Wer dies berührt, berührt einen Mann.
Rühmkorf, der Dichter, hat sein "erstes" Tagebuch veröffentlicht und
vermutlich meint er sich selbst, wenn er den Altersstil als eine Art von Auslaufproduktion
bezeichnet. Tagebücher ringen dem Leben post festum Geschichte und Geschichten ab. Sie
retten der Erinnerung die vielen alltäglichen Partikel der Identität, machen das Leben
zwar nicht rund, aber nachvollziehbarer. Für Leser sind Diarien oft eine
Zumutung, da sich das konkrete Leben in seinem
stolpernden Zeitablauf als Sammelsurium der Ereignisse darstellt. Aber gerade hier
legitimiert sich mitunter die fremde Lebensgeschichte für Leser, die auch nicht
stromlinienförmiger zu leben verstehen, die auch immer wieder in die biographischen
Irrungen und Wirrungen eintauchen: "Und immer wieder mal die Frage nach einem
sinnvoll geführten Leben in einer wahnsinnig gewordenen Welt."
Je älter der Verfasser, um so mehr erfahren wir über seine Zipperlein. Auch Rühmkorf
spart hier nicht mit schmerzhaften Intimitäten, er zeigt uns seine "vita
dolorosa" zwischen den Vorboten des Endes und vorübergehender Pein. Leiden und
Literatur sind nicht nur in Deutschland Geschwister. Gelitten haben sie alle: Lichtenberg,
das Körperchen, Nietzsche, der aussichtslose Wille zur Gesundheit, Cioran, Schärfe aus
tiefster Verbitterung, Pavese, moribund und todesentschlossen. Rühmkorf nimmt´s auch
nicht leicht, aber spöttisch genug, um nicht fragwürdige Größe aus teutonischer
Leidensverliebtheit zu generieren. Er hält sich poetisch vital gegenüber der
selbstverschuldeteten Verwrackung: "Vergiftet vom gestrigen Tag: Zigaretten, Hanf,
Whiskey, Campari, Bier, Wacholder." Ja, so lustig bis körperzehrend leben die
Dichter alle Tage. Rühmkorf gelingt die ironische Selbstdistanz zu alten Abhängigkeiten
und neuen Gebrechen. Dabei geht es ihm nicht um einen "kleineleutenhaften"
Offenbarungsgestus, keinen gerontophilen Lamentationsgegenstand, der zum
geschwätzig-sprachlosen Stoff der Talkshows avancierte. Rühmkorf zeigt seine Pflaster
und Pflästerchen, die Behelfsmäßigkeiten, aus denen ein Leben, zumindest wenn es noch
nicht zum Mythos geworden ist, besteht.
Aber das ist nicht alles, was der Dichter zu berichten weiß. Wie sagt Rühmkorf?
"Ja posthum, da könnte ich viel erzählen!" Immerhin gelingt ihm dies zu
Lebzeiten auch schon. Zwischen Begegnungen, Reisen, Speisenkarten, Rezepten, Lektüren,
Fernsehen ("In-Ferno") hat Rühmkorf alle Augen und Ohren voll zu tun. Ein
Kessel Buntes aus Aphorismen, Beobachtungen mit Tiefenschärfe, aber eben auch
Alltäglichkeiten bis hin zum Blumengießen - Rühmkorf rekapituliert seine wachen Tage so
fröhlich-unfröhlich und disparat wie das Leben nun mal ist. Und späte Dichter können
alles brauchen, was im Alltagsgebrauch der Zeitgenossen oft vorschnell auf dem Sperrmüll
der persönlichen Geschichte landet.
So hat dieser Mann zwar trotz seiner siebzig Jahre noch kein Oeuvre, das ledergebunden
im Goldschnitt Schrankwände verzieren könnte, aber wenn weitere Tagebücher folgen,
könnte ihm selbst das noch gelingen. Sein erstes Tagebuch ist es jedenfalls wert, in die
Geschichte der wichtigen europäischen Tagebücher eingereiht zu werden - auch wenn er
für diese Feststellung vermutlich nur gelinden Spott übrig hätte. Aber zuletzt lacht
immer die Geschichte.
Goedart Palm
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