mitunter trifft dies
nicht zu, z.B. wenn Plato das Sterbliche in Anpassung an die Definitionen
der Geschöpfe definiert; denn die Idee ist nicht sterblich, z.B. der
Mensch-an-sich, und deshalb stimmt dann der Begriff nicht mit seiner Idee.[3]Einerseits sind Ideen nicht sterblich, das macht ihre erstaunliche
Verbreitung, ja ihren „memetischen“ Imperialismus lange vor Entdeckung
der Globalisierung aus, andererseits sind Menschen sterblich und stoßen
sich oder wenigstens ihren Kopf so lange an unsterblichen Ideen, bis die
Ideen oder vorzugsweise sie selbst darunter leiden. Denn jene Mauer, von
der Wittgenstein redet,an der
sich der Verstand Blessuren holt, ist aus Ideen gebaut. Es gibt also
mehrere gute Gründe, Ideen zu fürchten. Sie
ergießen sich tödlich bis tödlich abstrakt über Menschen und führen
in mehr und oft weniger freundliche Wirklichkeiten hinein. Darüber, ob
man nun in der Universität reüssiert oder im Gulag landet, haben
allzuoft winzige Nuancen von Ideen entschieden. Der Umstand, dass sich
Menschen auf Ideen berufen, bis heute Kreuzzüge dafür führen und andere
Wahnsinnstaten begehen, sagt indes wenig darüber aus, ob die Idee nun als
Idee wirkt oder das vordergründige Motiv triebökonomisch komplexer
Gemengelagen ihrer Vertreter ist. Muss man Ideen, so wie es die „Memetik“
tut, als die eigentlichen Subjekte der Geschichte beschreiben? Sind Ideen
nicht von ihrer Instrumentalisierung zu unterscheiden, ist es schwierig,
kohärente Wirkungsgeschichten zu schreiben. So zeigt etwa Michel
Foucaults eigenartige Wissensarchäologie, dass ideengeschichtliche
Zusammenhänge ganz anders, nicht notwendig zwingender formuliert werden können,
als es der Mainstream der Ideengeschichte tut. Sind Kant, Hegel, Marx,
Nietzsche und Freud unverrückbare Säulenheilige westlicher
Ideenproliferation mit globalem Anspruch oder nur vorläufige Exponenten
unserer ideologischen respektive ideengeschichtlichen Vorurteile?
Heft
1 der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ präsentiert einige der üblichen
Verdächtigen: Wilhelm Hennis,
Hans-Georg Gadamer, Odo Marquard, neben weniger bekannten Namen, die
vermutlich noch veritable Ideenproduzenten werden wollen. Sollte
vielleicht die Ideengeschichte dieser Bauart selbst schon Geschichte sein,
weil der moderate Widerstreit der „two cultures“ längst einseitig
zugunsten naturwissenschaftlicher Ideenküchen entschieden wurde? Wo sind
heute die Biotope für Ideen, auf die es ankommt? IT-Lab oder Seminar,
Marburg oder doch eher MIT? Unter dem Titel „100
Ideen, die Geschichte machten“, präsentiert Stephen
van Dulken Erfindungen, unter anderem das 1865
von Richard
Jordan Gatling patentierte
erste Maschinengewehr. Kurz darauf, 1867, erschien der erste Band „Das
Kapital“ von Karl Marx. Während der Theoretiker Marx die Abstraktheit
der Produktions-, Arbeits-, und Warenbeziehungen der Menschen zu erfassen
versucht, widmet sich der Praktiker Gatling der Abstraktion des Tötens
jenseits alter Ideen wie etwa der ritterlichen Fairness zweier Gegner etc.
Sind „Das Kapital“ und die „Gatling Gun“ nur zwei Ableger der Idee
der Abstraktion moderner Welterschließung bzw. eines Begriffs der Massen,
der nun in allen veränderten Lebens- und Sterbensbedingungen neue Profile
aufdrängt? Wie wirken „Das Kapital“ und das geschichtsteleologisch
besonders zielorientierte Maschinengewehr ideengeschichtlich zusammen?
Nicht wenige Revolutionäre statteten sich lange vor Osama bin Ladin mit
martialischem Gerät aus, um der „reinen“ Idee zur Wirklichkeit zu
verhelfen: „Jeder
Kommunist muss diese Wahrheit begreifen: Die politische Macht kommt aus
den Gewehrläufen." Mao Tse-tungs ältestes Systemprogramm des
politischen Realismus macht klar, dass er Ideen per se nicht für
ausreichend hielt, sich selbst zur Geltung zu verhelfen. Mao vertraute
nicht auf die Macht der Ideen allein, obwohl er doch zu seiner Idee ohne
die Überzeugungskraft von Gewehrläufen gelangt war. Andere werden anders
überzeugt, was denn schließlich wieder gegen die Überzeugungskraft
dieser Ideen spricht, wie der weitere Verlauf dieser prominenten
Ideengeschichte eindrucksvoll demonstriert. Mit
einem Wort: Ideengeschichten als Wirkungsgeschichten sind so verschlungen,
dass eine Idee kaum je zu isolieren ist, sondern komplexe Ideengeschichten
ohne die Gnade der Komplexitätsreduktion zu erzählen wären. Hegel
hatte der „Idee“ noch bescheinigt, das „objektiv Wahre“ zu sein,
in ihr komme es zur Vereinigung von Begriff und Wirklichkeit. Hegels
Konzept der Idee präsentierte ein Superinstrument der rückstandslosen
Welterschließung, das Natur und Geist so zusammenkommen lässt, wie es
von Ideen zerrissene Menschen nie glauben würden. Bei Hegel ist die Idee
ein irreduzibles Totalitäts- und Einheitssein, das so ganz und gar nicht
kompatibel mit dem gegenwärtigen Ideenbasar erscheint.
Und
gerade in dieser nicht mehr ganz so neuen Unübersichtlichkeit
gewinnen Werte wieder, paradox formuliert, an Wert. Orientierungen müssen
her, wenn die Welt so orientierungsfeindlich erscheint. Auf welche Ideen
kann man überhaupt noch evolutionär bis darwinistisch vertrauen? Der
Werterelativismus legt eine Absage an eine topografisch anspruchsvolle
Ideengeschichte nahe, denn ihm sind die Ideen alle gleich-gültig. Der Leo
Strauss-Schüler Allan Bloom glaubte in dem ideengeschichtlichen
Bestseller „The Closing of the
American Mind“ (1987) den Werterelativismus dadurch relativieren
zu können, dass man sich wieder an die originalen Texte der Meisterdenker
hält, dass man die antiken Brutstätten der Ideen aufsucht. Inzwischen
sucht Deutschland immerhin den Superstar, was vielleicht zu einem neuen
Format aufschließt, auch die Superidee zu suchen, die aus diversen,
keineswegs nur ideengeschichtlichen Sackgassen herausführt.
„Wir wollen zeigen, dass die
Geisteswissenschaftler sich ruhig trauen können, ihre Arbeit zu präsentieren,
dass sie getrost aus der Jammerecke heraustreten können“, erklärt der
Mitherausgeber Ulrich Raulff im ZEIT-Interview. Nun ist die
Jammerecke eher der laufbahntechnisch mitunter frustrierende
Elfenbeinturm, was nicht schlecht sein muss, wenn wenigstens die
Beobachtungsposition ein wenig höher gelagert ist, so wenigen es gegeben
sein mag, hier bis in die letzte Kammer aufzusteigen. „Und
wir schreiben auf deutsch“, erklärt man im Editorial fast trotzig.
„Die im Heft präsentierte Ideengeschichte der „coolness“ macht
deutlich, „Deutsch“ ist auch nicht mehr das, was es mal glaubte zu
sein. Furthermore, leider sind diverse fremdsprachige Zitate nicht übersetzt,
was das bescheidwissende Bürgertum, wenn es noch existiert, vielleicht
nicht stört, aber bestimmte Teile der intellektuell fragilen Öffentlichkeit
allemal. „Die Profilierung der deutschen Geisteswissenschaften, zu der
in jüngster Zeit mehrfach aufgerufen wurde, manifestiert sich in dieser
Neugründung in exemplarischer Weise.“ Hoffentlich stimmt das auch, denn
sonst könnten der Zeitschrift schlimme respektive kurze Zeiten
bevorstehen, just solche, die viele Edelblätter mit alten Hüten und
neuestem Zeitgeist unterhalb der Kopfbedeckung erlitten haben. Journale
aus dem geisteswissenschaftlichen Bereich stehen regelmäßig unter dem
Generalverdacht, vornehmlich die Profilierungen ihrer Editoren und Autoren
zu besorgen und Breiteneffekte nicht zu suchen.
Dass diese
Zeitschrift einige überflüssige geisteswissenschaftlichen Scharmützel
und Scharmützelchen fortführen könnte, die eine wirklich
„intellektuelle Öffentlichkeit“, wenn sie ihrem halbironischen
Etikett gerecht wird, nicht interessieren dürfte, markiert ein Satz im
Editorial: „Selbstreflexion ist immer erwünscht, selbstgenügsame
Metatheorie immer gefürchtet“. Dabei wissen wir doch längst: Ideen
sind wie Partisanen, Überläufer und Wiedergänger in ihren Bewegungen
zumindest für Menschen unberechenbar. Vielleicht beschert gerade
Metatheorie jenseits universaler Geltungsansprüche oder postmoderner
Provenienzen, wo immer das liegen mag, nun
gerade die evolutionären Scharniere, Ideen besser um einander kreisen zu
lassen, sich zweite, dritte Beobachterebenen zu erobern. Wie auch immer:
Das Archiv ist kein Alibi. Ideengeschichte kommt nicht darum herum, sich
selbst auf Ideen einzulassen. Das ist so riskant, dass man auf die
weiteren Hefte gespannt bleiben darf.
[2]
Isaiah Berlin, Der Nationalismus – Seine frühere Vernachlässigung
und gegenwärtige Macht, in: Wider das Geläufige. Aufsätze zur
Ideengeschichte, Frankfurt/M. 1994, S. 467 ff.
[3]Aristoteles: Organon, S. 779.
Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie, S. 3553 (vgl. Arist.-Topik,
S. 152)].
Nicht mehr ganz aktuelle Rezensionen
Allerdings
habe ich noch nie eine Rezension geschrieben, sondern lediglich Texte
anlässlich von Büchern, die ich gelesen habe. Schreiben funktioniert nur
im Widerstand eines - tautologisch gesprochen - Gegenstands, zu dem man
ein wie immer geartetes Verhältnis eingeht.
José Saramago, Das Evangelium nach Jesus Christus
(Rowohlt Verlag, Hamburg 1995, 19,90 DM ISBN 3-499-22306-6).
Das Neue Testament ist die einflussreichste Erzählung Europas. Unendlich
oft reflektiert, myriadenfach abgebildet, Gegenstand religiöser Auseinandersetzungen, hat
das neue Testament eine einzigartige Rezeptionsgeschichte. Der Nobelpreisträger Saramago
entfaltet das biblische Panaroma neu, mit dem scheinbar halbernsten Anspruch, wirklich
authentisch zu sein, d.h. aus der Perspektive des Menschensohns zu erzählen, wie die
Menschen erlöst werden. In Saramagos Geschichte wird Jesus aber selbst als Suchender
dargestellt, der seine göttliche Herkunft und Bestimmung erst im Laufe der Geschichte
erfährt. Jesus ist Mensch, auch ihn verfolgen alltägliche Probleme. Familie, Beruf und
Berufung werden zu breit angelegten Gegenständen der Erzählung. Ein menschlicher Jesus,
wie wir ihn immer hinter den Evangelien vermutet haben, wird etwa in der Beziehung zu der
Hure Maria von Magdala, besser bekannt als Maria Magdalena, gezeichnet. Die
"high-lights" der evangelistischen Geschichten, mit denen wir imprägniert sind,
drängen sich nicht nach vorne. Auch der Menschensohn handelt fehlsam, er hadert mit sich,
mit seinem Schicksal, mit Gott. So läßt er etwa die Dämonen aus dem Besessenen in die
Schweine fahren, einen Feigenbaum verdorren und den anschließenden Wiederbelebungsversuch
des toten Baumes scheitern. Wunder gibt es immer wieder, aber diese Wunder finden nicht
das Gefallen des Erzählers, der mit vorsichtiger Ironie des Heilands Erdenwallen
begleitet. Dieser Jesus ist nicht weniger Mensch als Gottes Sohn und das erklärt die
kirchlichen Proteste gegen Saramagos Werk, obwohl der bekannteste portugiesische Autor
nach Pessoa nichts anderes macht, als die Identität von Mensch und Gott im Erlöser ernst
zu nehmen. Saramagos authentische Apokryphe kann den Kanonikern, die den Mensch gegenüber
dem Gott zurückdrängten, nur als Provokation erscheinen, aber der Autor gefällt sich
nicht in leichtfertigen Blasphemien. Wären die vier Evangelien die offizielle
Hofberichterstattung, so verlässt sich - in der Sprache der Journalisten - Saramago auf
"wohl unterrichtete Kreise". Der Autor berichtet nicht aus der historischen
Erzählerperspektive, wie der Titel vermuten lässt, sondern immer wieder wird
aktualisiert, was ein historischer Evangelist nicht wissen kann - selbst
tiefenpsychologische Bezüge eröffnet das "Evangelium nach Jesus Christus",
weil die Wahrheit eben keine einfache Sache ist und sich erst in der Zeit entfaltet.
Allein Gott ist die Zeit, er kennt Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen, ja mehr, für
Gott sind alle Zeiten gleichzeitig. Der Evangelist Saramagos überführt seine Reportage
der neutestamentarischen Geschehnisse nicht in die geglättete Welt der Heiligen und ihrer
harmonischen Lebensgeschichten. Der Hl. Josef etwa ist alles andere als ein harmloser
Statist des Krippenspiels, von dem wir eben nur wussten, dass er nicht Christus´ Vater
ist. Er lädt Sünde auf sich, weil er früh vermutet, dass sein Erstgeborener ein Bankert
sein könnte und Träume, ihn zu töten, verfolgen ihn. Josefs erfolgreicher Versuch, den
Sohn vor der Exekution von Herodes´ Dekret zu retten, endet im Wissen um die Schuld,
andere Unschuldige nicht gewarnt zu haben, egoistisch nur aus Sorge um den eigenen Sohn
gehandelt zu haben. Schließlich kreuzigen ihn die Römer, ein Abgang, der einem dummen
Zufall zu verdanken ist, weil sie in ihm einen Freischärler vermuten, er aber nur einen
verletzten Nachbarn in Sicherheit bringen wollte. Auch Heilige können sich also nicht dem
irrwitzigen Lauf der Welt entziehen. Selbst Gott kann in die Geschicke der Menschen nur
bedingt eingreifen. Seine metaphysische Oberhoheit endet spätestens an den Einflussbereichen
anderer Götter und Jesus ist sein Protagonist, der eine Gemeinde um
sich scharen soll. Saramago spielt mit dem Verhältnis von göttlicher Vorhersehung und
menschlichem Handeln, er läßt offen, wie weit menschliches Verständnis reicht, den
Weltenlauf zu verstehen. Sein literarisches Verdienst ist es, eine Geschichte, die wir
schon nicht mehr hörten, weil wir sie zu oft gehört hatten, wieder nachvollziehbarer zu
machen. Jederzeit lässt er dabei seinen Gegenstand sprachlich funkeln, seine Sprache ist
reich und präzise, lange parataktische Sentenzen fließen zu plastischen Szenen zusammen.
Vielleicht ist ja das vorliegende Evangelium der Wahrheit näher als die kanonischen
Texte, weil sich nicht in Harmonie auflöst, was immer offene Fragen bleiben. Jesus letzte
Äußerung am Kreuz jedenfalls gibt Saramago anders wieder, als wir sie kannten. Auf Gott
bezogen ruft Jesus aus: "Menschen, vergebt ihm, denn er weiß nicht, was er getan
hat." - eine harsche Vaterkritik des Sohnes, der die unzähligen Märtyrer, Opfer der
Kreuzzüge, Inquisitionen und anderer Katastrophen auf dem Siegeszug des Christentums
nicht für legitimierbar hält. Sollte Christus doch der Rebell wider den Vater sein? Gibt
es auch ein Schisma in der heiligen Dreifaltigkeit? Fazit ist, dass das neue Testament in
Saramagos Überlieferung wirklich neu ist, eine alte Geschichte von ihrer historischen
Patina befreit wird und wir uns fragen können: "Wie hältst du´s mit der
Religion?"
Goedart Palm
QRT (Markus Wolfgang Konradin Leiner)
Schlachtfelder der elektronischen Wüste
Berlin 1999 Merve Verlag ISBN 3-8839-152-3
Die Geburt des klassischen Helden aus dem Geist des Mythos begleitet uns seit
unseren Kindertagen: Orpheus, Jason, Perseus, Herakles, Achilles, Hektor, Leonidas,
Richard Löwenherz, Dschingis Khan, Napoleon, Sir Lancelot, Ivanhoe, Wyatt Earp, Doc
Holliday, Billy the kid,Che Guevara, Rambo, Rocky,
Terminator, Mutter Theresa etc. bilden eine Spezies, die sich seit je über die
alltägliche Kondition hinwegsetzte, um ewige Geschichte zu schreiben und
Normalsterblichen den Prospekt eines heroischen Lebens zu vermitteln.
Markus Wolfgang Konradin Leiner hat Norman Schwarzkopf, Arnold Schwarzenegger und Black
Magic Johnson als Paradigmen der telematischen Heldenfiguren in der Spätmoderne
untersucht. Neben präzisen biografischen Entwicklungslinien präsentiert Leiner
zahlreiche Schautafeln, die eine Systematik der Heldentypen bei aller Individualität im
übrigen deutlich werden lassen. Die Dialektik von biografischer Entwicklung und den
Verhaltenserwartungen einer Gesellschaft, die gerade diese Helden braucht, um ihre eigene
Identität zu stiften, macht die Untersuchung zu einer wichtigen Lektüre. Leiner kommt
von Baudrillard und greift auf dessen antimethodisches Besteck zurück, um aber höchst
originell die postklassischen Helden des Simulationszeitalters vorzustellen, die dem alten
Heldentypus einen Schlag versetzen. Während der klassische Held die symbolische Ordnung
verkörperte, lebt der neue Held der Simulation im Territorium des Hyperrealen, in denen
Sprache, Geschichte und Subjekt nichts mehr gelten. Diese Medienhelden simulieren eine
Ordnung und sind doch nur die dichteste Verknüpfung von Telepräsenz und Publicity. Es
erweist sich, daß diese Helden nicht nur auf einen Mythos rekurrieren, sondern als
mediale Repräsentationen eines gesellschaftlichen Feldes erscheinen, das durch
Showbusiness, Sport und Krieg konturiert wird. Auch postmoderne Helden kristallieren sich
gegen alltägliche Konditionen mit persönlichen Eigenschaften, die unter den Augen der
Telegläubigen ins Unermeßliche wachsen. Die eigene Bedeutungslosigkeit gegenüber denen,
die Geschichte machen, wird für eine kurze Zeit der globalen Rezeption besänftigt.
Die Mythenschmiede Hollywood, aber auch die Fernsehstudios von CNN lassen uns am
Narzißmus der Helden partizipieren, weil anders diese Gesellschaft ihr Selbstverständnis
nicht finden kann. So beschreibt Leiner das der Öffentlichkeit mediatisierte Leben des
Soldaten Norman Schwarzkopf in den heroischen Territorien des Dschungels, der Sandwüste
und der Eiswüste. Dieser Held findet unter den Bedingungen des Medienkriegs neue Regeln,
die seinen Mythos, aber auch den Erfolg des Kampfes bestimmen. Aufklärung geht vor
Feuerkraft, Informativität wird zum Maßstab der Effizienz der
Waffen. Dagegen sind die klassischen Salven auf den Feind gegenüber der
informationstechnischen Durchdringung nur noch bedingt relevant, um siegreich aus der
"Mutter aller Schlachten" hervorzugehen. Das Nachwort dieser
"Heropoiesis" enthüllt, daß Leiner selbst ein tragischer Held der Berliner
Subkultur war. Er hat der mythengläubigen Nachwelt ein riesiges Konvolut von Texten
hinterlassen, dessen Edition sich jetzt der Merve Verlag widmet. Bleibt zu hoffen, daß
QRT - so der nom de guerre Leiners - auch als toter Held noch einiges zu vermelden hat, um
telematische Szenarien und virtuelle Welten besser zu verstehen.