1.
Es ist oder es ist nicht. (Parmenides)
Katzen würden Parmenides, der eindringlich vor dem
Denken des Nichtseienden warnte, nicht folgen. Lewis Carrolls Chesire Katze, deren Grinsen
auch nach ihrem leibhaften Verschwinden im Baum hängen blieb oder Schrödingers
bewegen sich in virtuellen Wahrnehmungsräumen, die sich
nicht länger über die unüberwindbare Differenz von Sein und Nichtsein konstituieren.
Was die Kopenhagener Schule für den subatomaren Bereich von Wellen und Teilchen
formulierte, wird jetzt durch die Idee des Virtuellen unendlich überboten, weil sie ihr
Reservat nicht nur an den grotesken Rändern der Materie findet, sondern auf alle
Existenzformen und ihre Örter zielt. Das Virtuelle ist ein progressiver
Möglichkeitsraum, der entgegen dem Ratschlag des Eleaten gerade das Design des
Nichtseienden zum transrealen Konstitutionsmodus einer entgrenzten Welt erklärt, die sich
in unzählige Potenzialitäten auffächert. Mit anderen Worten: Anything goes and anything
will happen.
Leibniz versuchte noch aus den wechselseitigen Hemmungen
des Verwirklichungsstrebens zu erklären, warum nicht alles Virtuelle, das nach Existenz
strebt, sich auch verwirklicht. Kyklopen, Basilisken, Einhörner oder Quellnymphen bleiben
im status virtualis des Mythos, in der imaginären Evolution der nicht lebensfähigen
Arten. Nach Leibniz´ "prävirtuellem" Prinzip der Kompossibilität haben nur
die Möglichkeiten eine Verwirklichungschance, die miteinander verträglich sind.
Cyberspace dagegen prolongiert, harmonisiert und perfektioniert nicht einfach unzählige
Möglichkeiten in der uns bekannten Welt, sondern schöpft Szenarien, die nebeneinander
existieren, eigenen Gesetzen folgen, neue Protagonisten und Subjektivitäten auf den Plan
rufen und sich von der Simulation unserer nach Leibniz "besten aller möglichen
Welten" abkoppeln.
Virtualität wirft für Menschen nur eine essenzielle
Daseinsfrage auf: Findet die humane Evolution im cyberspace ihre (über)natürliche,
postbiologische Fortsetzung oder ist der Mensch nur eine vorläufige "Synapse"
in der Autopoiesis einer fremden Subjektivität. In dieser Weichenstellung zwischen
evolutionärem Fortschritt auf der einen Seite und menschlicher Existenz als biologischem
Auslaufmodell auf der anderen finden sich alle Formen von Netzkritik und -apologetik
wieder.
Allerdings sind die Zeiten vorbei, als Ada Lovelace der
"analytical engine" ihres Freundes Charles Babbage in anthropozentrischer
Selbstverteidigung bescheinigte, eine Maschine könne nie einen höheren kognitiven output
haben als der menschliche spiritus rector. Dieses später von Joseph Weizenbaum für die
künstliche Intelligenz moralisch reformulierte Beschneidungsprogramm wird auch von
antiquierten Verfechtern des cyberspace eingesetzt, um die Untiefen des Virtuellen auf
Menschenmaß zu stutzen. Die emergierenden Szenarien der Virtualität reduzieren sich aber
längst nicht mehr auf eine planende Vernunft, die in cyberspace nur das wieder findet,
was zuvor an Informationen hineingegeben wurde. Das Elend der Metapherngläubigkeit, die
von den Begriffen der Vernetzung, Information-Highway und ähnlichen terminologischen
Hybriden markiert wird, kann nur in der Abstraktion überwunden werden, dass evolutionäre
Schübe virtueller "Natur" unbekannte Qualitäten besitzen, die sich den
Erkenntnismöglichkeiten evolutionärer Vorformen, mithin Menschen, verschließen.
Nach dem Ausbrennen geschlossener Weltbilder
prätendieren indes auch Protagonisten der freiheitlichen Netzkultur, die Identität
virtueller Bürger gegen heteronome Zugriffe zu verteidigen und in der Besinnung auf
kommunitaristische Tugenden authentisch zu halten. "Wir glauben, dass unsere Form der
Regierung durch Ethik, aufgeklärten Eigennutzen und Gemeinwesen wachsen wird",
beschied John Perry Barlow staatlichen Regulierungsgelüsten gegenüber selbstgewiss. Aber
wieso sollte cyberspace, gerade erst halbherzig militärischen Ursprüngen entwachsen, die
guten alten Tugenden einer wiedererstarkten Aufklärung, den Gemeinschaftsgeist von
netizens oder gar die virtuelle Wiedergeburt amerikanischer Unabhängigkeitsträume
garantieren? Auffällig ist die Vielzahl apotropäischer Formeln, die Selbstläufigkeit
der Cybertechnologie in Abrede zu stellen, auf der Instrumentalisierbarkeit des Netzes
für menschliche Zwecke zu beharren und älteste, uneingelöste Freiheitsvisionen in
virtuelle Kanäle zu schleusen. Der Cyberidealismus folgt dabei der Intuition, dass Netze
schon auf Grund ihrer Form nichthierarchische Weisen der Kommunikation und mimetisches
Erleben fördern und alten Herrschafts- und Entfremdungskonditionen widerstehen. Mit der
virtuellen Spezies von Avataren leuchtet etwa die Hoffnung auf, für die Geworfenheit und
Erdenschwere entschädigt zu werden, wenn sich chiliastische Heilsversprechen schon
während einer Lebenszeit nicht einlösen zu lassen. Der Neopaganismus der Netizens ist
aber zurzeit nichts anderes als der säkularisierte Glauben, das Glücksversprechen nicht
länger jenseits des Daseins verorten zu müssen - selbst wenn es um den Preis der
Transformation der Körper zur virtuellen Existenz wäre.
Als neuer Vorschein des Unendlichen spottet cyberspace
der Endlichkeit seiner Bewohner und provoziert sie zugleich im Versprechen einer besseren
Heimat. Noch hat die deterritoriale Herrlichkeit omnipräsenten Seins aber keine
Kondition gefunden, die sich aus der Schizophrenie des interface und alter Körperfron
löst. Eine virtuelle Kompensation des Körpers aus dem ubiquitären Geist vom cyberspace
ist noch nicht zu besorgen, weil die uns begreifbare Virtualität auf den erdgebundenen
Hybrid des Körper-Geistes und seiner künstlichen Ausstülpungen angewiesen ist.
Waren zuvor Imaginäres und Begehren Transmitter einer
entfesselten Existenz, wird die Leiblichkeit bisher nur für kürzeste Zeit im virtuellen
Vorschein transzendiert. Aber schon diese Transzendenz erfüllt sich nicht länger in der
großen abendländischen Konstruktion eines sich entfaltenden Innenraums, sondern in der
Materialität von Cyberspace. Zwar hatte John Perry Barlow wie viele behauptet, dass es im
Cyberspace keine Materie gibt. Nichts weniger als flüchtig wird Cyberspace dagegen schon
bald von härtester Materialität sein, weil es imaginäre Potenziale, fluktuierende
Bewusstseinsströme, innere Mono- und Polyloge als diffuse Gegenbefindlichkeiten aufhebt,
um sie in einer Schärfe zu konturieren, die über jede Simulation hinausgeht. In der
fortschreitenden Virtualisierung von Cyberspace werden Innenräume nach außen gestülpt,
verfestigt zu einem Denken als materialisiertem Geist. Die klassische
Subjekt-Objekt-Spannung fällt diesem Prozess genauso zum Opfer wie das Selbstbewusstsein
als Bewusstsein äußerer Grenzen, die uns vom Anderen und unendlichen
Alternativlebensentwürfen trennen. Ab jetzt reitet der "Weltgeist" nicht mehr
im Sattel Napoleons, sondern feiert sich als Demiurgen, der nicht hinter der
Schöpfungskraft des "unbewegten Bewegers" zurückstehen will.
Angesichts der Virtualisierung von Subjektivität lässt
sich mit Gilles Deleuze fragen, wie das Individuum seine Form und syntaktische Bindung an
eine Welt überschreiten könnte, um in die universelle Kommunikation der Ereignisse, das
heißt in die Bejahung der Aporien, Widersprüche und Unvereinbarkeiten virtueller
Sphären einzutreten. Deleuze verordnet dem geschüttelten Individuum, sich selbst als
Ereignis zu begreifen, als zufälligen Zustand, ohne andere Individuen oder Weltzustände
noch länger als Ereignisse zu repräsentieren. Erst in dieser Freiheit könnte das
Individuum einer hochpotenten und -differenten Ereigniswelt sich von den vormaligen
Bindungen der Repräsentation lösen. Dieser Freiheits- und Erlösungsgestus transzendiert
klassische Konstituentien der Selbsterfahrung, mag aber keine Remedur für die
Repräsentationsnotwendigkeiten des Subjekts sein. Erst in einer virtuellen Kultur, die
nicht nur Raum- und Zeitkoordinaten verändert, sondern auch Bewusstseinsformen und
Lebensentwürfe virtualisiert, könnte sich das Individuum in ein multiples Ereignis
aufheben. Wer diese tausend und mehr Plateaus transrealer Ereignisse betreten wollte,
findet in cyberspace vorläufig das Operationsfeld seiner Selbstentäußerung. Die
Struktur der Welt wird zum Ereignis - und das leitet eine Politik der Instantanität ein,
die der Traditionsbeharrung klassischer Welterschließungsmodi und geschlossener
Ontologien spottet.Eine multiple Persönlichkeit, die von ihren Differenzen weiß, ohne
sie in Synthesen aufzuheben, jederzeit bereit, zum Ereignis in einem Existenzraum zu
werden, die von linearen Traditionen auf eine polymorphe Ereignishaftigkeit umstellt.
2.
Worüber der Mensch nicht sprechen kann,
darüber kann er nicht reden. (Humberto R.
Maturana)
Nun könnte man cyberspace a priori als eine
theorieresistente Struktur ansehen, die keine Beobachtungen höherer Ordnung zulässt,
weil ihr "Wesen" darin besteht, keines zu haben. Steht hinter flüchtigen
Simulakren zuletzt das pure Nichts? Bereits der Versuch, cyberspace als einen
ontologischen Zustand zu begreifen, führt in die Aporie, dass der Schein nicht länger
auf ein vorgängiges Sein rekurriert, sondern Schein und Sein in der Virtualität
ununterscheidbar kollabieren. Die nie überwundene Frage Platons, was hinter den
Erscheinungen stehe, beantwortet sich in cyberspace nur über den Umweg der vermeintlich
realen Welt. Aber wenn Virtualität selbst der Wirklichkeit vorgeht, würde sich die
Vermessung von cyberspace durch das "Reale" im unendlichen Rückgriff auf einen
nicht vorhandenen Maßstab verlieren.
Schon regt sich der Verdacht, dass auch das Reale nur ein
Modus einer umfassenden Virtualität ist. Baudrillard hat das Reale noch als das
definiert, "wovon man eine äquivalente Reproduktion herstellen kann". Im
Hyperrealen verschmelzen nach Baudrillard Reales und Imaginäres zu einer operationalen
Totalität. Das Simulationsprinzip überwinde gleichermaßen Realitäts- wie Lustprinzip,
ja von der Simulation lasse sich nicht einmal sagen, auf welche vorgängige Wirklichkeit
sie sich noch beziehe. Aber auch im Hyperrealen, in dem das Reale zum Spiel mit sich
selbst wird, begegnen wir nach Baudrillard nicht dem Ende der Wirklichkeit, sondern ihrem
Einzug in die Simulation. Insoweit markiert das Hyperreale nur eine diffuse
Übergangssituation des Wirklichkeitsverlusts, ohne die von jeder Wirklichkeit befreiten
Konditionen der Virtualität schon zu fassen. Cyberspace simuliert nicht, sondern höhlt
eine Realität aus, die auch nicht mehr als eine geronnene Virtualität repräsentiert.
Auch die Ontifizierung von cyberspace als Hyperrealität
birgt mithin die Gefahr, alte Aporien zu importieren, um neue "Schein"-Gefechte
unter ungleich erschwerten, nämlich virtuellen Bedingungen zu führen. Im
"reentry" des Wechselspiels von Sein und Schein in cyberspace werden gerade
solche virtuelle Qualitäten unterschlagen, die die Wirklichkeit nicht nur transzendieren,
sondern die Frage nach Wirklichkeit als kategorialen Fehler erscheinen lassen. Die
leichtfertige Formel der "virtual reality" invisibilisiert diese kategoriale
Differenz als eine ontologische Fortführung der Wirklichkeit mit lediglich virtuellen
Mitteln. Virtualität ist aber keine noch nicht zur Wirklichkeit gelangte Welt, sondern
eine undefinierte Sphärenvielfalt ohne ontologisch fixierbaren Status. Weder ist
ersichtlich, dass sich klassische Raum-Zeit-Koordinaten erhalten noch ihnen zugeordnete
Anschauungsformen, die einem Körperbewusstsein entspringen.
Menschen werden mithin auch in cyberspace zuletzt jene
epistemologisch und ontologisch gesicherte Heimat finden, die zahllose Erkenntnistheorien
bereits an der "Ausgangswelt" folgenlos haben abprallen lassen. Im dichter
werdenden Punktuniversum des Netzes können weder Vernunft noch Erfahrung einen
archimedischen Punkt virtueller (Selbst)Beobachtung reklamieren. In einer virtuellen
Theorie wären nicht mehr die klassischen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis zu
formulieren, sondern die Bedingungen virtueller Konstruktionen zu entwickeln. Mit anderen
Worten: Nicht die Erkenntnis des Virtuellen, sondern nur die Virtualisierung der
Erkenntnis als bisher wenig erschlossenes Konstruktionspotenzial könnte zu einem neuen
Modus der Welterschließung avancieren.
Erst dann könnte virtuelle Energie, die schon immer eine
überschießende Innentendenz menschlichen Erkennens war, cyberspace mit imaginären,
visionären und utopischen Potenzialen kurzschließen, ohne Erkenntnis- und
Existenzbedingungen des verunsicherten Subjekts in alten Sozialutopien und melioristischen
Gesellschaftsentwürfen zu arretieren. Allein eine Theorie in virtueller Bewegung könnte
das Transreale als vorläufig unendlichen Möglichkeitsraum beschreiben. Freilich sind
hier weniger Erfahrungssätze zu generieren als Extrapolationen, wie sich cyberspace
progressiv virtualisiert. Nicht länger wäre die Aufladung des Virtuellen zum Realen oder
Hyperrealen zu verfolgen, sondern die fortschreitende Virtualisierung der Virtualität zu
einer atopischen Metakonstruktion ohne ontologische Haltegriffe.
Der zentrale Widerstand einer solchen Dynamik ist der
selbst ernannte Evolutionshöhepunkt "Mensch" selbst, weil hier eine nacheilende
Semantik Sinn stiftet, den das Medium in seiner Autopoiesis nicht benötigt. Menschen
werden aus dem relativen Gleichgewicht der bekannten Katastrophen, aus der fragilen
Sicherheit des medialen Daseins ins medialisierte Anderssein geschleudert, ohne von dem
Verlauf dieser Flucht sagen zu können, wo sie endet. Die virtuelle Autopoiesis hat
zurzeit viele Agenten, die sich für Urheber halten und doch vielleicht nur Synapsen sind,
um die Entfaltung von cyberspace voranzutreiben. Ist es das letzte Aufbäumen des
Anthropozentrismus, den Menschen als virtuellen Protagonisten einer Sphärenvielfalt zu
feiern, die zuletzt auf ihn angewiesen ist? Goedart Palm
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